Das Aufsehen damals war ungeheuerlich: Noch nie hatte ein führender Kommunist, selbst wenn er in Ungnade gefallen war, den SED-Staat verlassen und war zum „Klassenfeind“ nach Westberlin übergelaufen! Alfred Kantorowicz, KPD-Mitglied seit 1931, Spanienkämpfer 1937/38, deutscher Emigrant in Frankreich und den Vereinigten Staaten und seit 1950 Professor an der Ostberliner Humboldt-Universität, hatte im Sommer 1957 mit dem SED-Regime gebrochen und am 20. August, von Verhaftung bedroht, die Sektorengrenze als politischer Flüchtling überschritten.
Zwei Tage später, am 22. August, gab er im „Sender Freies Berlin“ eine Erklärung ab, die an seine „Freunde, Gefährten, Landsleute in der Zone“ gerichtet war. Die Schimpfworte, die ihm, dem „Verräter der Arbeiterklasse“, jetzt nachgerufen wurden, sollten sein Ansehen beschädigen und seine Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft erschweren. So schrieb der DDR-Schriftstellerverband, allen voran die angesehene und berühmte Anna Seghers, im „Neuen Deutschland“: „Sich auf Heinrich Mann berufend, gesellt er sich zu denen, die den großen Schriftsteller aus dem Lande trieben und sein Andenken heute noch mit Hass verfolgen.“ (25. August). In derselben Zeitung schrieb eine Gruppe junger Literaturmarxisten: „Wir wissen, dass es in den Zeiten härtesten Klassenkampfes stets Intellektuelle gab, die zu schwanken begannen und zum Feind überliefen. Die Geschichte der Arbeiterklasse lehrt uns jedoch, dass Verräter die progressive Entwicklung niemals aufhalten können.“ (30. August). Die damals noch in Prag lebende Leonie Mann (1916-1986), Heinrich Manns Tochter, distanzierte sich in der Wochenzeitung „Sonntag“ (1.September) vom Freund und Förderer ihres Vaters. Im gleichen Blatt erklärte Chefredakteur Bernt von Kügelgen (1914-2002): „Es muss festgestellt werden, dass Kantorowicz nicht eine einzige wissenschaftliche, theoretische Arbeit publiziert hat.“. In der folgenden Ausgabe des „Sonntag“ warf ihm Karl Eduard von Schnitzler vor: „Was weißt Du überhaupt von unseren Arbeitern?… Du bist ein Literaturwissenschaftler; aber was weißt Du von politischer Ökonomie, vom ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus?…Dem von Dir verlassenen Staat aber, der von Dir geschmähten Partei, der von Dir geleugneten Idee des Sozialismus gehören Gegenwart und Zukunft.“ (8. September), Und Kulturminister Johannes R. Becher warf sich im „Neuen Deutschland“ vor, ihn nicht rechtzeitig aus dem Vorstand des DDR-Schriftstellerverbands entfernt zu haben. (26. Oktober).
Der Wechsel der politischen Fronten, im Alter von 58 Jahren und mitten im Kalten Krieg, war zweifellos eine mutige Tat, die aber fast fünf Jahre lang, bis zu seinem Umzug 1962 von München nach Hamburg, in Westdeutschland nicht anerkannt wurde, weil man Alfred Kantorowicz (1899-1979) vorwarf, im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite gekämpft und nach 1945 dem SED-Staat gedient zu haben. In seiner Erklärung, abgegeben am Spätnachmittag des 22. September 1957 im „Sender Freies Berlin“ und einen Tag später nachgedruckt im Berliner „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Warum ich mit dem Ulbricht-Regime gebrochen habe“, zählte er auf, was er alles mit der Flucht aufgegeben hatte: Die Professur an der Humboldt-Universität mit dem Lehrauftrag für Neueste Deutsche Literatur, die Arbeit als Direktor des „Heinrich-Mann-Archivs“ an der „Deutschen Akademie der Künste“, wo er den aus Kalifornien 1950 überstellten Nachlass zu sichten und zu ordnen hatte, die Edition der Heinrich-Mann-Ausgabe und seine eigene Arbeitsbibliothek mit 8000 Bänden. Was vielleicht noch schwerer wog, war der jähe Abschied von „Freunden und Kampfgefährten“ aus dem Widerstand, aus dem Exil und aus dem Spanischen Bürgerkrieg: „Sie alle werden nun gezwungen sein, mir nachzuspeien, mich zu verleumden, mich einen Verräter, einen Renegaten…zu schimpfen, nur weil ich mit dieser Notwendigkeit meiner Absage an das Ulbricht-Regime mir selber treu zu bleiben versuche.“
Die Abrechnung mit dem angeblich sozialistischen Staat, für dessen Entstehung in Deutschland er seit 1931 unter Einsatz seines Lebens gekämpft hatte, wurde mit dem klaren und unbestechlichen Blick des abtrünnigen, tief enttäuschten Kommunisten vorgenommen. Die Flucht vom 20. August 1957 war nur der letzte, nicht widerrufbare Schritt im politischen Leben eines marxistischen Intellektuellen, der abgeschworen hatte und der sich nun einreihte in die wachsende Schar der Exkommunisten. In Horst Krügers Dokumentation „Das Ende einer Utopie“ (1963) hat er diesen Abfall von der DDR-Spielart des Marxismus-Leninismus noch einmal begründet. Geholfen bei dieser inneren Distanzierung, die schließlich zur Flucht führte, hat ihm dabei das Schicksal seiner Zeitschrift „Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit“ 1947/49, die schon im Titel die Orientierung auf Ausgleich, Entspannung, Vermittlung zwischen den Fronten erkennen ließ, darin Peter Huchels Periodikum „Sinn und Form“ bis Dezember 1962 vergleichbar, und die ohne Vorankündigung liquidiert wurde, weil sie in dieser Ausrichtung offensichtlich nicht mehr in die politische Landschaft passte.
Auch von weiteren Erschütterungen blieb sein kommunistisches, im Exil erhärtetes Weltbild nicht verschont. In seiner Erklärung nannte er die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und die „gerade für viele alte Kommunisten…herzabdrückende und nervenaufreibende ungarische Tragödie“ vom Herbst 1956 und die unmittelbar danach einsetzende „neue Terrorwelle, besonders gegen die Intellektuellen“, womit die Verhaftung und Verurteilung antistalinistischer Oppositionsgruppen um Wolfgang Harich und Erich Loest in Berlin, Halle und Leipzig gemeint waren. Abschließend hieß es dann in dieser Erklärung: „Nein, ich konnte nicht mehr die Augen verschließen vor dem fast mythischen Phänomen, dass, während wir gläubig für Freiheit und Recht und gegen die faschistische Barbarei gekämpft hatten, Faschismus und Barbarei hinter uns wieder auferstanden waren in Wort und Tat und Geist in den Amtsstuben der Apparatschiks“.
Diese Erklärung eines prominenten Altkommunisten, der nicht erst 1946 der Partei beigetreten war, musste, sofern sie zwischen Rennsteig und Rostock mitgehört werden konnte, wie ein Donnerschlag gewirkt haben. Indirekt zeugten davon die in allen DDR-
Zeitungen veröffentlichten Distanzierungen von dem über Nacht geflohenen „Verräter“, der nun aus der „Frontstadt Westberlin“ gegen seine einstigen Genossen „hetzte“, und die damit verbundenen Ergebenheits- und Unterwerfungsgesten gegenüber Staat und Partei. Auch die ungarische Oktoberrevolution hatte die Ostberliner Funktionärskaste, die ähnliche Unruhen wie 1953 befürchtete, in Angst und Schrecken versetzt. In seiner Rede vom 23. Oktober 1957 vor der SED-Kulturkonferenz forderte Alexander Abusch (1902-1982), damals Staatssekretär im Kulturministerium, die „Schriftsteller und Kritiker“ ultimativ dazu auf, „noch tiefere Lehren aus den Vorgängen und Erfahrungen seit dem Herbst des vorigen Jahres zu ziehen.“ Im nächsten Satz kam er dann auf den „Klassenfeind“ Alfred Kantorowicz zu sprechen: „Nur in einer Atmosphäre ungenügender geistiger Auseinandersetzungen und eines nicht kämpferischen Auftretens für unsere gemeinsame Sache des Marxismus-Leninismus konnte es auch möglich werden, dass ein solch schuftiger und zugleich jammervoller Verräter wie Kantorowicz , der sich lange vorher in seiner republikfeindlichen Gesinnung…enthüllt hatte, noch während der ungarischen Ereignisse und später sein verräterisches Werk, bis zu seiner Abberufung durch seine Auftraggeber, vollenden konnte.“
Und es gab schließlich noch eine Institution, die leidenschaftlich am weiteren Lebensweg des Flüchtlings im „kapitalistischen Ausland“ interessiert war: Das „Ministerium für Staatssicherheit“ in Berlin-Lichtenberg! Dort wurde der abtrünnige Professor als „operativer Vorgang Renegat“ bearbeitet, wobei mindestens zwei ehemalige Studenten auf ihn angesetzt wurden: Ursula Püschel (1930) und Dieter Schlenstedt (1932). Alfred Kantorowicz war damals Ursula Püschels Doktorvater, wegen dessen „Republikflucht“ ihre geplante Dissertation über Erich Weinert nicht abgeschlossen werden konnte, erst 1965 konnte sie mit einer Arbeit über Bettina von Arnim promoviert werden. Sie erhielt im August 1960, drei Jahre nach der Flucht ihres Doktorvaters, unter dem Decknamen „Dichter“ den Auftrag, Kontakt mit Alfred Kantorowicz in München aufzunehmen. Ob dieser Auftrag ausgeführt wurde und welche Ergebnisse er brachte, ist nicht bekannt. Auch die Verpflichtung Dieter Schlenstedts brachte kaum Ergebnisse. Er wurde im Januar 1960 angesprochen und unterschrieb am 1. Juni 1960 eine Verpflichtungserklärung. Erhalten ist lediglich der Entwurf eines Briefes, geschrieben im Auftrag des Ministeriums, an Alfred Kantorowicz in München, der am 8. Juli 1960 seinem ehemaligen Studenten auch geantwortet haben soll. Auch hier sind weitere Ergebnisse der konspirativen Arbeit nicht bekannt.
Die ersten vier Jahre in München, nach der zweiten Emigration 1957, verliefen für Alfred Kantorowicz unerfreulich. Die Behörden des Freistaates Bayern verweigerten ihm die Anerkennung als politischer Flüchtling, rechte Gruppen polemisierten gegen ihn, weil er Kommunist gewesen war, linke mit starken DDR-Sympathien, weil er kein Kommunist mehr sein wollte. Der in München lebende Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961), dessen Romane und Erzählungen nur im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen, nicht aber in Westdeutschland, der 1955 mit dem DDR-Nationalpreis I. Klasse und 1957 mit der Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität ausgezeichnet worden war, verweigerte Alfred Kantorowicz, den er seit Jahrzehnten kannte, bei einer zufälligen Begegnung den Handschlag!
In Hamburg, wo er seit 1962 lebte, wurde ihm endlich die öffentliche Anerkennung zuteil, die ihm zustand: Am 1. Dezember 1966 wurde ihm, nach mehr als neun Jahren, vom Bundesverwaltungsgericht der Flüchtlingsstatus zuerkannt; im Jahr seines 70. Geburtstags (12. August 1969) erhielt er den Thomas-Dehler-Preis des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen in Bonn; zugleich erschien eine Festschrift, worin seine Leistungen gewürdigt wurden, unter dem bezeichnenden Titel „Wache im Niemandsland“.
Was bleibt von Alfred Kantorowicz und seinem Werk als Schriftsteller und Publizist? Einmal ist dieses Werk unverzichtbar für die Erforschung des deutschen Beitrags im Spanischen Bürgerkrieg 1936/39. Sein „Spanisches Tagebuch“ (1948), zehn Jahre nach der Niederschrift erschienen, ist eine dem kommunistischen Geschichtsverständnis nach 1945 angepasste Version des tatsächlich Erlebten, was ein Vergleich mit dem umfangreicheren „Spanischen Kriegstagebuch“ (1979) aufzeigt.
Auch sein autobiografisches Buch „Exil in Frankreich“ (1971) bietet mit seinen Details aus dem Emigrantenleben deutscher Kommunisten weit mehr an Information als in einem DDR-Verlag jemals hätte erscheinen können. Erinnerlich ist noch sein mutiges Auftreten auf der zweiten Tagung zur deutschen Exilliteratur im Sommer 1972 in Kopenhagen, wo er nachwies, wie verkürzt, verfälschend und abwertend die Exilleistungen deutscher Kommunisten, wenn sie „Renegaten“ geworden waren wie Ernst Bloch (1885-1977), durch die DDR-Geschichtsschreibung dargestellt würden, was fast zur Abreise der vierköpfigen DDR-Delegation geführt hätte.
Und da ist das bisher kaum ausgeschöpfte „Deutsche Tagebuch“ in zwei umfangreichen Bänden von 1959/61. Diese 1424 Seiten bieten eine solche Fülle an Informationen über die frühe DDR-Literatur, dass man sie getrost mit den 2006 in Leipzig veröffentlichten Briefen (632 Seiten) Hans Mayers (1907-2001) vergleichen kann.
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