Zwei Parolen prägen Hongkong

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Während die Welt noch mit dem Coronavirus kämpft, nehmen die Hongkonger bereits ihren Kampf gegen die wiederkehrende Bedrohung aus dem Norden, dem Ende der politischen Autonomie Hongkongs, wieder auf. Nachdem die Volksrepublik China 2019 das berüchtigte Auslieferungsgesetz zurückzog, übergab sie ihrem einzigen noch frei denkenden Hafen nun ein weiteres Geschenk: ein Gesetz zum „Schutz der nationalen Sicherheit“. Damit ist eine weitere Epoche politischer Unruhen vorhersehbar. Zugleich ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich an den letzten Sommer zu erinnern.

Obwohl Peking ständig mit den Säbeln rasselt, glaubten viele Demokraten in Hongkong lange an eine unabhängige Justiz als unumstößlichen Schutz der politischen Autonomie. Das Vorbringen des Auslieferungsgesetzes im letzten Sommer zeigte jedoch die Zielstrebigkeit Pekings, die Kluft zwischen den zwei Rechtssystemen zu schließen – ja, wir alle wissen, dass die Kommunistische Partei Chinas versprach, die Stadt Hongkong nach dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ zu verwalten. Mit der Entscheidung Festlandchinas der Stadt Hongkong ein nationales Sicherheitsgesetz aufzuzwingen erleben wir heute, wie dieses Versprechen ein trauriger Witz geworden ist. Und so ziehen unsere desillusionierten Bürger erneut in den Kampf gegen die Aggressionen aus dem Norden.

Seit dem Ausbruch der Proteste gegen das Auslieferungsgesetz im letzten Sommer wird Edward Leung Tinkei, ein Aktivist, der für den Lokalismus in Hongkong eintrat und dafür 2018 gefangen genommen wurde, als der neue spirituelle Anführer der prodemokratischen Massen angesehen. Überall in der Stadt hören wir Demonstranten „Befreie Hongkong, Revolution jetzt!“ rufen. Dies war der Wahlslogan von Leung, als er 2016 für einen Sitz im Legislativrat kandidierte.

Angesichts des heftigen Wettstreits zwischen den verschiedenen politischen Ideologien in Hongkong[1] sollten wir uns fragen, wieso der Slogan eines Unabhängigkeits-Aktivisten plötzlich die innere Stimme der Mehrheit der Widerständler ausdrücken kann. Beweist dieses Phänomen die offizielle Annahme, dass die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht lediglich eine Tarnung der Unabhängigkeitsbestrebungen ist?

Um das politische Drama am südlichen Zipfel von China zu verstehen, empfehle ich die zwei Leitsprüche von Hongkong nebeneinander zu betrachten. Schauen wir von „Ein Land, zwei Systeme“ zu „Befreie Hongkong, Revolution jetzt“, enthüllt sich letztlich die Geschichte der Stadt.

In den zwanzig Jahren seit der Rückgabe der Kronkolonie warfen die Demokratieanhänger Hongkongs der Regierung in Peking immer wieder vor, gegen das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ zu verstoßen. Aus offizieller Sicht jedoch versucht die Zentralregierung stets so gut wie möglich ihr Versprechen gegenüber den Bürgern Hongkongs zu halten – unter der Bedingung, sich das absolute Recht über Interpretation der Spielregeln vorzubehalten. Im Jahr 2014 gab Peking ein kontroverses Whitepaper heraus, in dem ausdrücklich das Prinzip „Ein Land“ über das der „Zwei Systeme“ gestellt wird. Damit zeigt sich die Bereitschaft Pekings, den Sonderstatus Hongkongs zugunsten der nationalen Sicherheit aufzugeben, ungeachtet dessen, dass der Leitspruch „Zwei Systeme“ ursprünglich für eine graduelle Modernisierung der Volksrepublik China und die friedliche Vereinigung mit Taiwan gedacht war. Nachdem zwei Jahrzehnte lang an der Vereinigung von Hongkong und China experimentiert wurde, ist bisher lediglich ein vermessenes Regime entstanden, welches aufhört zu lernen und beginnt sein „China-Modell“ im Ausland zu vermarkten. Wenn die Liberalen in Hongkong jemals eine Demokratisierung des kommunistische China erwarteten, dann sind sie gescheitert. Sie können nicht einmal mehr ihre Insel der Freiheit vor der geballten Faust des Prinzips „Ein Land“ schützen.

In Erwiderung zu der Unterdrückung durch Festlandchina versammeln sich nun Widerstandskämpfer in schwarzen Blöcken unter der Flagge „Befreit Hongkong, Revolution jetzt“. Interessanterweise spiegelt dieser Slogan den lokalistischen Gedanken wider, welcher nicht notwendigerweise von allen Freiheitskämpfern geteilt wird. Der Reiz des Slogans rührt in der Tat von der Vielfalt der möglichen Interpretationen. Daher hören wir manchmal in den Nachrichten, wie Demonstranten ihr eigenes Verständnis dieses Slogans erläutern. In der Originalsprache bedeutet „Befreie Hongkong“ wörtlich übersetzt „Das Licht kehrt zurück nach Hongkong“ und impliziert die Rückforderung eines verlorenen gegangenen Landes von seinen Eindringlingen, was gut mit der lokalistischen Auffassung zusammenpasst, dass die „Nation Hongkong“ einer fremden Macht aus dem Norden in die Hände gefallen ist. Auch der Ausdruck „Revolution jetzt“ ist kniffelig, eine genauere Übersetzung sollte „Revolution der Epoche“ lauten. Leung hatte zunächst auch überlegt die Parole „Revolution der Generation“, als Wahlslogan zu verwenden. Das ergibt Sinn, denn die meisten seiner Unterstützer gehören zu der jüngeren, nach Veränderung drängenden Generation. Zusammen mit seinem Team entschied er sich jedoch für die „Revolution der Epoche“, um den Menschen zu sagen, dass der Wille zur Veränderung nicht davon abhängt, welcher Generation man angehört, sondern wie man zu einer Modernisierung der Gesellschaft steht. Gleichzeitig wurde der Slogan in seiner Strittigkeit abgemildert, was einen wichtigen Beitrag zu der unerwarteten Popularität des ganzen Mantras leistete. Natürlich ist die Beliebtheit auch der traurigen Tatsache zu verdanken, dass die Regierungsführung in Hongkong sich immer noch nicht von der Ära kolonialer Brutalität losgelöst hat, weswegen Reformer wiederholt „universelle Werte“ als Anker der modernen Gesellschaft fordern.

In der Zusammensetzung der zwei Slogans entdecken wir die chiasmische Spannung zwischen zwei Richtungen des politischen Diskurses: die Stärkung nationaler Solidarität sowie die Idee globaler Staatsbürger. Die Politik nach dem Prinzip „Zwei Systeme“ hat einst in den Herzen der Hongkonger die Hoffnung für ein demokratisches China geweckt, besonders als das Mitmischen in der modernen Welt durch politische Reformen noch auf der Agenda von Peking stand. Die grausame Realität ist nun, dass wir mehr oder weniger den übergeordneten Grundsatz „Ein Land“ erleben, welchem zufolge eine Förderung von Demokratie eine „westliche Verschwörung“ zur Untergrabung der aufsteigenden Supermacht im Osten ist. Der Niedergang des Prinzips „Zwei Systeme“ zusammen mit dem Aufstieg der „Ein Land“-Politik tritt in den Straßen von Hongkong deutlich zutage. Die rapide Verbreitung der Einparteien-Diktatur über Grenzen hinweg macht vielen, die Hongkong als ihre Heimat schätzen, zu schaffen. Mehr und mehr Bürger spüren die Bedrohung ihre lokale Identität zu verlieren bevor sie in den Genuss des versprochenen allgemeinen Wahlrechts kommen. Nach dem Scheitern der „Regenschirm-Bewegung“ im Jahr 2014, bei der zuletzt versucht wurde einen Dialog und eine Versöhnung mit der Regierung herbeizuführen, gab es einen Anstieg bei den Unterstützern des Lokalismus. Die Verteidiger der „universellen Werte“ sehen sich plötzlich in der schwierigen Entscheidung zwischen dem Umgang mit dem Teufel wie bisher und dem Abstandnehmen von dem ungebremsten Patriotismus des Nordens. Diejenigen, die sich für Letzteres entscheiden, glauben, dass das Freisein von der Kontrolle durch Festlandchina eine Voraussetzung für politische Modernisierung im wahrsten Sinne des Wortes ist. Schlussendlich müssen wir verstehen, dass die Kombination von „Befreie Hongkong“ und „Revolution jetzt“ eine verwickelte Geschichte hat.

Dank seiner offensichtlichen Mehrdeutigkeit hat der Slogan lokalistischen Ursprungs nun erfolgreich die Regimekritiker über das politische Spektrum hinweg vereint. Dem Soziologen Amitai Etzioni zufolge können die jüngsten Unruhen in Hongkong als ein Aufeinandertreffen von zwei Arten des Nationalismus gesehen werden, und zwar dem autoritären Nationalismus auf der unterdrückenden Seite und dem zivilen Nationalismus auf der Widerstand leistenden Seite. Durch eine Gegenüberstellung der zwei Slogans, die Hongkongs Schicksal bestimmen, verstehen wir, dass die zwei Arten von Nationalismus – der regierungsgeführte chinesische Patriotismus und der Lokalismus als eine Ausrichtung der demokratischen Bewegung in Hongkong – letztlich sehr unterschiedlicher Natur sind. Gemäß der Einschätzung von Etzioni wird die Angst vor einer „Festlandisierung“ die globale Stadt Hongkong effektiv in Richtung „Taiwanisierung“ lenken.[2]

(Übersetzt aus dem Englischen von einer Freiwilligen)


[1] Für eine Übersicht der wichtigsten politischen Ideologien in Hongkong, die bei den derzeitigen Protekten eine Rolle spielen, verweise ich auf meinen letzten Artikel https://www.theeuropean.de/original-quelle/ist-hongkong-entkolonialisiert/

[2] “‘Good’ vs ‘Bad’ Nationalism in Asia: The task of keeping nationalism civic, rather than aggressive and authoritarian”, The Diplomat (2019, Sep 23), URL= https://thediplomat.com/2019/09/good-vs-bad-nationalism-in-asia.

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