Zwei Bücher öffnen unsere Augen für Israels Existenzkampf

Zwei unterschiedliche, höchst aktuelle Texte zum Terrorkrieg der Hamas gegen Menschen jüdischen Glaubens in Israel

Zwei unterschiedliche, höchst aktuelle Texte zum Terrorkrieg der Hamas gegen Menschen jüdischen Glaubens in Israel sind fast zeitgleich erschienen. Sie ergänzen einander. Erklären sie einander gar?

Michael Wolffsohn veröffentlicht in diesen Tagen die beiden Versionen seiner Berliner Gedenkrede zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht und ergänzt dieses Doppel-Manuskript mit einem aufrüttelnden, einleitenden Essay. Wenige Wochen zuvor hob der bekannte, kanadisch-israelische Journalist Matti Friedman ein Buchfragment des bedeutenden Lyrikers und Songpoeten Leonard Cohen  ans Tageslicht. Beide Texte, Wolffsohn und Cohen, wurden bei Tabula Rasa bereits rezensiert. Ein neues Bild ergibt sich aber, wenn sie parallel gelesen werden. Eine Doppelrezension.

Michael Wolffsohn, der brillante Analytiker, ruft seinen Lesern in Erinnerung, daß Heinrich Heine dem Antisemitismus seiner Zeit entgehen wollte, und zwar durch die evangelische Taufe, von der er sich das „Entréebillet in die europäische Gesellschaft“ erhoffte. Wolffsohn stellt fest, daß das damals nicht gelang, sich durch Anpassung an den gesellschaftlichen Hegemon, den „Zeitgeist“, gesellschaftlicher Zurücksetzung zu entziehen. Heute funktioniert es genauso wenig. Exemplarisch sei Wolfssohn in seinem brandneuen Buch „Nie wieder? Schon wieder!“, Seite 14, sinngemäß zitiert: Nationalistische Rechtsextremisten stoßen sich am Universalismus, an der Weltoffenheit von Juden. Kommunisten und Linksextremisten, die sich als Internationalisten verstehen, halten „die“ Juden für Partikularisten, die sich dem Weltgeist des Internationalismus entziehen. Beide bekämpfen Menschen jüdischen Glaubens gleichermaßen.

Wolffsohn setzt nach: „Die“ Juden seien in den Augen der linken „international“ orientierten Sozialisten zudem Kapitalisten. Sie seien Herrscher der (Finanz)Welt und als solche Imperialisten und Förderer des Kolonialismus des weißen Mannes, also Unterdrücker der entrechteten Dritten Welt, des globalen Südens. Speerspitze all dessen sei der Zionismus, sei der jüdische Staat. Ergo müsse man Israel an der Seite der Unterdrückten und Entrechteten dieser Welt bekämpfen. Soweit diese – ja – linke Verschwörungstheorie. Hellsichtig demaskiert Wolffsohn den heutigen Antisemitismus, der zur ganz überwiegenden Mehrheit in  der politischen deutschen Linken zu finden ist, aus deren Reihen sich auch die derzeitige deutsche Bundesregierung zu zwei Dritteln rekrutiert.

Ein Abgleich mit dem großen Bild des unseligen Antisemitismus im 20. Jahrhundert lohnt. Eine verhärtete Front von Feinden des Judentums, also Feinden aller Menschen jüdischen Glaubens, also um ebendieses Glaubens willen, war stets präsent. Wechselnde Partner reihten wieder ein. Erst Araber, dann deutschnationale Sozialisten, gesammelt in der NSDAP, dann wieder Araber, und nun zunehmend europäische Linksextremisten, die sich überwiegend als internationalistische Sozialisten verstehen. Dieser multipolare, aber immer gegen jüdische Menschen gerichtete Kampf dauert nun unvermindert bereits über ein Jahrhundert. Die Front begann sich aufzubauen, als Zionisten begannen, sich in der damaligen Provinz Palästina, eine dauernde Bleibe zu errichten. Der Kampf wurde schärfer, als ab den 1920er Jahren im Rahmen der Alija immer mehr Menschen jüdischen Glaubens vor den erstarkenden (national)sozialistischen Diktaturen Europas flohen. Araber folgten deutschen Vorbildern in den 1930er Jahren und riefen zum Boykott „jüdischer“ Waren auf. Ab 1948 sah sich Israel wütenden Kriegen ausgesetzt. Und was 1973 geschah, finden wir bei Matti Friedman, der Leonard Cohens Text ediert hat.

Was Leonard Cohen in seinem aus dem ersten Jom-Kippur-Krieg berichtet, ist eine neue, in vielen Details schärfere Betrachtungsweise des Kampfes, der anhält, seit Zionisten das Heilige Land von einer Wüste in einen Garten Eden verwandeln. Matti Friedman hat in Cohens Rohmanuskript, die genauen Beschreibungen der legendären Konzerte Cohens vor israelischen Soldaten auf der Sinai-Halbinsel im Herbst 1973 gefunden, vielerlei militärische Details werden quasi als Beifang mitgeliefert. Dieser unfertige Text ist auf seine Weise perfekt. Er vermittelt, was die Israelis im zweiten Jom-Kippur-Krieg, der in diesen Tagen ausgefochten wird, erlitten. Der Atem stockt – das ist genau der Kampf, in den sich Juden weltweit und in Israel speziell verwickelt sehen. Warum sie kämpfen. Welchen Preis sie zahlen. Für Ihr nacktes Leben. Der Text von 1973 ist seit dem 7. Oktober 2023 abermals höchst aktuell.

Der Krieg veränderte 1973 Leonard Cohen, und wir erfahren, wie das geschah. Er spielte täglich Konzerte, nächtigte im Schlafsack auf dem Boden, stürzte sich hinein in die Katastrophe des Krieges. In dem Manuskript, von dem gleich die Rede sein wird, schreibt er: „Hier und da gab es Andeutungen, dass ich nützlich sei.“ Und dann ist da dieses Lied – „Who by fire“. Das ist ein Zitat aus dem englischen Text des Gebetes Unetanneh Tokef, dessen Urfassung aus dem 11. Jahrhundert stammt, aus Mainz, gelegen im damals größten Verdichtungsraum jüdischer Kultur weltweit, im Rheinland zwischen Basel und Bonn. Bei Leonard Cohen markieren diese Worte die Auseinandersetzung mit Gott vor dem Hintergrund des Krieges anhand dieses religiösen Textes.

Und heute? Bei Michael Wolffsohn finden läßt sich der Cohen-Text wunderbar als Referenzquelle verwenden. Und je länger wir lesen, desto schonungsloser, aber auch logischer ist die brandaktuelle Anamnese unserer Gesellschaft im Angesicht des zweiten Jom-Kippur-Krieges, die Wolffsohns vorlegt, Nach seiner Auffassung ist abermals der Antisemitismus zum „Entreebillet“ – nach Heine – in die „bessere“ deutsche Gesellschaft geworden: „Wer zu den Kulturhegemonen gehören möchte, braucht den entsprechenden und dort geforderten Antisemitismus als Eintrittskarte, wobei der Antizionismus bzw. Antiisraelismus als Variante des Antisemitismus vorherrscht.“ Das steht auf Seite 21 seines neuen Buches – schnell nachschlagen bei Matti Friedman. Ja, der bestätigt es. Die immensen geistigen, die moralischen Schäden, die der erste Jom-Kippur-Krieg anrichtete, benennt er in seiner Einleitung, Seite 10. So wird dem kundigen Leser sofort klar, das der zweite Jom-Kippur-Krieg, den die Hamas am 7. Oktober 2023 begann, ähnlich schreckliche Schäden anrichten wird, wie der exakt 50 Jahre zuvor von moslemischen Extremisten losgetretene „erste“ Jom-Kippur-Krieg.

Was Wolffsohn mit dem fast ungläubigen „Nie wieder? Schon wieder!“ aufgeschreckt quittiert, beantwortete der große Poet Cohen mit dem lakonischen Ton des großen Lyriker, indem er das jüdische Gebet für die höchsten Feiertage, das Unetanneh Tokef, als Titel eine Liedes verwendet: „Who by fire?“ Drei Worte nur. Sie werfen in der literarischen Verdichtung bei Leonard Cohen auch heute ein ganz genau platziertes Schlaglicht auf den Charakter des Kampfes, in den sich die Israelis gezwungen sehen – schon wieder. Wenn Hamas die Waffen niederlegt, hören die schlimmen Verbrechen auf, sind ihre Kämpfer wahrscheinlich im iranischen Exil oder – wie jüngst der oberste Hamas-Chef – zu Gast in der Türkei, mutmaßlich natürlich, um möglichst bald mit Sprengstoff im Gepäck zurückzukehren.

Der von Friedman gefundene Cohen-Text ist der perfekte Beleg für die Richtigkeit der Argumente Wolffsohns. Und auch für den erschreckenden Ton, den er in seiner schließlich gehaltenen, zweiten Version der Gedenkrede anschlägt. Würden heute die Israelis die Waffen strecken, und auch ein Waffenstillstand fällt in diese Kategorie, gäbe es morgen kein Israel mehr, wären jüdische Menschen in Israel und in weitem Umfeld ihres – dann – ehemaligen Staates abermals Opfer lebensbedrohlicher Gewalt. Fatalistisch resümiert Wolffsohn auf Seite 24: „Nichts Neues unter der Sonne: Jüdisches Leben ist Existenz auf Widerruf. Die Rechtfertigungen für den Widerruf kommen und gehen, aber der Widerruf bleibt.“

Die beiden besprochenen Bücher gehören sozusagen zueinander, fußen aufeinander, sollten parallel gelesen werden. 1933 ist 1973. Und 1973 ist jetzt. Ein „Nie wieder“ hat es nie gegeben.

Matti Friedman, Wer durch Feuer – Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens, Leipzig 2023, broschiert, 198 Seiten, Übersetzung des englischen Originaltextes: Malte Gerken, ISBN 978-3-95565-612-6, 22 Euro.

 

Michael Wolffsohn, Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus, Freiburg im Breisgau 2024, gebunden, 96 Seiten, ISBN: 978-3-451-07239-0, 12 Euro.

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.