Dieses Buch ist ein existenzanalytisches Meisterwerk. Sein Autor, Julio Cabrera, hat in Argentinien und Brasilien gelehrt. Außerhalb Südamerikas ist er mit seinen vielseitigen Veröffentlichungen in spanischer und portugiesischer Sprache weitgehend unbekannt. Denn leider bringt die Globalisierung eine globale Einengung der Wahrnehmungsbereitschaft auf die englische Sprache mit sich. Mit seinem aktuellem Buch „Discomfort und Moral Impediment. The Human Situation, Radical Bioethics and Procreation“ dürfte Cabrera aus dem philosophischen Hades der Totgeschwiegenen heraustreten. Führen wir uns die Kernthesen des Buches vor Augen:
Respekt vor dem Menschen in Anbetracht des Wertdefizits menschlichen Lebens
Das menschliche Leben habe keinen Wert, aber dies bedeute nicht, dass Menschen keine Werte hervorbringen würden. Ganz im Gegenteil. Für Cabrera sind Menschen geradezu essentiell wertschaffende Wesen. Weil unser Leben außerhalb unserer wertschaffenden Praxis keinen Wert habe, seien wir zur Wertschaffung verurteilt. Mit Cabrera lässt sich sagen: Entweder wir schaffen uns Werte, insbesondere Selbstwert, oder wir verfallen. Unser gesamtes Leben hindurch existierten wir in einem schwindelerregenden Verfallsprozess, Körper und Geist seien dauerhaft verfallsbedroht, sodass unsere Existenz in jedem Moment enden könne. Dies mache uns zu außerordentlich selbstzentrierten Wesen, die vor allem mit der Verbesserung ihres je eigenen Lebens beschäftigt seien. Hierzu die Gegenfrage, ob nicht jedes Neugeborene (besser: jeder Fötus) zunächst in biologischer Selbstentwicklung begriffen ist, die insbesondere nach der Geburt sozial gefördert wird. Statt abzubauen, gewinnt das Kind die Sprache und allerlei soziale Kompetenzen zuallererst. Und als weitere Frage: Geschieht alle Wertschaffung nicht immer in sozialen Zusammenhängen? So kann ich nur dann Selbstwert haben, wenn er von anderen bestätigt wird.
Wenn Cabrera sagt, das menschliche Leben „habe“ keinen Wert, wird dies sogleich Kritiker ihre Stimme erheben lassen, dieser Philosoph sei „unethisch“. Dies wäre ganz und gar voreilig. Denn Cabrera hat höchsten Respekt vor uns Menschen. Alle menschlichen Bemühungen, mit der Terminalität, der Todes-Endgültigkeit, ihres Daseins fertig zu werden seien anrührend. Um Cabrera zu paraphrasieren: Ohne unser Zutun in die Welt gekommen, sind wir alle arme Teufel, weshalb uns aller Respekt gebühre.
Der Impetus zur Wertschaffung
Movens hinter der unentrinnbaren Wertschaffung und insbesondere Selbstwertschaffung ist das, was Cabrera unsere Terminalität nennt. Cabrera begreift die Wertschaffung als den menschlichen Verteidigungsmechanismus gegen die unentrinnbare Ausrichtung unserer Existenz auf den Tod hin. Mit seiner Konzeption unseres existenziellen Gehäuses schließt er sich ganz bewusst Heidegger an: Bereits mit der Geburt seien wir dem Verfall anheimgegeben. Mit Werten tapezieren wir den Weltbau aus, um ihn erträglich zu machen. Bisweilen sagt Cabrera, dass wir uns die (Selbst-)Werte konstruieren – das Wort „konstruieren“ gibt vielleicht besser wider, das kein Wert gegeben ist, wo wir uns welchen schaffen. An dieser Stelle sei die Rückfrage gestattet, wie es sich mit dem Phänomen der Resonanz verhält, wenn, gleichsam ohne unser Zutun, die Welt an einem Frühlingsmorgen – und vielleicht nicht nur dann, sondern auch im Hochgebirge oder am Meer – zu uns spricht?
Moralisch behindert: unentrinnbare Konflikte aus der Wertschaffung
Da nun jeder einzelne zur Wertschaffung – insbesondere zur Selbstwertschaffung – verurteilt sei, können Reibungen und Konflikte mit Anderen nicht ausbleiben. In allen Lebenslagen konkurrieren Menschen um Selbstwert, den sie aufgrund ihrer Terminalität bei Strafe ihres Verfalls schaffen müssen. Dies konstituiert für Cabrera die negative Struktur unserer Existenz. Das Phänomen, das wir nicht umhin kommen – ganz gleich, was unsere Intentionen sein mögen –, Andere mit unseren Handlungen zu schädigen, nennt Cabrera „Moral impediment“, was man vielleicht mit „das moralische Gebrechen“ oder „moralische Behinderung“ übersetzen könnte.
Es ist wichtig zu betonen, dass es Cabrera um eine Auffindung und Darstellung der Strukturmerkmale unserer Existenz geht. Denn mit seiner negativen Ethik möchte er abseits von der Empirie zum basalen Gerüst unserer Existenz vorstoßen. Ein auf die strukturellen Aspekte des menschlichen Lebens gegründeter Pessimismus sei stärker als jeglicher empirische Pessimismus. An dieser Stelle fragt es sich, woher der Autor von unserer Endlichkeit (Terminalität) weiß, wenn nicht aus der Empirie? Einmal gibt Cabrera dies – zumindest auf den ersten Blick – selbstwidersprüchlich auch zu: „At the same time, all of the elements employed by the structural argument are perfectly empirical.“ Zur ewigen (Selbst-)Wertschaffung seien wir, so erfahren wir jetzt, nur aufgrund unserer empirischen Ausstattung verurteilt: Wären wir unsterblich, immer gesund und stünden wir nicht dauerhaft in Auseinandersetzungen, so würden wir nichts und Niemandem Wert zuschreiben.
Negative Abgrenzung gegen Schopenhauer
Mit seiner negativen Ethik möchte Cabrera nicht den im Geiste Schopenhauers sich artikulierenden Pessimisten zugeordnet werden. Insofern Schopenhauers Metaphysik die Möglichkeit zur Verneinung des Willens bietet und Etliches zur Lebensweisheit zu sagen wusste, sei er nicht einmal als pessimistischer Philosoph zu bezeichnen. Erst Cabrera spreche dem radikalen Pessimismus das Wort. Diesbezüglich folgende Frage an sein Buch: Auch wenn die (Selbst-)Wertschaffung immer nur reaktiv in Ansehung der Terminalität einer jeden Existenz sein mag – also Verdrängungs- und Abschattungscharakter haben mag –,räumt Cabrera damit nicht ein, dass es einigen Zeitgenossen ganz gut gelingen mag, die immerfort lauernde, da strukturell gegebene, Terminalität nicht an sich heranzulassen? In seinem Buch, so Cabrera, wird der Leser vergeblich nach irgendeiner Ermutigung suchen, er schreibe schließlich keine affirmative, sondern negative Ethik. Und doch finden sich bei genauem Hinsehen einige Ratschläge und Erwägungen, wie das nichtgelingenkönnende Leben zu führen sei, er empfiehlt einen Lebens-Minimalismus: keine Familie gründen, nicht zu viele Bekanntschaften pflegen, sich politisch/militant um das Leiden Anderer kümmern, sich stärker für menschheitliche Belange einsetzen als für einzelne Personen.
Phänomenologie des Alltagshandelns
Heideggers erstmalige Analyse des Alltagshandelns fortsetzend, legt Cabrera dessen negative Struktur frei. An Beispielen wie einem schlichten Frühstück oder einem kurzen Ausflug an den Strand legt er dar, wie die 20 Minuten am Küchentisch oder die zwei Stunden am Strand einer Unmenge vorbereitender und nachbereitender Handlungen bedürfen, mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Dazu gehören das Tischdecken, das Abräumen und Abwaschen, das Einkaufen, das Warten im Stau, die Rückfahrt. Faszinierend ist Cabreras Analyse unserer Aversion gegen das Warten: „Warten ist sterben, und aus diesem Grunde hassen wir nichts mehr als zu warten. Wenn wir einfach nur warten, ohne nebenher etwas anderes zu tun, dann spüren wir das Vergehen der Zeit, unsere eigene verfallende Existenz wird bloßgelegt – unvermittelt und ungeschützt. Denken wir an Stunden, die wir vor dem Aufkommen der Multifunktionstelefone in Warte-Zimmern zubrachten, sind wir geneigt Cabrera Recht zu geben.
Universelle Absolution
Laut Cabrera ist es unmöglich nicht gegen ein Prinzip zu verstoßen, welches er die Minimal Ethical Articulation nennt, was wir mit „Ethische Minimalformel“ übersetzen können. Die ethische Minimalformel steht auf zwei Säulen: schädige andere nicht dadurch, dass du sie etwas aussetzt, wovon du weißt, dass es schlecht ist. Und: manipuliere andere nicht, indem du sie für deinen eigenen Nutzen gebrauchst.
Nun sind wir alle ohne unser Zutun in die Welt gekommen, in eine Welt, in der wir gar nicht anders können als andere zu schädigen. Wir können nicht anders, weil wir alle zur (Selbst-)Wertschaffung verurteilt sind, was nicht ohne Konflikte vonstattengehen kann. Vor diesem Hintergrund gelangt Cabrera zu einer General-Exkulpation, die man nicht unbedingt teilen wird: Der sozial-juridische-politische Apparat mache uns in massiv überzogenem Maße für unsere Taten direkt verantwortlich, wobei er die strukturell unmoralische Situation unserer Existenz außer Acht lasse (66). Auch wenn wir in gewisser Hinsicht schuldig sein mögen, so Cabrera, strukturell seien wir alle unschuldig.
Ganz im Sinne Cabreras hatte beispielsweise Walter Hueck in seinem Buch „Wohin steuern wir“ bereits 1931 formuliert: „Kein Mensch ist für seine Persönlichkeit verantwortlich. Er hat sich seinen Charakter nicht ausgesucht, man darf ihm aus seiner schwachen Gesundheit und seinem kümmerlichen Verstand keinen Vorwurf machen. Er hat sich nicht gewollt, er ist geschaffen worden, ohne gefragt zu werden, und man muss ihn nehmen, wie er ist.“
Alle Menschen seien in eine Welt hineingestellt, in der sie der ethischen Minimalformel nicht Genüge tun können. Dies werde vom Strafrecht, von Moralisten und der affirmativen Ethik viel zu wenig berücksichtigt. Wir können gar nicht anders, als „gegen“ Andere oder unmoralisch zu handeln. Aufgrund unserer „Ur-Situation“ in einer wenig einladenden, aggressiven und unverständlichen Welt, die Angst und Unsicherheit und Frustration hervorrufe, seien wir bestrebt unser kleines Leben zu genießen. Und dies gehe nun einmal nur auf Kosten anderer. Aber in dieser erzwungenen Unmoral dürfe man keinesfalls einen Hang des Menschen zum Bösen vermuten.
Cabreras Exkulpierung will hier nicht ganz überzeugen, da sie etwas zu wohlfeil ist. Ist es nicht so, dass das Maß meiner Schuld immer auch dem Maß meiner Aufklärung korrespondiert? Weiß ich um das schreckliche Los von Tieren in der industriellen Landwirtschaft, so ist mein Fleischkauf verwerflicher als wenn ich ganz uninformiert bin. Einen Schuldigkeitsindex im Maße des Informiertseins scheint Cabrera nicht zu kennen. Für Cabrera sind die Menschen durch den alltäglichen Kampf gegen die Terminalität zu erschöpft als dass sie sich im Alltag fragen könnten, ob ihr Handeln ethisch gerechtfertigt ist.
Mit seinem unserer Terminalität entwachsenen „Situational turn“ (in Anlehnung an Linguistic turn gebildet) erteilt Cabrera Generalabsolution. Leider geht er dabei so weit, selbst die NS-Zeit übervereinfachend als einen grotesken Versuch zur Überwindung der Terminalität der Existenz durch größenwahnsinnige und grausame Aktivitäten zu deuten.
Gegen die Hervorbringung neuer Menschen und Phänomenologie des Kindes
Die vornehmste Strategie im Rahmen eines minimalistisch geführten Lebens besteht laut Cabrera darin, keine eigenen Nachkommen zu haben. Bereits mit nur einem Kind würde man ein maximalistisches Lebensprojekt verfolgen. Ein Kind, das man ja der moralischen Gebrechlichkeit der Welt ausgesetzt hätte. Zudem würden Kinder unabdingbar im Rahmen eines fremden Lebensprojekts zu leben beginnen und seien somit immer schon manipuliert. Stattdessen empfiehlt uns Cabrera, eine melancholische wiewohl produktive Existenzen zu führen und uns eher der philosophischen oder ästhetischen Schöpfung als der Hervorbringung von Kindern zu verschreiben. Auf die vielerseits beschworene Liebe, die Eltern ihren Kindern angedeihen lassen, antwortet Cabrera, dass Liebe durchaus keine Moralität begründe. Bei alledem ist Cabrera alles andere als ein Kinderfeind. Ganz im Gegenteil. In einer faszinierenden Phänomenologie des Kindes ist er es, der die existenziellen Sorgen von Kindern gegen die Gleichgültigkeit Erwachsener hochhält: „Es ist schockierend zu sehen, wie die verzweifelten Tränen von Kindern, während und nach der Geburt, von den Erwachsenen nicht ernst genommen werden.“ In seiner Phänomenologie neigt Cabrera gleichwohl dazu, Kinder zu unterschätzen. So schreibt er, sie würden die ersten zehn Lebensjahre weitgehend unbewusst und unreflektiert verbringen. Andere Autoren haben demgegenüber den Reichtum philosophischen Nachdenkens und -fragens bei Kindern betont.
Als Antinatalist versucht Cabrera zu begründen, warum wir kein Recht haben, Kinder in die Welt zu setzen, um uns mit ihnen vor dem Verfall unserer Existenz zu schützen. Wie immer Eltern ihre Kinder lieben mögen, sie blieben doch nur Könige in einem Gefängnis. Indem er derlei sagt, weiß Cabrera, dass er sich unpopulär macht: Philosophen seien die Archäologen des Lebens und deswegen zuhöchst unpopulär; sie rühren an einen Grund, den die meisten ungern freigelegt sehen möchten.
Gegen die Abtreibung
Leser, die nun in Cabrera einen Immoralisten vermuten, müssen jetzt zur Kenntnis nehmen, dass dieser negative Ethiker und Antinatalist vehement gegen die Abtreibung argumentiert. Zwar entbehre menschliches Leben aufgrund der ihm eigentümlichen terminalen Struktur jeglichen Wertes, aber ebendiese Terminalität ist es auch, vor deren Hintergrund Abtreibungen im Zusammenhang mit der ethischen Minimalformel laut Cabrera ethisch unzulässig sind. Eine Abtreibung nämlich zerstöre die Terminalität, die jede Person ihm zufolge selbst aufheben solle. Der negative Charakter der Existenz sei kein Grund für eine Abtreibung. Denn mit diesem Hinweis ließe sich, so Cabrera, die Tötung jedes beliebigen Menschen rechtfertigen, dem man mit seiner Tötung künftige Leiden ersparen wolle. Eine solche Tötung aber sei ein Akt totaler Manipulation. Auch im Falle des Ungeborenen. Auf den Einwand, dass der Ungeborene aktuell keine Person ist, kontert Cabrera mit einem Hinweis darauf, dass er bei „normalem Lauf der Dinge“ zu einer solchen werde. Im Falle einer Abtreibung werde eine künftige Person der Möglichkeit beraubt ihren Tod selbst zu wählen, also Suizid zu begehen. Vor dem Hintergrund dessen, was Cabrera über den terminalen Charakter unserer Existenz ausführt, muss dies zynisch scheinen. Tatsächlich handelt es sich hier um einen zynischen Existenz-Rigorismus, dessen Schwäche auch dort hervortritt, wo nicht zwischen empfindungslosen Embryos und empfindenden Föten unterschieden wird. Schließlich ist ein früher Embryo zwar ein komplexes Zellsystem, aber doch kein jemand, der manipuliert werden könnte. Für Cabrera hat das Leben keinen Wert, aber jeder solle selbst entscheiden, was damit zu tun ist. Auch der empfindungslose Embryo oder der minimalbewusste Fötus. Diese Gewährung von Autonomie mit Blick auf aktuell nichtexistierende Personen, die aber im Laufe der Zeit da sein werden, wiegt für Cabrera schwerer als die Zumutung des Daseins.
Julio Cabrera
Discomfort and Moral Impediment. The Human Situation, Radical Bioethics and Procreation
Cambridge Scholars Publishing 2019, 270 Seiten