Zur Versuchsanordnung im Politik-Labor Thüringen

„Strategie und Taktik“, so die abgeklärt knappe Reaktion einiger Zeitgenossen, bei denen der Rezensent für die Lektüre des Buchs „Die Linke: Partei neuen Typs?“ aus der Feder Benjamin-Immanuel Hoffs warb, des neuen Chefs der Thüringer Staatskanzlei. Dass an Lenin geschulte Kommunisten politisch zu fast jedem Winkelzug bereit sind, wisse man doch noch aus dem Staatsbürgerkundeunterricht oder Grundlagenstudium des Marxismus-Leninismus.
Es wäre bedauerlich, wenn es damit sein Bewenden hätte. Denn die Lektüre der als „Flugschrift“ bezeichneten Studie über Milieus, Strömungen und Parteireform ist überaus lohnend, und zwar für Parteigänger, Koalitionäre und Widersacher der LINKEN gleichermaßen. Die LINKE träumt den alten sozialistischen Traum weiter und ihr erklärtes Ziel ist, das aktuelle Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundsätzlich zu überwinden. Dass es nicht einfach um die Rekonstruktion des real existent gewesenen Sozialismus geht und ihre maßgeblichen Köpfe den Weg über die Diktatur als schweren Fehler erkannt haben, sollte man der Partei zugestehen. Doch wie dann?
Hoffs Buch gibt Auskunft zu dieser Frage. In knapper Form skizziert und kommentiert der Autor die in jüngerer Zeit in der Führung der LINKEN und der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) geführten Diskussionen über mögliche Wege zu sozialistischen Verhältnissen. Sozialwissenschaftlich abgesichert, nimmt er Milieus, Parteien und ihre Wählerschaft in den Blick, die als Resonanzboden und Bündnispartner für eine langfristig angelegte Strategie in Frage kommen. Das Ganze rundet Hoff durch Überlegungen zum Selbstverständnis und zu Entwicklungsoptionen der LINKEN und zur Einordnung ihrer Flügel und Akteure ab.
Für Mitglieder und Anhänger der LINKEN kann die Veröffentlichung einen Beitrag zur Selbstaufklärung leisten und damit möglicherweise zur Überbrückung innerparteilicher Grabenkämpfe, den meisten Lesern gibt sie entscheidende Hinweise zum besseren Verständnis linker Politik innerhalb und außerhalb Thüringens. Aus dem an Themen und Denkanstößen reichen Buch seien lediglich drei Aspekte von allgemeinerer politischer Bedeutung herausgegriffen, die über parteiinterne Debatten hinausweisen.
Wie ein roter Faden zieht sich zunächst die Beschäftigung mit dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci (1891-1937) in der LINKEN und der RLS durch die einzelnen Kapitel. Schlüsselbegriffe des von Gramsci vertretenen Konzepts sind „Hegemonie“ und „Transformation“. Hegemonie zielt in der Zusammenfassung Hoffs auf „die Herstellung von aktivem oder passivem Konsens auf Seiten der Beherrschten in einer moralisch-kulturellen Dimension“. Dazu will die Linke Interessen, Institutionen und Akteure im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich zu breiten Bündnissen verknüpfen. Der gesellschaftlichen Transformation geht die geistig-kulturelle Herrschaft voraus. Für Liebhaber marxistischer Ideologiedebatten: Die Gewichte verschieben sich von der Basis in den Überbau.
Ein von Gramsci verwendeter Begriff für diese breiten Allianzen ist der des Blocks. Dem Hegemonie-Konzept oder, deutlicher gesagt: diesem Hegemonie-Streben messen die Strategen der LINKEN zentrale Bedeutung zu, wenn es darum geht, die gegensätzlichen ideologischen Positionen in ihrer Partei bei der Überwindung der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse zu versöhnen. Hoff beschreibt diese Pole mit „Widerstand“ und „Transformation“. Der Autor lässt hier und da Distanz zu Teilaspekten dieser Strategie durchblicken, auch im Bemühen, einen weiteren Sozialismusanlauf vor erneuten totalitären Entartungen zu bewahren und eine Engführung innerparteilicher Diskurse zu vermeiden. Insgesamt trägt er den Ansatz jedoch mit.

In einem Punkt von praktischer politischer Bedeutung, und das ist der zweite Aspekt, liegt er mit seiner Parteiführung erkennbar über Kreuz. In einer Art Vorwort hält die Parteivorsitzende Katja Kipping ihm vor: „Du meinst, Rot-Rot-Grün muss nicht von Anfang an als `hegemoniales Projekt´ angelegt sein – als ein Projekt mit dem gemeinsamen Anspruch, grundlegend andere politische Weichenstellungen vorzunehmen.“ In der Tat meint Hoff, „die drei Mitte-Links-Parteien und die sie tragenden Milieus haben derzeit kein gemeinsames Projekt“. Die Betonung liegt auf „derzeit“. Das benötigte Projekt kann und muss nach seiner Überzeugung durch rot-grün-rotes Handeln selbst entstehen und darf nicht zur Voraussetzung dieses Handelns erklärt werden. Am Ende entpuppt sich der Konflikt als eher graduell denn fundamental: Hoff ist zu größeren Vorleistungen bereit.
Der dritte Gesichtspunkt betrifft die intensive Beschäftigung des Verfassers mit den Milieus, in denen die LINKE einen fruchtbaren Boden für sich vermutet, und den parteipolitischen Partnern: der SPD und den Grünen. Die LINKE wünscht sich Hoff als „partizipative Mitgliederpartei“ und grenzt sie von den weniger ideologiefixierten Volksparteien ab, die er unter den Bedingungen zeitgenössischer politischer Kommunikation als „professionalisierte Wähler- bzw. Medienkommunikationsparteien“ beschreibt. Nicht allein der LINKEN, ihr allerdings vor allem, empfiehlt er die Rückbesinnung „auf die sie tragenden Milieus und die Schließung der dazwischenliegenden kulturellen und politischen Kluft“.
Dass Milieus erodieren und nicht mehr wie zu Zeiten der alten Massenparteien weltanschaulich geprägt und lebensweltlich abgegrenzt sind, benennt Hoff, er taxiert ihre Bedeutung als politischen Resonanz- und Kommunikationsraum allerdings deutlich höher als in den Volksparteien üblich. In Auswertung diverser Milieustudien kommt er zu dem Schluss, dass die Linke vor allem bei Arbeitslosen, Menschen in prekären Beschäftigungslagen, Abstiegsbedrohten und DDR-Nostalgikern gute Chancen hat. Ergänzt um Parteigänger in einer Gruppe, die je nach Quelle als „progressive“ oder „kritische Bildungselite“ bzw. „sozialökologisches Milieu“ beschrieben wird.
Es ist jene politisch überdurchschnittlich artikulationsfähige Gruppe, in der sich etwa zu gleichen Teilen auch die Anhänger der SPD und der Grünen befinden und in der Hoff „gemeinsam geteilte Leitbilder, Werte, Normen seitens der Mitte-Links-Wähler_innen“ verortet. Ansonsten unterscheiden sich die Anhänger der drei Parteien deutlich: Das Potential der SPD liegt in allen Milieus zwischen 20 und 30Prozent außer beim „abgehängten Prekariat“ (Friedrich-Ebert-Stiftung), und die Grünen sind im Wesentlichen auf bürgerliche Parteigänger beschränkt. Die Bedeutung des Befundes und rot-rot-grüner Bündnisse für das Etappenziel einer geistig-kulturellen „Hegemonie“ liegt auf der Hand.
Vor dem Hintergrund der Studie ist nicht weiter erklärungsbedürftig, wenn in Thüringen ein Ministerpräsident der LINKEN ein sozialdemokratisches Regierungsprogramm mit grünen Beigaben umsetzt und die das linksparteiliche Herz wärmenden Zutaten eher sparsam eingesetzt werden. Die linke Versuchsanordnung im Politik-Labor Thüringen hat eine bemerkenswerte Stringenz, die durch die Veröffentlichung Hoffs klarer wird. Die Prognose ist nicht besonders gewagt, dass es kaum einen Bereich geben dürfte, in denen die LINKE einstweilen nicht zu weitreichenden Kompromissen bereit ist, um Vertrauen aufzubauen.
Dem Buch ist deshalb eine breite Aufnahme und Diskussion zu wünschen: SPD und Grüne könnten angesichts der skizzierten Strategie ins Grübeln über ihre Rolle kommen. Wollen sich SPD und Grüne tatsächlich dem Verdacht aussetzen, Blockparteien neuen Typs zu sein, wie man unter Rückgriff auf die Terminologie Gramscis und des hoff´schen Buchtitels polemisch anmerken könnte? Auch der „transformatorische Reformismus“ zielt in den Worten des von Hoff zitierten Dieter Klein, eines wichtigen Vordenkers der LINKEN, „auf Umwälzung des Kerns der Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse“. Wollen sie sich dafür wirklich hergeben? Wollen sie sich zu Gehilfen eines Konzepts machen, dessen Ziel es ist, entschlossen auf den zivilgesellschaftlichen Bereich einzuwirken, um dort den Rückhalt für eine Transformation zu erzeugen und Widerstände dagegen zu schleifen.
Ein kurzer Blick auf die Entstehungsbedingungen der Theorien Gramscis ist in diesem Zusammenhang zu empfehlen. Für den italienischen Theoretiker reproduzierte die Gesellschaft die damals herrschende Ordnung. Es war diese „Hegemonie“, die durch eine neue ersetzt werden sollte. Der Eigensinn der bürgerlichen Gesellschaft erscheint in dieser Perspektive als Hindernis. Die heute vermeintlich herrschende „Hegemonie“ wird als neoliberal beschrieben. 2011 konstatierte ein Autor im Auftrag der RLS gar, „das Diffundieren neoliberaler Positionen“ in den Bereich der „Linksaffinen“.
Die CDU befindet sich angesichts der langfristig angelegten kulturrevolutionären Strategie in einem Dilemma. Jedem Versuch, einen roten Teufel an die Wand zu malen, werden auf absehbare Zeit gut greifbare und vermittelbare Belege fehlen. Ebenso wenig erfolgversprechend würde es sein, mit ideologischen Gegenentwürfen zu hantieren. Die Union ist keine klassische Weltanschauungspartei, sondern verbindet liberale, christlich-soziale und konservative Überzeugungen. Entscheidend wird sein, das maß- und grenzenlose Politikverständnis der LINKEN zu kennzeichnen und die Verwischung der Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur zurückzuweisen.
Unbestritten ist: Die Wirtschaft braucht eine starke und durchsetzungsfähige Ordnung, die „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber“ verbindet (Ludwig Erhard). Mehr jedoch nicht. Und die Gesellschaft muss als Raum der Freiheit vom Staat als dem Bereich der Notwendigkeit unterschieden bleiben. Eigenständigkeit und Eigensinn sind die Wesensmerkmale der Gesellschaft. Der Staat hat einen Rahmen zu setzen, in dem Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit gelebt werden können. Aufgabe der Parteipolitik und parteipolitischer Strategien kann und darf es nicht sein, die Herzen und Hirne der Menschen in strategischer Absicht zu manipulieren.
Insoweit bleibt es über das politische Tagesgeschäft hinaus Aufgabe der Opposition, auch auf die Strategie hinter der Taktik hinzuweisen. Hoffs Buch hilft dabei. „Jede Zickzackwendung der Geschichte ist ein Kompromiss – ein Kompromiss zwischen dem Alten, das nicht mehr stark genug ist, um das Neue ganz negieren zu können, und dem Neuen, das noch nicht stark genug ist, um das Alte ganz zu stürzen“, so W.I. Lenin nach einem Lehrbuch für das verpflichtende Grundlagenstudium des Marxismus-Leninismus im Kapitel über Strategie und Taktik. Auf die Zickzackwendungen der kommenden Jahre dürfen wir gespannt sein.
Benjamin-Immanuel Hoff: Die Linke: Partei neuen Typs? Milieus – Strömungen – Parteireform. Eine Flugschrift, Hamburg: VSA-Verlag 2014, Paperback, 143 Seiten, 12,80 Euro

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Über Karl-Eckhard Hahn 24 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker und Publizist; Leitender Ministerialrat a.D. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. X: @KE_Hahn.

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