Während meines Studiums der Literaturwissenschaft 1958/60 an der Freien Universität Berlin bin ich fast jeden Samstagmorgen, die Mauer war noch nicht gebaut, nach Ostberlin gefahren, um in den dortigen Buchhandlungen einzukaufen. Das war ziemlich einfach und außerdem preiswert: Man brauchte nur an der Wechselstube im Westberliner Bahnhof Zoologischer Garten 25.00 Westmark in 100.00 Ostmark einzutauschen und konnte dafür beispielsweise Paul Rillas zehnbändige Lessing-Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag für 90.00 Ostmark erstehen. Die gekauften Bücher konnte man mühelos und ohne befürchten zu müssen, von der „Volkspolizei“ wegen des zum „Schwindelkurs“ umgetauschten Geldes belangt zu werden, in der S-Bahn mitnehmen nach Westberlin und von dort in Paketen nach Hause schicken. Schwierigkeiten aber bereitete mir zweimal der Westberliner Zoll, der meine Pakete nach Coburg durchleuchtete und zwischen schmutziger Wäsche „illegal“ erstandene DDR-Bücher fand, für deren Erwerb ich Strafe zahlen musste.
Das Angebot in Ostberliner Buchhandlungen war außerordentlich verlockend: Die DDR-Verlage, die vom Staat subventioniert wurden, veranstalteten vorzügliche Nachdrucke von Büchern und Zeitschriften aus der deutschen Klassik und Romantik und dem Vormärz. Der Ostberliner Germanist Hans Kaufmann (1926-2000) edierte eine zehnbändige Heine-Ausgabe, die sich mit westdeutschen Bemühungen um den Autor messen konnte. Und Oscar Fambach sammelte in sieben umfangreichen Bänden „Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850)“ Rezensionen aus entlegenen und heute nur mit Mühe auffindbaren Zeitschriften (1953ff.).
Eines Tages stieß ich in einer christlich orientierten Buchhandlung, die es auch gab, auf ein schmales, unscheinbares Bändchen von 272 Seiten mit dem Titel „Existenz im Glauben“, erschienen 1955 in der „Evangelischen Verlagsanstalt Berlin“, also eine Reminiszenz an das Kierkegaard-Gedenkjahr 1955, den 100. Geburtstag des dänischen Philosophen. In diesem Buch waren, so sagte es der Untertitel, ausgewählte Texte aus „Dokumenten, Briefen und Tagebüchern Sören Kierkegaards“ gesammelt. Die Herausgeberin Liselotte Richter führte zwei Doktortitel, einen theologischen und einen philosophischen, und war Professorin, so der Klappentext, an der Ostberliner Humboldt-Universität. Zudem hatte sie die Texte Sören Kierkegaards (1813-1855) selbst aus dem Dänischen übersetzt und unter dem Titel „Kierkegaards Bedeutung für die Gegenwart“ (S.8-35) die Einleitung verfasst. Wer war diese Liselotte Richter, deren Weg zu Sören Kierkegaard über den Kommunismus führte?
Sie wurde am 7. Juni 1906 als Tochter eines Bankkaufmanns in Berlin-Tegel geboren, ihre Mutter entstammte einem Pastorenhaus. Von 1926 bei 1932 studierte sie Philosophie, Theologie und Germanistik in Berlin, Marburg (bei Martin Heidegger) und Freiburg (bei Edmund Husserl). Bei dem aus Prag stammenden Philosophieprofessor Erich Frank (1883-1949) wurde sie am 3. Februar 1932 in Marburg mit einer Arbeit über den „Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard“ promoviert. Die Note war „summa cum laude“, für die Nebenfächer im Rigorosum hatte sie Kirchengeschichte und deutsche Literatur angegeben. Zunächst konnte sie noch als Assistentin bei Erich Frank arbeiten, der allerdings als Jude nach dem 30. Januar 1933 zunehmend in berufliche Schwierigkeiten geriet, seinen Lehrstuhl 1935 aufgeben musste und 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte.
Auch sie musste, nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, die Friedrich-Wilhelms-Universität verlassen, da sie als links galt und sich selbst auch als links einschätzte. Sie hatte seit 1931 in linken, dem Kommunismus nahestehenden Organisationen mitgearbeitet, wie der KPD-nahen „Roten Hilfe“, die 1921 gegründet und 1933 verboten worden war, und sie hatte Lehraufträge an der 1925 gegründeten „Marxistischen Arbeiterschule“ übernommen. Jetzt aber suchte sie dringend einen Arbeitsplatz, der sie als Wissenschaftlerin forderte, um in der „inneren Emigration“ unbeschadet das „Dritte Reich“ überstehen zu können. Zum 1. Januar 1936, nach fast drei Jahren Arbeitslosigkeit, wurde sie bei der Leibniz-Kommission an der „Preußische Akademie der Wissenschaften“ angestellt, der seit 1923 die Edition „Sämtliche Schriften und Briefe“ des Aufklärungsphilosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) oblag. Lieselotte Richter war dort die Aufgabe zugewiesen worden, die Korrespondenz des Philosophen für die Jahre 1693/95 zu erschließen. Aber auch hier brach gelegentlich die innerlich stets fortgeführte Auseinandersetzung mit den Schriften Sören Kierkegaards durch. So erwog sie 1941/42, neben ihrer kräfteverzehrenden Akademie-Arbeit mitten im Krieg, Tagebücher und Briefe des Dänen zu übersetzen und bat in Kopenhagen um unveröffentlichte Manuskripte. Im Dezember 1941 fragte sie bei der Dieterich`schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig an, ob man dort nicht eine Auswahl der noch unübersetzten Tagebücher herausbringen könnte, was vom Verlagsleiter mit Begeisterung begrüßt wurde. Er besorgte ihr auch in Kopenhagen Kopien der Tagebücher und Briefe. Am 15. Februar 1942 schrieb sie an Karl Jaspers (1883-1969), der seit 1937 in Heidelberg in „innerer Emigration“ lebte: „Zunächst die Tagebücher, deren 20 Bände im Dänischen ich als Erste jetzt vollständig heranziehen kann. Es macht mir große Freude, dieses Neuland ist einzigartig.“ Allerdings wurde die Drucklegung dann, kriegsbedingt, mehrmals verschoben, und als der Krieg beendet war, fehlte das Papier. Immerhin hatte Liselotte Richter durch ihre Übersetzungstätigkeit Vorarbeiten geleistet für das !955 erscheinende Buch „Existenz im Glauben“.
Die Leibniz-Editorin war trotz verheerender Luftangriffe in der Reichshauptstadt Berlin geblieben und am 9. September 1945 der KPD beigetreten, im August 1948 wurde sie dann in die 1946 gegründete SED übernommen. In Berlin-Ruhleben, wo sie noch immer wohnte, gründete sie in ihrem von Bomben beschädigten Haus einen Gesprächskreis für Philosophie. In Berlin-Charlottenburg, wo sie aufgewachsen war, wurde sie im Sommer 1945 zur Bezirksschulrätin ernannt, zusätzlich übernahm sie die Leitung der dortigen Volkshochschule. Die Befreiung von den Zwängen des Nationalsozialismus durch die „Rote Armee“, wie sie es zumindest in den ersten Nachkriegsjahren sah, löste bei ihr einen wahren Schaffensdrang aus. Ein Nebenprodukt ihrer Editionsarbeit in der Akademie war das Buch „Leibniz und sein Russlandbild“ (1946), das sie zum 300. Geburtstag des Leipziger Philosophen am 1. Juli 1946 veröffentlichte. Ein Buch, das ihr die Sympathie der Kulturoffiziere der “Sowjetischen Militär-Administration“ in Ostberlin einbrachte. Deshalb wurde sie auch gebeten, den Festvortrag am 1. Juli in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden zu übernehmen.
Darauf folgte, am 15. Oktober 1946, die Anmeldung zur Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität, ohne dass sie vorher eine Habilitationsschrift eingereicht hätte. Sie wollte aber von der Regelung Gebrauch machen, dass die venia legendi auch erteilt werden könne, wenn sich durch vergleichbare Arbeiten die wissenschaftliche Qualifikation der Habilitandin nachweisen ließe, schließlich hatte sie, nach ihrer Dissertation, drei wissenschaftliche Bücher veröffentlicht. Einer ihrer Gutachter war der Pädagoge Eduard Spranger (1882-1963), der am 14. November 1946 von Ostberlin nach Tübingen wechselte, der andere war der Philosoph Paul Hofmann (1880-1947). Beide Gutachter erhoben, bei allem Lob für ihre wissenschaftlichen Leistungen, den Einwand, dass sie die Hegelsche Philosophie zu wenig einbezogen hätte. Schließlich wurde ihre sieben Jahre andauernden Leibniz-Forschungen der Akademie als auschlaggebend betrachtet. Der Prüfungsvortrag über englische Philosophie folgte am 24. Juli 1947, am 14. Oktober hielt sie ihre Antrittsvorlesung „Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart“, am 27. November wurde sie zur Privatdozentin ernannt. Im Wintersemester 1947/48 las sie, vor begeisterten Studenten, Philosophiegeschichte, am 27. April 1948 wurde ihr die Urkunde ausgehändigt, dass sie rückwirkend zum Semesterbeginn im Herbst 1947 zur Professorin mit vollem Lehrauftrag ernannt worden sei. Sie saß nun auf dem Lehrstuhl, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) von 1818 bis 1831 innegehabt hatte, und war die erste Professorin für Philosophie in Deutschland.
In den Aufbaujahren 1945/49 war sie, auch nachdem sie ihre Professur bekommen hatte, als Referentin beim „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und beim „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“ eingesetzt, wo sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse einbringen konnte. Die Philosophie Sören Kierkegaards war hier freilich weniger gefragt. Allerdings geriet sie nach ihrem Vortrag vom 19. April 1948 über „Sartre im Lichte der wissenschaftlichen Philosophie“ in eine ideologische Auseinandersetzung mit ihrem Genossen Karl Mewis (1907-1987) aus der Ostberliner SED-Führung, der ihr vorwarf, die Philosophie des französischen Existenzialisten viel zu positiv interpretiert zu haben. In einem langen Brief vom 9. Mai 1948 wies sie diese Vorwürfe zurück und erklärte, dass in den SED-Wahlaufrufen die „Freiheit der Lehre und der wissenschaftlichen Forschung“ ausdrücklich zugesichert worden sei. Im Jahr 1948 soll sie dann auch, ohne viel Lärm, aus der „Partei der Arbeiterklasse“ ausgetreten sein. Ihre Biografin Catherina Wenzel nimmt an, dass der Austritt zwischen 8. Oktober und 10. Dezember 1948 erfolgt sein muss.
Aber das Misstrauen ihrer früheren Genossen gegen ihre Art, Philosophie zu lehren, blieb. In einem Spitzelbericht vom 8. Oktober 1948 konnte man den Satz lesen: „Frau R. kann nicht als Vertreterin des Marxismus bezeichnet werden.“ Ihre im Vorjahr, am 13. September 1947, gegenüber Karl Jaspers in Heidelberg brieflich geführte Klage über die misslichen Verhältnisse, unter denen sie lehren und forschen musste, war offensichtlich mit der Hoffnung auf eine Berufung nach Westdeutschland verbunden. Als am 4. November 1948 in Berlin-Dahlem die Freie Universität gegründet wurde, hätte sie erneute Gelegenheit gehabt, sich umzuorientieren. Ihr philosophischer Kollege Hans-Joachim Lieber (1923-2012) beispielsweise, der als Assistent Eduard Sprangers seit 1945 in Ostberlin lehrte, ging im Herbst 1948 nach Westberlin und reichte an der Freien Universität seine Habilitationsschrift ein. Liselotte Richter aber blieb in Ostberlin und setzte sich weiteren Anfeindungen aus.
Erschwerend für ihre Lehrmeinung kam hinzu, dass 1949 zwei neue Professoren ans Philosophische Institut, dessen Leiterin Liselotte Richter noch immer war, berufen wurden: Kurt Hager (1912-1998) und Klaus Zweiling (1900-1968), die bekennende Marxisten-Leninisten waren und deren wissenschaftliche Qualifikation kaum nachweisbar war. Die Folge dieser Berufung war, dass der Marxismus-Leninismus zur vorherrschenden Lehrmeinung erklärt wurde. Philosophische Ansätze, die dieser Konzeption nicht entsprachen, wurden als „bürgerlich“, „geschichtspessimistisch“ oder „idealistisch“ abqualifiziert. In einem Brief an Karl Jaspers vom 12. Januar 1949 sprach sie von einer „Refaschisierungswelle“ und von ihrem Wunsch, „spätestens innerhalb von zwei Jahren Deutschland zu verlassen.“
Anderthalb Jahre später, im Sommer 1950, reiste sie für acht Wochen nach Skandinavien. In Dänemark wollte sie Material sammeln für ein Buch über skandinavische Philosophie, in Schweden sollte sie Vorlesungen und Seminare halten. Doch ein Unfall am 19. August, der eine schmerzliche und langwierige Beinverletzung zur Folge hatte, machte ihre Pläne zunichte. Sie lag bis Ende Oktober in einem dänischen Krankenhaus und war bis zum Lebensende 1968 auf Krücken angewiesen. Als sie, vier Wochen verspätet, ihre Vorlesungen im November unter starken Schmerzen aufnahm, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass sie in ihrer Abwesenheit als Institutsleiterin abgesetzt worden war, weil man mit ihrer Rückkehr nach Ostberlin nicht mehr gerechnet hatte. Ihren Eindruck von ihrer ersten Vorlesung nach dem Unfall schilderte sie so: „Dann schleppte ich mich in den Hörsaal…Als ich das Katheder bestieg, gaben sie mir minutenlange Ovationen, aber ich sah auch viel ablehnende und hassverzerrte Gesichter. Die typischen HJ- und SA-Visagen von 1933. Damals in Braun, heute in Rot und morgen vielleicht wieder in Braun. Ein böser, böser Traum und lähmender Alpdruck.“
Nach der demütigenden Erfahrung, degradiert worden zu sein, bezeichnete sie sich als „Heimatvertriebene in der eigenen Stadt“. Sie musste auch feststellen, dass während ihrer Abwesenheit die Institutsbibliothek „gesäubert“ worden war: „Wie ich den Anblick meines verwüsteten Seminars ertragen soll, wo man Hegel und Kant aus den Regalen riss, um Leninismus und Stalinismus dafür hineinzupacken, wie ich das Spießruten-Laufen durch die Spitzelaugen der neuen Machthaber überstehen soll, die jeden Menschen, jedes Wort, was dort gesprochen wird, kontrollieren.“
Nach Kriegsende 1945 wirkte sie zunächst als Bezirksschulrätin für Bildung und Kultur in Berlin-Charlottenburg, konnte sich dann an der Humboldt-Universität in Ostberlin habilitieren und wurde 1948 als erste Frau in Deutschland auf eine Philosophie-Professur berufen. Allerdings bekam sie später politische Schwierigkeiten, vermutlich wegen ihrer immensen Belesenheit, die dogmatischen Marxisten-Leninisten abging, und weil sie in ihren Seminaren, ähnlich wie Ernst Bloch (1885-1977) in Leipzig, die Kenntnis der philosophischen Originaltexte, die zu interpretieren waren, verlangte. So wurde sie 1951 aus der Philosophischen Fakultät verdrängt und in die Theologische Fakultät versetzt, wo sie Philosophiegeschichte lehrte. Vier Jahre nach dem Mauerbau (1965) wurde sie mit der Ehrendoktorwürde ihrer Fakultät ausgezeichnet. Sie wohnte, wie schon während des Krieges und davor, in Berlin-Charlottenburg, wo sie aufgewachsen war und überschritt fast täglich als Grenzgängerin die Berliner Mauer, um an ihren Arbeitsplatz in der Universität zu gelangen. Am 16. Juni 1968 starb sie nach schwerer Krankheit.
Zum 100. Geburtstag am 7. Juni 2006 wurde sie von der Humboldt-Universität mit einer Gedenkfeier geehrt. Die in Berlin erschienene Festschrift trug den Titel „Nach jedem Sonnenuntergange bin ich verwundet und verwaist“ und enthielt 15 Aufsätze, darunter allein sieben von Liselotte Richter selbst. Herausgeber des Bandes waren der Theologe Richard Schröder, der wohl einst bei ihr studiert hatte und dann der Nachfolger auf ihrem Lehrstuhl war, der Theologe Michael Weichenhan und die Theologin Catherina Wenzel, die 1998 mit einer Arbeit über Liselotte Richter promoviert worden war.