Für ihn haben viele berühmte italienische Autoren geschrieben. Dichter, Schriftsteller, „hommes de lettres“ haben Einführungen, Vorworte und Nachworte für seine international bekannte Bildbände verfasst und die Lyrik seiner Fotos hervorgehoben, die das „Außerordentliche im Alltäglichen“ festhalten.
So der Florentiner Literaturkritiker Geno Pampaloni, in dem Bildband Firenze e la Toscana (1981).
So Fosco Maraini, Dacias berühmter Vater, der – selbst Fotograf und Wanderer zwischen den
Welten -, in Il Nuvolario (1998), einem Buch über Wolken, essayistisch kommentiert hat. Last but not least Maurizio Scaparro, Theatermann und Dramaturg, der sich wiederum auf Maschere (1981), Roiters legendären Band über den Anfang der 70er wieder aufgelebten venezianischen Karneval eingelassen hat. Von besonderem Glanz und literarischem Wert sind aber unter allen die poetisch-kritischen Texte von zwei Hauptvertretern der venetischen Kultur, Andrea Zanzotto und Goffredo Parise, die respective die Bildbände Essere Venezia (1977) und Laguna (1978)schmücken.
Es ist gewiss kein Zufall, dass beide Autoren in ihren Schriften – so wie im Grunde auch Turner – einen Zugang „von außen“ zur Fata-Morgana-Venedig vorlieb nahmen… „Durch Sümpfe und Kanäle in Gräsern versenkt, auf einer Flosse, die älter und mythischer als Odysseus eigene ist“ – dichtet Zanzotto -„könnte man eine Annäherung an die Stadt riskieren „ ,während der „Heimatlose der Seele“ Parise, eine Reise als „deraciné“, als „bootsfahrender Ästhet“ antritt, der immer wieder „zur Abreise gezwungen wird… und folglich zur Erinnerung ….“
Und ein Blick „von außen“ war zweifelsohne jener Roiters, Wahlvenezianer aus Meolo, einem Dorf aus dem Hinterland von San Donà di Piave- nicht weit von Hemingways Orten „über den Fluß und die Wälder“ – , wo er seit frühester Kindheit mit den wechselnden Zyklen bei Pflanzen und Tieren und den sich stetig verändernden Lichtverhältnissen in der ländlichen Umgebung in Berührung kommt. Prägende Erfahrungen, die ihm schon in seinen ersten Bildbänden Venise à fleur d’eau (1954 ) und Venezia Viva (1973 ), Goethes Stadt der Biber – Venedig, wo sich das Grün der Gärten und Hinterhöfe eher im Verborgenen hält – in enger Symbiose mit der Natur neu erleben und entdecken lassen. Nebel und Wasser, tierische und menschliche Präsenzen verwandeln seither in seinen Fotos die traditionelle, ein wenig starre Ikonographie der Königin der Meere in etwas Lebendiges.
Eine wichtige Zäsur ist inzwischen in Roiters Schaffen eingetreten: Seit den Siebziger Jahren beschließt er, sich auf das „Abenteuer der Farbe“ einzulassen. „Warum Farbe nach so viel Schwarz-Weiß?“ –fragt er sich . „Es ist ganz einfach: Der Mensch sieht die Welt, die Dinge, die Gegenstände, also die Wirklichkeit täglich in Farbe. Das Schwarz-Weiße ist Abstraktion. Es zwingt zu einem Vorstellungskraftakt, der die Sinne allzu sehr beansprucht. Die Deutung des Schwarz-Weißen ist wie das Entziffern einer kodierten Botschaft: Nur die Eingeweihten begreifen den Sinn“.
Die zwei Kodachrombildbände Essere Venezia (1977) und Laguna (1978) mit dem Querformat 24 x 36 cm – quer wie sich die Stadt erstmalig dem Fremden vorstellt – prägen das neue Image des modernen Venedigs undmachen aus Fulvio Roiter eines seiner Aushängeschilder.
Ungern ließ er sich allerdings als „offizieller Fotograf Venedigs“ bezeichnen. Eher schlichtweg als „Fotograf Venedigs“, wohl wissend um die sehr hohen Anforderungen, die die meist fotografierte Stadt der Welt an ihn stellt. An ihn als Venezianer, der die Stadt täglich vor Augen auf die Gefahr hin hält, sie nicht mehr wahrzunehmen; ganz besonders an ihn, der sie über Jahrzehnte in seinen Bildern immer wieder verewigt hat. Mit jeder Aufnahme betritt aber Roiter, der sich als echter Künstler von seinem „animalischen“ Instinkt leiten lässt, unerforschtes Neuland. Ersichtlich wird das insbesondere in dem letzten Venedig-Band La mia Venezia (1990), in dem er sich an das vertraute Thema„mit dem frischen und aufgeregten Auge des Zwanzigjährigen und der Summa von Dreißig Jahren Fotografie im Rücken heranwagt“. „Venedig – so Roiter in einem darin gedruckten Interview – ist ein historisch-urbanistisches Phänomen, das einzigartig in der Welt ist. Die Stadt visuell zu präsentieren, heißt deren unterschiedliche Aspekte durch möglichst aussagekräftige Bilder zu dosieren. Dies tat er, selbst auf die Gefahr hin, beschuldigt zu werden, „ lediglich die ästhetisierende, schöne Seite der Stadt festzuhalten, ohne auf die echten, reellen Probleme einzugehen“. Ziel des Buches, zumindest dieses Buches, war der Welt jene „Torheit“ des menschlichen Verstandes aufzuzeigen, das Venedig ist, eine Stadt, die aus der Angst heraus aus dem Wasser entstanden ist. „Nun…“ – sagte Roiter – „dieses Wunder existiert heute noch, es steht hier vor uns; es kann allerdings verschwinden, wenn man die Probleme nicht angeht. Fazit: Das Schöne kann nicht sterben, darf nicht sterben!“.
Seit dem überwältigenden Erfolg des in mehreren Sprachen in Atem beraubenden Auflagen erschienenen Essere Venezia (dt. „Traumhaftes Venedig“) lebten zwei Fulvio Roiter nebeneinander: Der populäre Fotograf und der unnachahmbare, raffinierte Künstler der ersten Meisterwerke in Schwarz und Weiß, die dem einstiegen enfant prodige einen Sonderplatz in der Geschichte der Fotografie einräumten. Der Künstler, der seine ersten Schritte in dem bahnbrechenden Fotoclub „La Gondola“ getätigt hatte, wo er kurz nach Kriegsende auf Wegbegleitern wie Paolo Monti, Toni del Tin und Gianni Berengo-Gardin stieß, später ab 1955Mitglied der Friauler Gruppe „Nuova Fotografia“ wurde, die sich an die soziologischen Untersuchungen des Neorealismus sowie an die Malerei von Giuseppe Zigaina wie auch an das poetische Werk Pasolinis orientierte. Eine eindrucksvolle Retrospektive von über 100 S/W-Aufnahmen aus der ganzen Welt – von Andalusien und Brasilien bis hin zum Afrikanischen Kontinent – dokumentierte 2001 in einer Wanderausstellung durch mehrere italienische Städte Roiters stets viel beachtetes und preisgekröntes Frühwerk.„Fotografie“ – sagte Roiter – „ist kein Beruf; es ist ein modus vivendi“. Es ist eine Leidenschaft, die dazu „zwingt die Welt in Bildern zu ergründen“ und das zu „sehen“, was andere nur „betrachten“ dürfen. Eine angeborene Befähigung, jene Wirklichkeit zu erfassen, die der Mehrheit der Menschen entgeht.
Fulvio Roiter ist am 18.April 2016 mit 89 Jahren in Venedig gestorben. Hier einige Stimmen namhafter Intellektuelle, Journalisten, Autoren, die sich über ihn und sein Lebenswerk geäußert haben:
„Er ist um die Welt gereist auf der Suche nach dem, was er wollte und nicht nach dem, was ihm bestellt wurde oder was das Publikum erwartete. Wie bei jedem echten Künstler paart sich bei ihm Technik mit Inspiration und verändert sich mit ihr. Es gibt weder Rhetorik noch Gemeinplätze in seinen Bildern.“
Giuseppe Prezzolini
„Ich denke, es ist seine ungeheure animalische Fähigkeit, sämtliche Kräfte in das Auge zu bündeln, was … aus Fulvio Roiter die Nummer Eins der Weltfotografie macht…Kein anderer kann -jenseits der Dinge – auch den Sinn der Dinge so erfassenwie er…“
Indro Montanelli
„Er ist ein Poet der Fotografie“
Carlo Sgorlon
„Er schreibt Verse mit dem Fotoapparat.
Er ist wie ein Wünschelrutengänger und Wünschelrutengänger gehorchen keinerlei Logik: Sie machen Halt mit gestreckten Händen vor einem Gebüsch, wohl wissend dass darin eine Wasserader verborgen liegt…
Alberto Bevilacqua
(Auszug aus der Eröffnungsrede zu Fulvio Roiters Ausstellung “Essere Venezia – Impressionen aus der Lagunenstadt” in der Pasinger Fabrik 1. Dezember 2005 – 15. Januar 2006).
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