Zum Tod Erich Loests

Die Nachricht kam zu nachtschlafender Zeit. Um 4.55 Uhr am Freitagmorgen kam eine Mail aus Berlin: Erich Loest ist tot! Später erfuhr ich, er wäre am 12. September abends um 18.10 Uhr aus einem Fenster im zweiten Stock der Leipziger Universitätsklinik gestürzt, die Polizei ginge von einem Selbstmord aus.
Dass er seit Jahren schwer krank war, das wusste man. Die sieben Zuchthausjahre in Bautzen 1957/64 wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ hatten an seiner Gesundheit gezehrt, im Lauf der Jahre waren ihm zwei Drittel seines Magens herausgeschnitten worden. Die Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte häuften sich.
Aber hätte er so sterben müssen, so fern von Freunden, die ihn liebten und seine Romane schätzten? Er war schließlich, neben Uwe Johnson, der einzige Schriftsteller, der an der deutschen Teilung litt und darüber schrieb. Die westdeutschen Autoren hat dieses Thema nie interessiert. Noch in seinem vorletzten Roman „Sommergewitter“ (2005) setzte er sich mit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 auseinander, der in der DDR-Literatur als „faschistischer Putschversuch“ denunziert wurde.
Gelesen von Erich Loest und seinem Schicksal habe ich zuerst im Sommer 1959, als sein Freund Gerhard Zwerenz, der 1957 vor der drohenden Verhaftung aus Leipzig nach Westberlin hatte fliehen können, in der „Stuttgarter Zeitung“ über ihn geschrieben hatte. Im Oktober 1959, als ich, damals Student an der Freien Universität in Westberlin, Verwandte in Leipzig besuchte, klingelte ich eines verregneten Abends bei Ehefrau Annelies Loest, die zwei Häuser weiter in der Oststraße wohnte, und lieh mir drei Romane aus, darunter „Die Westmark fällt weiter“ (1952), deren Ausleihe mir in der Deutschen Bücherei verweigert worden war, weil Erich Loest als „Staatsfeind“ galt. Wochen später schickte ich die Bücher mit fingiertem Absender von einem Ostberliner Postamt zurück nach Leipzig. Als ich das zwei Jahre später, nach meiner Verhaftung am 9. September 1961, den Vernehmern der „Staatssicherheit“ in Leipzig erzählte, wurden sie wütend, dass sie davon nichts gewusst hatten.
Kennen gelernt habe ich Erich Loest erst Jahrzehnte später, im Herbst 1977, als er an der Universität Osnabrück auftrat, mich danach beiseite nahm und sagte: „Du bist also der Unglücksvogel, der 1961 nach Leipzig gefahren ist.“ Später hat er in seinem Buch „Prozesskosten“ (2007) auf mehreren Seiten über mich geschrieben.
Zweimal ist Erich Loest zu Lesungen in Coburg gewesen: 1987 las er zu Ehren meines 50. Geburtstags aus seinem berühmten Leipzig-Roman „Völkerschlachtdenkmal“ (1984), der heuer wieder zum 200. Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht hochaktuell ist, in der Stadtbücherei und 2005 vor dem „Coburger Literaturkreis“ im überfüllten Saal des „Kunstvereins“.
Man kann die Titel der Bücher gar nicht alle aufzählen, die man den Lesern empfehlen möchte, allen voran die Autobiografie „Durch die Erde ein Riss“ (1981). Bis zuletzt ist er als Schriftsteller aktiv gewesen in der Kasseler Straße 23 in Leipzig-Gohlis, wo er seit der Rückkehr von Bonn 1997 mit seiner Lebensgefährtin Linde Rotta wohnte. Noch nach seinem Tod, jetzt im Herbst, wird die Erzählung „Lieber hundertmal irren“ im Göttinger Steidl-Verlag erscheinen. In seinem Tagebuch „Man ist ja keine Achtzig mehr“ (2011) hat er minutiös beschrieben, was ihn krank macht und wie er damit umgeht. Was ihn zermürbt hat, war einmal der ewige Streit mit der Stadt Leipzig, die mit der SED-Vergangenheit unkritisch umging, und die juristischen Auseinandersetzungen mit seinem Sohn Thomas Loest, dem Verleger des Linden-Verlags, wo es um Buchrechte ging. Erich Loest verlor jeden Prozess und musste zahlen.
Wer in zwei, drei Jahrzehnten sich für den DDR-Alltag interessieren sollte, der wird nicht umhin können, zu Erzählungen und Romanen Erich Loests zu greifen.

Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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