Sehr hart urteilt Karl Popper über unsere westlich – abendländische Erziehung. Als korrupt, und zwar intellektuell und sittlich, diagnostiziert er die westlich-abendländische Bildung. Diese Korruption hat nach Karl Popper einen klar und eindeutig zu benennenden Grund. Verursacht ist diese Korruption durch das Aussetzen, Nichtanwenden, Verweigern von Kritik, in dem was wir sagen und tun. „Und in der Tat – unsere intellektuelle wie auch unsere sittliche Erziehung ist korrupt. Sie ist verdorben durch die Bewunderung der Brillanz, durch die Bewunderung der Weise, in der Dinge gesagt werden, die an die Stelle einer kritischen Betrachtung des Gesagten (und des Getanen) tritt. Sie ist verdorben durch die romantische Idee des Glanzes auf der Bühne der Geschichte, auf der wir alle Schauspieler sind. Wir sind dazu erzogen, bei allen unseren Handlungen die Galerie im Auge zu behalten.“[1] Die Prägung und Fixierung auf und „durch die Bewunderung der Brillanz“ bringt uns Anpassung an die Faszination dessen, was sich im „man“ Gewinn bringend zur Pose darstellen kann. Die „romantische Idee des Glanzes“ verdirbt uns innen und außen. Wir können, ja müssen, in allem, was wir denken, tun und handeln, „die Galerie im Auge…behalten“. Die Idee des Glanzes ideologisiert unser Dasein. Sie ist eingenistet in das, was wir tun, denken, erreichen. In fruchtbarer Evidenz bestimmt sie die Alltäglichkeit. Die „Bühne der Geschichte, auf der wir alle Schauspieler sind“, lebt von der Ideologie des Glanzes. Immer, wann und wo, wie und was, klein oder groß – immer gilt es, die Galerie im Auge zu behalten.
So aber gedeiht der Verfall. Indem sich die bewunderte Brillanz durchsetzt, sich verherrlicht, glorifiziert, verlieren sich Konturen des Menschlichen. Menschliches gedeiht nicht durch die und in der (blinden) Faszination der Idee des Glanzes. Nein, diese Idee ist hier Verderben bringend. An ihr orientiert sind wir ideologisch irregeleitet. Wie aber können wir ausziehen aus der Leben und Denken zerstörenden Bewunderung der Brillanz? Es gilt: „Der kritische Weg ist allein noch offen.“[2]
Aber ist das nicht das perennierend neuzeitliche Geschäft, kritisch die Wege zur Wirklichkeit zu beschreiten? Hat nicht Theodor W. Adorno recht, wenn er sagt, daß „wenig übertreibt, wer den neuzeitlichen Begriff der Vernunft mit Kritik gleichsetzt“[3]? Sind nicht bei aller Inkompatibilität kritische Theorien so etwas wie eine Art Koinzidenzpunkt, zumindest neuzeitlichen wissenschaftlichen Erkennens und Gestaltens? Ist nicht insbesondere philosophisches und naturwissenschaftliches Erkennen idealtypisch als solches von der Basis kritischer Theorien aus zu sehen? Hat nicht die Kritik ihren Siegeszug als Fundamentalkategorie neuzeitlicher Wissenschaft und Lebenstheorie erfolgreich angetreten, ja verwirklicht? Versteht sich nicht der neuzeitlich Gebildete essentiell als kritischer Mensch par excellance? – Sicherlich ist man geneigt, diese Fragen zunächst positiv zu beantworten. Neuzeitliches Denken und Gestalten ist in der Tat wesentlich von kritischem Herangehen und kritischer Interpretation geprägt. Aber diese Antwort ist zu generalisierend, zu oberflächlich, ungenau, insuffizient. (Das gilt auch dann, wenn wir im Pathos eigener Suffizienz unser kritischen Existenz zur Schau stellen wollen, hier aber eher verdrängen, nicht genau hinsehen, eher unkritisch bleiben gegenüber unseren eigenen Existenzvollzügen.) Wir haben das Potential der Kritik wesentlich instrumental eingesetzt. Kritische Theorien in Philosophie und Wissenschaft sind für uns der adäquate Ort von Kritik. Wir haben in Wissenschaft und Gesellschaft durch sozusagen gänzliche Instrumentalisierung Kritik enggeführt. Indem wir Kritik ausschließlich instrumentalisierten und eng verzweckten, haben wir sie selbst beschnitten und auch als Mittel instrumental gefangengesetzt. In dieser Gefangenschaft verzehrt sich dieselbe und ist dazu verurteilt, in (oft) partikulärer Perfektion, sich kritizistisch mattzusetzen. Wo sich die Instrumentalisierung nicht unmittelbar oder doch zumindest mittelbar auszahlt, verliert sich das Kritikpotential. Die kritische „Schau“ verliert das Feld an die „Bewunderung der Brillanz“. Das aber ist Welt und Leben gefährdend. Immer mehr beherrscht die „Idee des Glanzes“ das Feld. Damit gerät aber selbst die instrumentalisierte Kritik in effiziente Gefahr.
Kritik bedarf des Fundamentalen. Sie kann auch nur recht effizient werden, wenn sie des fundamentalen Horizontes nicht entbehrt. Es gilt, dieses Fundamentale, was wir im Begriff sind zu verlieren, wieder zu entdecken. Hilfreich ist hier die Erinnerung an kritische Traditionen. So ist es sicherlich gut, sich der alten Differenz zu erinnern, die dem Allgemein-Gebildeten Kritik zuschreibt und nur begrenzt dem „Wissenschaftler, dessen Urteil auf ein bestimmtes Gebiet, in welchem er sachverständig begrenzt ist“[4]. Aristoteles sagt: „Der allseitig Gebildete ist nach unserem Urteil sozusagen ein Kritiker über alle.[5] Kritik erschließt sich dem allseitig Gebildeten. Kritik darf nicht reduziert werden zum Kriterium sachlich urteilender Wissenschaft. Das gilt es auch neuzeitlich (modern und nachmodern) zu beachten. Essentiell bedarf Kritik des allseitig Gebildeten, ebenso aber des begrenzten Kritikpotential sachlich urteilender Wissenschaft.
Aristoteles[6] siedelt Kritik im Bereich des Handelns (praxis) und Hervorbringens (poiesis und techne) an. Ort der Kritik ist für Aristoteles nicht im Bereich der theoretischen Wissenschaften (theoria), also der Physik, Mathematik und Theologie (Erste Philosophie, Metaphysik), denn diese betrachten das, was ist. Nicht das Betrachten des Für-sich-selbst-Seins der Dinge ist Ort der Kritik, sondern nur die vom menschlichen Handeln abhängigen Dingen, wo Differenz zwischen Sein und Sollen ist, sind der Ort der Kritik. „Ihre Aufgabe verwirklicht Kritik in der Entscheidung oder Wahl als `Prüfen des Ethos'[7], als Verständigkeit und Unterscheidung, die als `richtige Beurteilung des Billigen' von der sittlichen Einsicht oder Klugheit geleitet werden“[8]. – Diese aristotelische Verortung der Kritik auf das im aristotelischen Sinne Ethische, das ja in seiner Dimensionalität gegenüber der neuzeitlichen Dimensionierung des Ethischen als sehr weitreichend zu bezeichnen ist, eröffnet der Kritik Raum, der über die neuzeitlich-moderne und nachmoderne instrumentalisierte Kritik erheblich hinausreicht. Allerdings kann die moderne und nachmoderne verengte instrumentalisierte Kritik nicht hinreichend mit Hilfe der aristotelischen Verortung gerettet werden. Denn unseres Erachtens ist es notwendig, Kritik im Rahmen der im aristotelischen Sinne – und somit auch gegen Aristoteles – theoretischen Wissenschaften zu bestimmen.
Die neuzeitliche Kritikkultur west essentiell aus und in dem Protestantismus. Die Erinnerung[9] an das Kritikpotential des Protestantismus könnte hilfreich sein für das aktuale Kritikpotential. Im Folgenden will ich versuchen, auf einige – und das heißt also nicht alle – mir allerdings nicht marginale – Gesichtspunkte des protestantischen Kritikpotentials skizzenhaft hinzuweisen. Kein Referat über den Protestantismus im allgemeinen ist also nachfolgend intendiert, sondern – bewußt einseitig – eines über eine, ihm freilich wesentliche Dimension.
1. Der Protestantismus ist ein (neuzeitliches) Kritikprogramm.
Man kann den Protestantismus[10] auch als ein neuzeitliches Kritikprogramm verstehen. Dem Protestantismus eignet wesentlich eine Kritikkultur. Ohne diese verliert er sich selbst, geht er seiner Identität verlustig. Kritisches Erkennen von Gott, Mensch, Ich, Du, Gesellschaft, Welt ist dem Protestantismus so essentiell, daß sein Fundamentalprinzip (dieses ist ein kritisches) verloren ginge und er sich selbst beseitigte, verzichtete er auf kritisches Erfassen von Wirklichkeit. Unkritische Wahrnehmung derselben ist nicht nur zutiefst unprotestantisch, ja antiprotestantisch, sondern radikalste Aufhebung des protestantischen Prinzips. Kritisches Erkennen von Wirklichkeit als protestantisches Fundamentalprinzip darf nicht traditionslos und damit konfessionalistisch enggeführt werden. Wenn wir im Folgenden von protestantischer Kritik sprechen, so ist damit primär das protestantische Prinzip[11] gemeint und der Protestantismus im Sinne des protestantischen Kirchentums insoweit und dann, wenn in ihm dieses Raum gewinnt. „Das protestantische Prinzip ist die Wiederaufnahme des prophetischen Prinzips als Angriff gegen eine sich selbst verabsolutierende und infolgedessen dämonisch entartete Kirche“[12] und Welt, exakter: das kritische Erfassen von Gott, Mensch und Welt. Die biblische prophetische Kritik (Amos, Hosea, Jeremia, Johannes der Täfer etc.), das Kritikpotential der alten und mittelalterlichen Kirche (z. B. das der Bettelmönchsorden, kritischer Bewegungen innerhalb und am Rande der westlichen und östlichen Kirchen) sind Fundamentaltraditionen der protestantischen Kritik. Protestantische Kritik ist also nicht konfessionalistisch zu verstehen. Sie ist auch innerhalb der katholischen Kirche und außerhalb der Kirchen und Religionen. In der abendländischen Geistesgeschichte verdichtet und lokalisiert sich das protestantische Kritikpotential insbesondere um die reformatorische Bewegung im 16. Jahrhundert. Kritisches Erkennen von Gott und Mensch, Ich, Du, Gesellschaft, Welt ist das Thema der protestantischen Kritik, denn unkritisch gibt es für den Protestantismus kein Erfassen von Wirklichkeit, sondern (vergötzende) absolute Alienation derselben.[13]
2. Reformatorischer Protestantismus ist biblisch-theologisch fundiertes Kritikprogramm.
Das Kritikprotential des reformatorischen Protestantismus hat clare et destincte eine Basis, eine Quelle, aus der Protestantismus essentiell schöpft, der er sich wesentlich verdankt. Wird diese substituiert, stirbt das protestantische Kritikprogramm. Reformatorischer Protestantismus ist wesentlich biblisch-theologisch fundiertes Kritikprogramm. Das „Sola Scriptura“, das „Allein die Schrift“ ist das Fundament protestantischer Kritik. Die Orientierung auf das biblische Evangelium ermöglicht dem Protestantismus den kritischen Protest. Denn es gilt: „Evangelium und Protest gehören zusammen.“ 14 Carl Friedrich von Weizsäcker nennt das Evangelium das „revolutionärste Dokument der menschlichen Geschichte, dessen Wahrheit dem Bewußtsein der Bürger unserer modernen Welt langsam entgleitet.“[15] Zurecht sagt Gustav Adolf Benrath[16]: „Die Lebenskraft des Protestantismus…beruht auf dem Zusammenhang des Protestes mit dem Evangelium: So wie damals in der Protestation von Speyer, so gehören Protest und Evangelium zusammen. Nur auf der Grundlage des Evangelium wird der Protestantismus immer wieder kritische und gestaltende Kraft gewinnen.“ Die kritische dynamis (= Kraft, Macht, Wirksamkeit, Vermögen) des Wortes Gottes befähigt den Protestantismus zum kritischen Erfassen, von dem, was ist. Ihr Lied singt der Protestantismus. „Das Wort sie sollen lassen stahn“ heißt es darum in der protestantischen „Marseillaise“ Ein feste Burg ist unser Gott“. Gegründet zu sein auf die kritische Kraft des Wortes Gottes – darauf kommt es an. Denn nach dem Hebräerbrief (4,12) ist der Logos tou theou ( das Wort Gottes) kritikos, d.h. mit der Fähigkeit scharf zu scheiden und zu urteilen ausgestattetüber das, was den Menschen und alle Kreatur ausmacht, das, was bis in seine Mitte (Herz) und Intentionen hinein den Menschen (auch epistemologisch und ethisch) bewegt: „Denn das Wort Gottes ist lebendig (vivus) und kräftig (efficax) und schärfer (penetrabilior)denn ein zweischneidig Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist (pertingens usque ad divisionem animae ac spiritus), auch Mark und Bein, und ist ein Richter (kritikos) der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keine Kreatur ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß (nuda) und aufgedeckt (aperta) vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft (Logos) geben müssen.“ Unterscheidung, Kritik ist Geistesgabe (Charisma) nach 1. Korinther 12,10 (diakriseis pneumaton)[17]. Als Gabe des Geistes Gottes gilt die urteilende Kritik der Auferbauung (oikodome) der Gemeinde.
Der Logos tou kritikos, das kritische Wort Gottes erfordert kritisches Verstehen der Heiligen Schrift. Dem korreliert eine kritische Hermeneutik der biblischen Schriften im Protestantismus. Diese protestantische kritische biblische Hermeneutik kann, nein: muß näher als kritische christologische Hermeneutik der Heiligen Schrift verstanden werden. Von Christus als dem „punctus mathematicus sacrae scripturae“[18] wird kritisch die Schrift verstanden. Unkritische Hermeneutik bedeutet Eliminierung des Grundes, Verleugnung Christi.
Rechte Theologie ist nach Martin Luther Kreuzestheologie (theologia crucis). Für sie gilt: „Crux probat omnia.“[19]Als Kreuzestheologie ist Theologie fundamental kritische Theorie, denn der Kreuzestheologe als der durch das Kreuz Christi kritische Theologe „sagt, was Sache ist“, wie die Dinge wirklich sind, während der unkritische „aufgeblasene“ durch seine eigene Werkgerechtigkeit blinde urteilslose „Theologe der Herrlichkeit“, aufgeladen durch die Glorie der eigenen Werke beim eigenen Ruhm bleibend, die Dinge nicht richtig sehen kann, sondern sie in Verderben bringender Alienation verfehlt.[20] Die kritische Kreuzestheologie und nicht die dem eigenen Leistungswerk verfallene unkritische theologia gloriae ermöglicht Wege und Horizonte wirklicher Gottes- und Welterkenntnis. Unkritische Theologie erledigt sich selbst. Sie ist obsolet. Sie hat ihren „Salz-Charakter“ verloren und ist damit gänzlich ohne Nutzen: „Das Salz ist ein gutes Ding; wenn aber das Salz kraftlos wird, womit wird man's würzen? Es ist weder auf das Land noch in den Mist nütze, sondern man wird's wegwerfen.“ (Lukas 14,34f.)
Luthers zentraler theologischer Hauptartikel von der „Gerechtigkeit Gottes“, seine paulinisch orientierte Rechtfertigungslehre, von der er aus Theologie überhaupt betreibt, substantiiert authentische Theologie als axiomatisch theologisches Kritikon. Sein radikales theologisches Verständnis der iustia dei ermöglicht gleichsam unerschöpfliches Kritikpotential. So kommt es zum kritischen und damit realistischen Verstehen des Menschen und seiner Welt. Der Mensch wird in der Perspektive der lutherischen Rechtfertigungslehre dialektisch definiert als „gerecht und sündig zugleich“.[21] Dieses dialektische Verstehen des Menschen und seiner Welt involviert kritischen Zugang zur Wirklichkeit. Es entlarvt absolute Negation und absolute Optimierung des Mensch- und Weltseins als irreales, unkritisches Verstehen von Weltwirklichkeit. Der vor Gott sich beugende Mensch geht den aufrechten kritischen Gang in der Menschenwelt.[22]
3. Kritik der Religion und kritischer Gottesbegriff
Der homo religiosus als der homo carnis[23] ist der (mit allem was er will hat und kann) sich selbst als absolutes Telos begreifende und konstruierende Mensch. Seine Verderbtheit, seine „tota perversitas“ besteht nach Luther darin, daß er „sich selbst gefallen (sibi placere) und sich selbst genießen (fruique seipso) in seinen Werken (in operibus suis) und sich als Götze anbeten (seque idolum adorare)“ will.[24] Der religiöse Mensch als der fleischlich orientierte ist in seinem Willen (voluntas) und in seinen Begierden (concupiscentia) danach ausgerichtet, daß er sich selbst genießen will und auch die Anderen und seine Götter entsprechend gebraucht. Er sucht in allem sich selbst und das Seine. So macht er sich selbst zum finalen Objekt und Götzen. Alles, was der homo religiosus wagt, denkt, handelt, erleidet, dient diesem finalen Zweck. Die ethischen Maßstäbe in bezug auf Gut und Böse werden diesem untergeordnet, von diesem aus definiert.[25] Durch seine fundamental kritische Theorie der Gerechtigkeit Gottes gelingt es dem Protestantismus, den „fleischlichen“ homo religiosus, den homo carnis mit seinem meritorischen Leistungsfetischismus kritisch urteilend als den zu entlarven der er ist, nämlich das alles in sich drehende und beugende sich selbst idolatorische absolutsetzende Ich. Das ist der sündige Mensch, der homo incurvatus in se ipsum.[26]
Die protestantische Fundamentalgründung auf die Gerechtigkeit Gottes enthält die Fundamentalkritik aller frommen Plackereien. Der kritische Protestantismus läutet die Totenglocke des religiösen Kapitalismus. Dieser Habensmodus von Religion ist theologisch grundsätzlich durch die Reformation erledigt. Nur schlimme, Verderben bringende Restauration ist noch immer wieder sein fruchtbarer Schoß, aus dem er immer perennierend wieder herauskriecht.
Der protestantischen Religionskritik eignet ein kritischer Gottesbegriff. Die Produktion von Göttern wird durch sie kritisch aufgedeckt. Das legt Luther sehr eindrücklich in seiner Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus dar. Dort zeigt Luther, wie die profanen und frommen Götter des sich selbst absolutsetzenden homo faber von diesem (genetisch, geschichtlich, zeitlich und aktuell) produziert werden. „Worauf Du nun…Dein Herz hängst und verläßt, das ist eigentlich (= in Wahrheit) Dein Gott. …Es ist mancher, der meint er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf niemanden nichts (= etwas) gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut darauf er all sein Herz setzt, welches auch der allergemeinest (= allergewöhnlichste) Abgott ist auf Erden. …Also auch wer darauf traut und trotzt, daß er große Kunst (= Gelehrsamkeit), Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten einen Gott. Das siehst du abermals dabei, wie vermessen, sicher und stolz man ist auf solche Güter und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden oder entzogen werden.“[27]
Den Konstruktionen der Götter zum Behuf menschlicher materieller und immaterieller Habensmodi gilt das Kritikpotential protestantischer Religionskritik. Dietrich Bonhoeffers bekannte Äußerungen zur Vernutzung Gottes „als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis“ und Möglichkeiten[28], als „deus ex machina“ 29 und „Arbeitshypothese“ ratifizieren dieses: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!) Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen… . Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen – `etsi deus non daretur'. und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“[30] Aus der theologischen Perspektive ergibt sich notwendig ein kritischer Gottesbegriff, werden – wie es in einem Choral heißt – die „falschen Götzen zu Spott“. Aller Verdinglichung Gottes wird gewehrt, denn „einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“. Das Kritikpotential der Protestantismus wahrt die Differenz zwischen Gott und Mensch und deckt radikal alle divinatorischen Usurpationen des Menschen auf und entlarvt sie als Konstruktionen des Ichs und seiner Welt. „Gott“ als Absolutum des (Welt)Seienden ist nicht Gott, sondern der sich selbst absolut setzende Menschen, der sich sozusagen als Übermensch vergötzt. Theologisches Erkennen bedarf analytisch perennierend des protestantischen Kritikpotentials bei seiner Rede von Gott.
4. Das endliche Ich
„Der Mensch ist das Wesen, das weiß, daß es selbst…ein `Ich', ein einmalig besonderes und also individuelles Subjekt ist“, „daß jeder Mensch ein solches `Ich', jeder Mensch selbst Subjekt ist“. „Subjekt, ein [[yen]]Ich` zu sein,…gilt einschränkungslos von jedem Menschen…, auch für denjenigen, der es etwa aufgrund einer schweren Schädigung vermutlich nicht selbst von sich weiß.“ „Dies nun, selbst etwas zu sein, das die Würde des Menschen: die unantastbare, nur zu achtende Würde, Person zu sein.“[31] Leidenschaftliches Eintreten für Individualität ist dem reformatorischen Protestantismus fundamentales Charakteristikum.. Die unverwechselbare Originalität des Einzelnen, des Ichs ergibt sich ihm aus der personalen Gottesbeziehung des Glaubens. Der Einzelne ist hier unvertretbar. Er kann nicht durch die Masse ersetzt werden. Die Würde des Ichs verdankt sich der originären Eigenwirklichkeit des Ichs. Kollektivierungen des Ichs führen zu dessen Einengung. Qua Vermassung werden perennierend Sterben und Tod des Ichs installiert und verwirklicht. Wo die Menge, wo die Kollektivitäten von Kirche und Staat das Ich aufsaugen, das Ich vertreten und substituieren, meldet sich der protestantische Protest. Die Stärke des Protestantismus liegt in seiner kritischen Individualkultur. Die Würde des Ichs ist prinzipiell unantastbar. Es gibt keine Größe, die das Ichs vertreten könnte. Der Mensch verliert seine Essenz, wird er seines Ich beraubt, wo er zum nur kollektiven Wesen degeneriert.[32] Die Konturen des Ichs in den Existenz- und Wirklichkeitsbezügen des Menschen und seiner Welt prägend werden lassen, darin hat der Protestantismus Alltäglichkeitstradition. In der protestantischen Individualkultur stehend hat Sören Kierkegaard unüberhörbar die Bedeutung des Ichs einseitig profiliert hervorgehoben: „`Der Einzelne', das ist die christlich entscheidende Kategorie, und sie wird auch für die Zukunft des Christentums entscheidend werden. Der Einzelne, mit dieser Kategorie steht und fällt die Sache des Christentums“. Der Satz atmet und west aus dem protestantischen Individualpathos.[33] Im sich selbst bewußtwerdenden Ich alles zu erkennen und zu schauen, darin erblickt zurecht Hegel protestantisches Prinzip, wie er es z.B. auch bei Jakob Böhme findet: „Was Böhme auszeichnet…, ist das…protestantische Prinzip, die Intellektualwelt in das eigne Gemüt hereinzulegen und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war.“[34] Das Ich als der je Einzelne repräsentiert, vielmehr: ist für den Protestantismus die entscheidende Wirklichkeitskategorie. Das hat Kierkegaard auf seine existenzialphilosophische Weise ratifiziert. So leidenschaftlich und oft kompromißlos der Protestantismus auch darauf aus ist, dem Einzelnen gegenüber den Kollektivitäten Raum zu geben und das Ich aus seinen kollektiven Entfremdungen zu befreien, so gilt protestantisches Kritikpotential zugleich auch dem Ich selbst. Fundamentale Kritik an den Selbstentfremdungen des Ichs ist ein Hauptfeld protestantischer Kritik. Das in sich selbst verkrümmte (incurvatus in se ipso), das ist das sündige Ich, gebiert ständig Substantialentfremdungen. Indem das Ich alles in sich selbst hineinbeugt, ist es zerstörend für das Andere. Das Ich isoliert im Habensmodus in bezug auf das Außer-ihm-seiende. Das nichtdialogische, um mit Feuerbach zu sprechen, nicht „poröse Ich“ ist Menschen und Welt zerstörerisch. Haben und Sein, ich bin und ich habe, gehören zusammen. Protestantische Kritik gilt der Vergötzung des eigenen Ich, den Glorifizierungen des eigenen Wissens, Könnens und Handelns. Wissen, Können und Handeln des Ichs haben ihren auf das Wohl des Menschen begrenzten Ort. Hier sind sie effektiv und leistungsorientiert einzubringen. Ihre Potentialitäten sind aber nicht tauglich für das Heil der Menschen, also soteriologisch inkompetent, nicht brauchbar. Der protestantische Protest gilt der Werk-Leistungs-Verblendung: Heil zu konstruieren und zu schaffen. Er ist das Ende des soteriologischen Solls und damit die Befreiung des Menschen und seiner Handlungen zu legitimem und effizientem Welthandeln. Der superbia, dem soteriologischen Hochmut des seine Grenzen überschreitenden Ich wird so tatsächlich der Boden entzogen. Das in sich gekehrter Selbstliebe (dem amor sui) gefangene Ich wird aufgebrochen, geöffnet und befreit aus der vermaledeiten iterativen Selbigkeit.
Protestantische Kritik gilt ferner dem resignativen Ich. Das resignative Ich ist das in zersetzender Sorge um sich selbst geleitete Ich. Durch die Sorge um sich selbst teleologisch orientiert wird dieses so sich in seiner Sorge domestizierte und sich einrichtende Ich zum kritiklosen. Die Sorge um sich selbst macht das Ich blind für die eigene Existenz. Die Kritik an letzterer wird zersetzt durch die Totaldominanz der Sorge in dem durch die Sorge entfremdeten Ich. Erstickt durch die Sorge und ihre Begierden verliert das Ich den kritischen Blick auf sich selbst. Indem sich die Sorge absolut setzt, stirbt das Kritikpotential des Ichs.
Dem sich selbst absolut setzenden Ich gilt die protestantische Kritik. Dieses Ich beachtet nicht seine Endlichkeit. Dem unendlichen absoluten Ich stellt der Protestantismus den endlichen Menschen gegenüber. Denn Alles hat seine Zeit: „Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit/…abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;/ weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;/ klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit/…behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit/…schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;/ lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;/ Streit hat seine Zeit , Frieden hat seine Zeit.“ (Pred. Salomo 3,1ff). Protestantismus mahnt die Endlichkeit des Menschen an. „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ singt die christliche Gemeinde. Das Nein gilt dem Verdrängen der Endlichkeit und des Todes des Menschen. „Denn es geht den Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er.“ (Pred. 3,19). Protestantische Frömmigkeit ist auch Kultur der Endlichkeit (vgl. den hohen Stellenwert von Karfreitag, Totensonntag, Bußtage). Die Endlichkeit des In-der-Welt-Seienden ist diesem nicht nur tangential, sondern wesentlich. Sie ist bestimmend für dieses.[35]
5. Kritische Vernunft
Seit Luther ist die aufgeklärte Vernunft und Mündigkeit irreversibel geltend.[36] Und in der Tat Luther hat der Vernunft in bezug auf das In-der-Welt-seiende höchste Stellung zu erkannt: „Es ist gewiß wahr (sane verum), daß die ratio von allen Dingen das Haupt (caput) und gegenüber den übrigen Dingen dieses Lebens das Beste (optimum) und gleichsam etwas Göttliches (divinam quiddam) ist. Sie ist die Erfinderin (inventrix) und Lenkerin (gubernatrix) aller Wissenschaften (omnium Artium), der Medizin, des Rechts und in Bezug auf das, was in diesem Leben an Weisheit (sapientia), Vermögen (potentia), Kraft (virtus) und Herrlichkeit (gloria) von den Menschen besessen wird (possidetur). Von daher muß sie mit Recht die differentia essentialis genannt werden, durch die der Mensch konstituiert wird (constituatur homo), unterschieden (differre) von den anderen Lebewesen (ab animalibus) und Dingen (rebus). So hat sie auch die Heilige Schrift als Herrin (domina) über die Erde eingesetzt (constituit).“[37] Freisetzung der weltlichen Vernunft, als profane effiziente Rationalität in der Gesellschaft – das ist hier reformatorisch im Visier. Profane Vernunft gilt als domina in den Weltbezügen. Der denkende, der die Vernunft gebrauchende Mensch ist das Subjekt der Weltverantwortung. Die ratio evidens[38], die klare, einleuchtende Vernunft, dient als Konstitutivum des Menschseins , als nur dem Menschen eignendes Vermögen fundamental der menschlichen weltlichen Lebensgestaltung. Als „Lenkerin aller Wissenschaften“ ist die Vernunft darauf aus, effizient gut menschliches Leben zu orientieren, ordnen und zu gestalten.[39] Legitimer Ort der Vernunft, der actio rationis ist exklusiv die profane Welt des Menschen.[40] Kritischer Protestantismus achtet streng darauf, daß Vernunft weltliche und damit endliche Vernunft bleibt, darauf daß, die Vernunft nicht zur soteriologischen „Hure“[41] wird. Entweltlicht wird die Vernunft durch den entfremdeten, alles in sich beugenden, d.h. sündigen Menschen. Dieser vergißt die Endlichkeit der Vernunft, verliert ihren Ort, in dem er sie losreißt von ihrem Weltbezug. Die Disrelation und damit verbunden die (hohlen) Eigenmächtigkeiten und Selbstherrlichkeiten der alienierten, der entgrenzten Vernunft entfremden die Vernunft ihres Fundamentalortes Welt, denn es gilt: Ratio „non potest ad invisibila se transferre.“[42] Die ihrer Weltlichkeit entfremdete, die ihre Grenze verlierende Vernunft ist die sich selbst metaphysisch diskreditierende Vernunft. Das hat Kant, der – wie er bekanntlich zuweilen genannt wurde – „Philosoph des Protestantismus“[43] in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ eindrücklich philosophisch demonstriert. Nur die sich ihrer Grenzen bewußte Vernunft ist kritische Vernunft. Die Philosophie als „Grenzpolizei“ habe auf das Beachten der Grenze der Vernunft zu achten. Eine die Grenzen der Vernunft nicht achtende, sondern diese verschleierende und anscheinend überschreitende Philosophie disqualifiziert sich selbst und verliert ihre Legitimität, indem sie sich in metaphysischer Entfremdung domestizierend einrichtet und sozusagen – metaphorisch gesprochen – unkritisch stirbt. Paul Tillich[44] sagt, daß protestantische Kritik als volle prophetische Kritik „die rationale Kritik enthält und zur Tiefe und zur Grenze treibt.“
Die neuzeitliche Skepsiskultur wurzelt in der protestantischen Kritik an der Vergötterung der sich selbst unkritisch anbetenden ihre Endlichkeit leugnende Vernunft. In der protestantischen Kritikkultur hat die Skepsiskultur ihre Heimat. Sozusagen idealtypisch könnte das im skeptisch-prüfenden, der Endlichkeit des Menschen fundamental korrelierenden mit seinem „Abschied vom Prinzipiellen“, dem Dogmatismus sich verweigernden philosophischen Denken Odo Marquards exemplifiziert werden. Von der suchenden Skepsis, nicht von der akademischen „spieltriebhaft unentwegt alles bezweifelnden“ Skepsis ist hier die Rede, sondern derjenigen der „tugendhafte(n) Mitte“ zwischen „dem absoluten Wissen und dem absoluten Nichtwissen“.[45] Die drei Charakteristika dieser Skepsis: 1. Gewaltenteilung[46], 2. „Usualismus“[47] und 3. „Bereitschaft zur eigenen Kontingenz“[48] atmen essentiell protestantisch kritischen Geist.
Vernunft hat teilzunehmen an der kritischen Suche nach Wahrheit und Wirklichkeit. Sie ist nicht Wahrheit und Wirklichkeit selbst, sondern unverzichtbares Instrumentarium der Suche nach ihnen. Denn diese zu entdecken, ist nun auch das, was Wissenschaft aufgegeben ist. Fundamental ist Wissenschaft auf Wahrheit, wie Gerhard Stammler sagt „aletheiokratisch“[49] verwiesen. Protestantismus beharrt unerbittlich auf der „Geltungsinvarianz der Wahrheit“, die unabhängig „von einer bestimmten Frist und einem bestimmten Ort“[50] Protestantisch ist auf der Geltungsinvarianz der Wahrheit jedermann gegenüber an jedem Ort, zu jeder Zeit zu beharren. Kritisches Anmahnen der Geltung von Wahrheit ist dem protestantischen Prinzip analytisch, d.h. ohne dieses wird es substantiell geschädigt. Stammler hat recht: „Das Wahrsein des Wahren, der Tatbestand, daß das Wahrseiende im Sinne der Wahrheit gilt, …ist unabhängig von einer bestimmten Frist.“[51] Wissenschaft hat ihrer aletheiokratischen Verwiesenheit unbedingt Folge zu leisten. Protestantismus stellt Vernunft und Wissenschaft in strenge Wahrheitszucht. Wissenschaft ist substantiell, wenn sie denn legitime Wissenschaft, d.h. dem Menschen hilfreich sein will beim Erkennen von Wirklichkeit, auf Wahrheit angewiesen, denn „Wissenschaft ist Selbstentfaltung der Wahrheit in die Mannigfaltigkeit der Ordnungsstrukturen bis in die Sachgehalte als Einzelwahrheiten, also bis in die Fülle der Erkenntnisse.“[52] Der Protestantismus insistiert streng: Auf das Bleiben in der Wahrheit kommt es an. Das ist die protestantische Perspektive, denn es gilt Johannes 8,32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Vernunft ist protestantisch immer auf Wahrheit hin unterwegsseiende Vernunft. Wo die Vernunft sich ihrer aletheiokratischen Verwiesenheit entzieht und sich in unkritischer Selbstanbetung verliert, wo sie transzendent aufgebläht, ihre Endlichkeit tötend für alles steht wird sie zur schlimmen unvernünftigen Vernunft = grenzenlosen Unvernunft.
6. Kritische Freiheit
„Erst mit Luther begann“ nach Hegel „die Freiheit des Geistes, im Kerne: und hatte diese Form sich im Kerne zu halten.“[53] Nukleare Freiheit des Geistes wird durch das Kritikpotential des Protestantismus dem Menschen gegründet eröffnet. Die Freiheit des Geistes wird dem Einzelnen, dem Subjekt vindiziert. Dem durch die soteriologisch aufgeladenen Autoritäten sich in diesen verlierenden oder zumindest nivellierten einzelnen Menschen wird durch die lutherisch reformatorische „Hauptrevolution“ Exodus „aus dem Jenseits der Autorität“, „der unendlichen Entzweiung und der greulichen Zucht“ als Artikulation des persönlichen Gottesglaubens verordnet. „Aus dem Jenseitigen wurde so der Mensch zur Präsenz des Geistes gerufen“, selbstinvolviert in die Versöhnung des Geistes.[54] Das Subjekt erhält in der Reformation seine „höchste Bewährung“ in der „religiösen Bewährung“ und zwar fundamentalkonturiert so, „daß dies Prinzip der eigenen Geistigkeit, der eigenen Selbständigkeit erkannt wird in der Beziehung…zu Gott.“[55] Das fundamentale Prinzip der Subjektivität, die Freiheit, wird nach Hegel durch die Reformation zum Konstitutionellen der Religion (gen. sub. und object.). „So ist hier das Prinzip der Subjektivität, der reinen Beziehung auf mich, die Freiheit, nicht nur anerkannt: sondern es ist schlechthin gefordert, daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion. Dies ist die höchste Bewährung des Prinzips, daß dasselbe nun vor Gott gelte, nur der Glaube des eigenen Herzens, die Überwindung des eigenen Herzens nötig sei; damit ist denn dies Prinzip der christlichen Freiheit erst aufgestellt und…zum wahrhaften Bewußtsein gebracht worden. Es ist damit ein Ort in das Innerste des Menschen gesetzt worden, auf den es allein ankommt, in dem er nur bei sich und bei Gott ist; und bei Gott ist er nur als er selbst, im Gewissen soll er zu Hause sein bei sich. Dies Hausrecht soll nicht durch andere gestört werden können; es soll niemand sich anmaßen, darin zu gelten.“[56] Konstitutiv wird durch das reformatorische Verstehen von Glauben Freiheit des Subjekts eröffnet. Die Freiheit des Einzelnen ist das punctum saliens der Freiheit in protestantischer Sicht. Diesem Raum und Geltung zu verschaffen, ist gutes traditionelles Pathos des Protestantismus. Diese protestantische Alltagskultur der Freiheit des Subjekts aus der Freiheit des Glaubens heraus gilt es, immer aktuell profiliert gesellschaftlich einzubringen.
Freiheit, so urgiert der Protestantismus, ist auch Gewissensfreiheit. Die Gewissensfreiheit des Einzelnen ist unantastbar. „Gegen das Gewissen zu handeln, ist weder sicher noch recht“, sagt Luther auf dem Reichstag zu Worms (1521) Kaiser Karl V.[57] Das Gewissen des Einzelnen ist axiologisch frei in seiner Souveränität gegenüber den weltlichen und kirchlichen Machtinstitutionen. Integeres Menschsein und integeres Gewissen korrelieren. Der homo integer kann sich nicht verabschieden von der conscientia integra. Das protestantische Kritikpotential wendet sich gegen kollektivistische Usurpationen und damit Elimination des Gewissens. Es wacht vehement darüber, daß die Freiheit des Gewissens des Einzelnen weder parallelisiert noch eliminiert wird. Die Königlichkeit des und der Respekt vor dem Gewissen des Einzeln gilt. Aber die Gewissenskultur des Protestantismus ist eine kritische. Keine Idealisierung und utopistische Meliorisierung des Gewissens ist angesagt. Es gibt das verzagte, das in Angst und Zweifel gefangene Gewissen. Wo das Ich sich dem Gewissen aussetzt, wird das anklagende Gewissen erfahren. Das Versagen des Einzelnen wird unüberhörbar im Gewissen des Einzelnen artikuliert. Ebenso verschafft sich das böse Gewissen Raum, von dem Luther sagt, daß es die Hölle sei.[58] Diese Hölle des Gewissens kann durch das in Christus getröstete Gewissen effektiv besiegt werden.[59]
Freiheit darf aber nicht als isolierte Ich-Freiheit mißverstanden, Freiheit nicht mit „Bandenlosigkeit“ (Kant) verwechselt werden. Freiheit in Gebundenheit – lautet die protestantische Definition der Freiheit. So heißt es in Luthers bekannter dialektischer Bestimmung von Freiheit in seinem Freiheitstraktat: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ 60 Calvin hat also recht, wenn er unter Hinweis auf 1. Korinther 10,23 schreibt, daß unsere Freiheit nur zu gebrauchen ist, „wenn sie einhergeht mit der Erbauung unseres Nächsten. Ohne den Nächsten kann sie sich nicht entfalten, ist sich ihrer zu enthalten.“[61] Freiheit ohne Verpflichtung ist für den Protestantismus nicht denkbar. Verpflichtende Freiheit, Freiheit in Verantwortung, das freie Ich als das personal auf andere bezogene können bei der Evaluation von Freiheit nicht übergangen werden, denn nur in dieser responsorischen Freiheit kann diese sich als wirkliche entfalten. Helmut Hild[62] ist von daher zuzustimmen, wenn er sagt: Kants Kategorischer Imperativ („Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne!“) „ist ebenso ein Ergebnis protestantischen Denkens wie der moralische Rigorismus Lessings, die preußische Pflichtenethik oder die Entscheidung Dietrich Bonhoeffers, an der Beseitigung des Tyrannen mitzuwirken.“
Leeren Freiheitsattitüden und hohlem Freiheitspathos gilt die strenge Kritik des Protestantismus. Kritisch werden sie enthüllt als Desavouierung, ja als Töten von Freiheit, als ideologische Schemen eines versklavten sich selbst fetischistisch vergötzenden Ich, eines Ichs in tiefer Unfreiheit. Kritik an materialistischen, idealistischen, positivistischen, fidestisch-fundamentalistischen etc. Engführungen und Eliminationen von Freiheit ist andauerndes notwendiges „Geschäft“ des Protestantismus.
7. Kritik der Gesellschaft
„Die moderne Welt kann weitgehend als Ergebnis einer Säkularisierung des Christentums verstanden werden.“[63] Säkularisierung ist (im Gegensatz zur ideologischen Säkularisation) ,wie insbesondere bekanntlich Friedrich Gogarten urgiert hat, legitime Folge des christlichen Glaubens. Im jüdischen und christlichen biblisch korrelierten Glauben kommt es zur Entsakralisierung der Welt, was sich schon im sogenannten priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Genesis 1-2,4) aufzeigen läßt. Gott gewollte legitime Weltlichkeit – das schleudert der Protestantismus der klerikal machtpolitisch in sich selbst gefangenen mittelalterlichen Kirche entgegen. Aufgabe der Kirche Jesu Christi ist es, daß Evangelium zu verkündigen. Es gilt das „no vi, sed verbo“. Den unerträglichen klerikalen Vormundschaften wird der Todesmarsch geblasen. Politik, Kultur, Wissenschaft werden prinzipiell aus den Fängen einer Macht vergötzenden und damit dem Evangelium entfremdetenden Kirche, die theologisch verkommen und entartet fundamental die theologia crucis verleugnet und substantial theologia gloriae ist, durch die Reformation befreit zu ihrer gottgewollten säkularen Existenz. Protestantisch angesagt ist durative Entsakralisierung des Menschen und seiner Welt. Sakralisierung der Welt ist das wirkliche Sakrileg. Die lutherische Zweireichelehre[64] mit ihrem Differenzierungpotential beseitigt die klerikale Bevormundung der weltlichen Existenz, von Staat und Gesellschaft. Das klerikal bevormundete unmündige Subjekt, der klerikal versklavte Staat, die klerikal hörige Gesellschaft sind prinzipiell an ihr -Gott sei gedankt! – unwiderrufliches Ende gekommen. Mit der lutherischen Zweireichelehre sind Theokratie, Religionisierung des Menschen und seiner Welt und weltlicher Macht überhaupt theologisch ein für alle mal erledigt. Das gleiche gilt für jegliche Metaphysierung von Staat und Gesellschaft. Kritisch werden Staat und Gesellschaft bei ihrer Profanität behaftet. Gemäß der Zweireichelehre ist es Aufgabe des Staates, effektiv Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen und dem Bösen zu wehren. Mehr vermag und soll er nicht leisten. Das „Wächteramt der Kirche“ besteht nicht darin, Staat und Gesellschaft in klerikale Abhängigkeiten zu bringen, sondern darin, auf die Weltlichkeit und Vernünftigkeit derselben zu orientieren. Indem das protestantische Prinzip jeglicher Metaphysierung des Staates grundsätzlich wehrt, ist der Protestantismus prinzipiell obrigkeitskritisch. Diese prinzipielle Obrigkeitskritik bedeutet aber keine Desavouierung des Staates und seiner Institutionen, sondern die prinzipielle Obrigkeitskritik gilt dem sich selbst absolutsetzenden, dem alles-sein-wollenden und beanspruchenden Staat. So gesehen hat der frühere Kirchenpräsident Helmut Hild recht, wenn er schreibt: „Obrigkeitshörigkeit entspricht nicht protestantischer Geisteshaltung. Daß sie sich dennoch im protestantischen Umfeld besonders kraß entwickeln konnte, gehört zu dem Widerspruch von Prinzip und Wirklichkeit“[65]. Protestantische Obrigkeitskritik äußert sich dann notwendigerweise in dem Maße, wie es zu (säkularen und religiösen) Absolutsetzungen des Staates und seiner Institutionen kommt. Den Unvernünftigkeiten in ihnen muß protestantischerseits kritisch begegnet werden. Der Wagen dieser Unvernünftigkeiten darf nicht kirchlich gut geschmiert werden, damit er seine gemeinschaftlich verderbliche Fahrt ungehindert fortsetzen kann. Hier gibt es ein protestantisches Kritikpotential. Hier ist der Protestantismus, oft noch verschärft durch Konfliktradikalisierung ein unbequemer Partner. Er hat opportunistischer Anpassung an den Zeitgeist zu widerstehen. Nicht verfrühte (d.h. Konflikte nichtaustragende, sondern verschleiernde) Versöhnung ist protestantisch gefragt, sondern die vom Evangelium sich ergebende befreiende Auseinandersetzung. „Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!/ Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben euch erwerben zu müssen!/ Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!/ Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet./ Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“[66]. Protestantische Gesellschaftskritik darf aber nicht verkommen zu individualer Institutionenphobie. Sie dient dem „Wohl“ und nicht der Destruktion der in gesellschaftlichen Institutionen lebenden Menschen. Sie „sucht“, wie es in dem oft mißbrauchten biblischen Wort heißt, tatsächlich „der Stadt Bestes“ (Jer. 29,7). Protestantisches Kritikpotential entfaltet sich auch beim Aufdecken von Schuld in bezug auf Individuum und Gesellschaft. Das wird ihm theologisch ermöglicht durch profilierte protestantische Sündenlehre. Eine Gesellschaft, die die Schuld relativiert, überspielt oder eliminiert, sie vergangenheitsorientiert, aktualistisch oder futuristisch-utopistisch verdrängt, beschädigt nicht nur das Menschsein, sondern ist eine inhumana societas. Menschliche Gemeinschaft und menschliches Individuum realisieren sich in ihrem In-der-Welt-sein nicht ohne die „Produktion“ von Schuld. In diesem Sinne sind sie „Mängelwesen“. Protestantische Kritik gilt unerbittlich der die Schuld des Menschseins parallelisierenden societates perfectae und ihrer Projektion des homo perfectus. Wo der „Fehl“ von menschlicher Gesellschaft und menschlichen Individuum nicht anerkannt wird, sondern illusionär die Wirklichkeit verdrängend der in seinem Weltsein auch schuldige Mensch dem Konstrukt nicht-schuldiger Mensch geopfert und damit der illusionäre „Übermensch“ bestimmend wird, kommt es oft zu terroristischen Destruktionen des Menschen und seiner Welt. Scheitern, Verstrickungen, immer neue und alte Konstruktionen des Absurden sind realistisch zu diagnostizieren und zu verorten. Das Kreuz der Wirklichkeit, der immer neue alte Adam prägen nun einmal menschliche Gesellschaft. Ihnen auszuweichen, sie zu bagatellisieren und zu verkennen, läßt protestantische Kritik nicht zu. Sie mahnt, realistisch mit der Schuld um zu gehen, individual und gesellschaftlich; wenn auch auf dem Individualen der protestantische Schwerpunkt liegt.
8. Kirchen- und Selbstkritik
Protestantisches Kirchenverständnis ist essentiell kritisch. Kirche ist Kirche, wenn sich in ihr das Kritikpotential des Glaubens gestaltend darstellt. Reformatorisch ist Kirche nur dann Kirche, wenn ihr gegenüber sich Kritik artikuliert, denn die Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie ständig kritisch reformiert wird: „Ecclesia semper reformanda est“. Sacrosanta ecclesia ist protestantisch gesehen eine contradictio in adiecto. Opportunistische unkritische Anpassungen an die Kirche als Institution widersprechen dem protestantischen Prinzip. Auch hier geht es richtig verstanden nicht um das Infragestellen der Kirche als Institution überhaupt, sondern um die Kritik an der Absolutsetzung von Institution zum Schaden des Subjekts. Der frühere Kirchenpräsident der Evangelische Kirche von Hessen/Nassau Helmut Hild hat recht, wenn er schreibt: „Der Protestantismus ist .. kirchenkritisch, insofern er der in der kirchlichen Institution naheliegenden Versuchung, sich als totalitäre Religionshüterin zu verstehen, entgegentritt. Solange das protestantische Prinzip in der Kirche wirkt, wird sich die Kirche selbstkritisch erneuern können.“[67] Das Kritikpotential des Protestantismus trifft den Protestantismus selbst. Keine pfäffische, pharisäische Kritik, die den anderen, die und das andere trifft, das eigene aber verschont, ist protestantische Kritik. Nein, es muß heißen: Tua res agitur. Unerbittlich ist der Protestantismus seinem kritischen Potential selbst ausgeliefert. Das eigene Versagen und die eigene Schuld in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (sic!) ist realistisch zu benennen, so auch die opportunistischen Anpassungen an die Obrigkeiten[68] und ihre Herrschaftsinstrumente mittels einer falschverstandenen Zweireichelehre[69]. Die unkritischen frommen Vermarktungen und Fetischisierungen des eigenen Ichs, der eigenen Freiheit, der eigenen Vernunft, die üblen Vernutzungen der Gesellschaft etc. sind in foro dei et hominis deutlich gemäß der aletheiokratischen Verwiesenheit aufzudecken. Der Widerspruch zwischen protestantischen Prinzip und Wirklichkeit ist in seinen harten Brüchen unkaschiert erkennbar werden zu lassen. Der perennierende Verrat des kritischen Glaubenspotential ist nüchtern zu diagnostizieren und qua Metanoia kathartisch ihm zu begegnen. Der Protestantismus bedarf der dauernden Artikulation des kritischen Glaubenspotentiales. So ist und bleibt für den Protestantismus wesentlich der kritische Zu- und Umgang in Bezug auf die Wirklichkeiten des Menschen und seiner Welt. Diese Kritikkultur des Protestantismus eröffnet perennierend Horizonte.
[1] Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, München 19754, 341.
[2] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 856.
[3] Theodor W. Adorno, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/Main 1971, 11, zitiert nach Claus von Bormann, Kritik, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, herausgegeben von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild, Studienausgabe Bd. 3, München 1973, 807-823, hier: 808.
[4] Cl. von Bormann, a.a.O., 807.
[5] Aristoteles, De part. an. I 1, 639a 6ff., zit. Cl. von Bormann, a.a.O., 807.
[6] Vgl. Udo Kern, Zum Charisma der Rationalität, in: Theol. Lit.ztg. 112 (1987) 865-882, hier: 867f. Vgl. Cl. von Bormann, a.a.O., 812f, der aber nicht präzise das aristotelische Material einbringt.
[7] Aristoteles, Nik. Eth. 1111 b 6.
[8] Nik. Eth. VI 11f., bes. 1143 a 8-10 u. 23.
[9] Für Plato ist bekanntlich Erinnerung philosophisch fundamental. „Aanamnesis, Wiedererinnerung, Schlüsselbegriff der Platonischen Philosophie, eingeführt im `Menon'…, wird für Platon dadurch fundamental, daß er sie als ermöglichenden Grund formeller `vernünftiger' Erkenntnis überhaupt auslegt, sie…als Konstitutionsproblem der Vernunft thematisiert.“ (Johannes Baptist Metz, Erinnerung, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe [[vgl.. oben Anm. 3], Bd. 2, 386-396, hier: 387).
10] Der Name Protestantismus geht zurück auf die „Protestation“ sechs evangelischer Fürsten und vierzehn oberdeutscher Städten am 19.4.1529 gegen die Aufhebung des Speyrer Abschieds von 1526 (Jeder Reichstand verfahre bezüglich des Wormser Edikts [1521: Reichsacht über Luther und Anhänger] so „wie er das gegen Gott und kaiserliche Majestät hoffe und vertraue zu verantworten“. Die evangelischen Stände sahen in diesem Reichtagsabschied, der „tatsächlich nur eine neue Vertagung der Ausführung des Wormser Edikts“ bedeutete, „die rechtliche Grundlage zu kirchlichen Reformen in ihren Territorien“.[Karl Heussi, Kompedium der Kirchengeschichte, Berlin 195811, 302] ). „Von seinem Ursprung in der Protestation von Speyer entfernt und von seiner…reichsrechtlichen Verwendung gelöst, gewannen…die Worte `Protestanten' und `protestantisch' im westeuropäischen, insbesondere im angelsächsischen Raum einen weiteren, umfassenden Sinn. Als `Protestanten' bezeichnete man hier im 17. Jahrhundert die Glieder aller christlichen Gemeinschaften in Europa, die aus der Reformation hervorgegangen waren und die der bleibende Gegensatz gegen die römische Kirche vereinte; in diesem Sinn sprach das englische Parlament gelegentlich von `all the Protestant Churches in Christendom' (1629). Auf demselben angelsächsischen Boden und mit derselben antirömischen Blickrichtung wurde…auch der abstrakte Begriff `Protestantism' (John Milton, 1649) geprägt und verwendet.“ (Gustav A. Benrath, Protest, Protestation, Protestantismus, in: Gustav A. Benrath, Roman. Roessler, Helmut Hild [Hgg.], Der Protestantismus als kritische Kraft, Göttingen 1979, 7-26, hier: 20).
[11] Der Begriff verwandten bekanntlich auch Hegel (Vorl.ü.d.Gesch.d.Phil., 3.Bd., 223) und Paul Tillich.
[12] Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 19562, 264.
[13] Auch Goethe hat auf seine Weise um das kritische Protestpotential des Protestantismus gewußt. Zum 300. Reformationsjubiläum 1817 dichtete er: „Auch ich soll Gott gegebene Kraft/ nicht ungenutzt verlieren/ und will in Kunst und Wissenschaft/ wie immer protestieren.“ (Zitiert bei Benrath, a.a.O., 23)
14 Gustav Adolf Benrath, a.a.O., 9.
[15] Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, I, 1966, 184.
[16] A.a.O., 25.
[17] Vgl. U. Kern, a.a.O., 867 und 872.
[18] Luther, WA Tr 2, 439,25f.
[19] AWA 2, 325,1 ( = WA 5,179,31), „was sowohl `das Kreuz stellt alles auf die Probe' wie das Kreuz bewährt alles' heißt.“ (Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang,, Göttingen 1995, 52)
[20] Martin Luther, Studienausgabe (StA), hg. v. Hans-Ulrich Delius, Berlin 1979ff., Bd. 1, 208: „Theologus gloriae dicit, Malum bonum, (et) bonum malum, Theologus crucis dicit, id quod res est.“ Vgl. die sich an diese 21. These der Heidelberger Disputation von 1518 anschließende Beweisführung der These (ebenda 208f.).
[21] „…simul iustus et simul peccator, peccator scil. re vera, sed iustus ex fide promissionis et spe implecionis“. (WA 57, 165,12f.).
[22] Das äußert sich auch im Kritik und Protestpotential des protestantischen Chorals: „Ein feste Burg ist unser Gott ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“.
[23] „Der Mensch ist als `Fleisch' gerade auch in seiner Geistigkeit, mit seinem `Herzen', seiner Seele, `mit seinen besten und höchsten Kräften' (WA 18, 743,3; 744,7), also gerade in seinem Ethos und in seiner Frömmigkeit, als homo religiosus.“ (Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 138f.).
[24] WA 1, 358,5-7. „…omnia incurvata, ich such an Gott, an allen creaturn, quod mihi placet.“ (WA 40 II, 325,7f.).
[25] „Hec est prudentia, que dirigit carnem i.e. concupiscentiam et voluntatem propriam, que se ipso fruitur et aliis omnibus utitur, etiam iipso Deo: se in omnibus querit et sua. Hec facit hominem esse sibi ipsi obiectum finale et ultimum et idolum, propter quem ipse omnia agit, patitur, conatur, cogitat, dicit, et es losa reputat bona, que sibi bona sunt, et ea sola mala, que sibi mala“. (M. Luther, Rm. II 189,2 ed. J. Ficker, zit. Hans-Joachim Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen 1983, 81 Anm. 8).
[26] Vgl. WA 56, 304,25-29 und WA 56, 355,28-356,6.
[27] BSLK 560f.
[28] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 19556 , 210
29 Bonhoeffer, a.a.O., 242.
[30] Bonhoeffer, a.a.O., 240f.
[31] Traugott Koch, Zehn Gebote für die Freiheit. Eine kleine Ethik, Tübingen 1995, 34f.
[32] „Der Protestant weiß, daß der Mensch zwar zur Gemeinschaft berufen, aber kein kollektives Wesen ist.“ (Helmut Hild, Protestantismus – seine Verantwortung für morgen, in: Gustav A. Benrath, Roman Roessler, Helmut Hild, Der Protestantismus als kritische Kraft, Göttingen 1979, 41-60, hier: 51) Der Mensch ist nicht primär und nicht nur wie Marx in seiner bekannten 6. Feuebachthese urgiert „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“(Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, 6), sondern er ist dieses auch.
[33] „Ein Christ ist eine Person für sich selbst, er glaubt für sich selbst und sonst für niemand“. (WA 19, 648,19f.). Wir haben „in jeder für sich selbst alleine“ zu glauben. (WA 10 II, 90,21f.).
[34] G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. III, Leipzig 1971, 223.
[35] „Wenn wir von den Dingen sagen, sie sind endlich, so wird darunter verstanden, daß sie nicht nur eine Bestimmtheit haben, die Qualität nicht nur als Realität und ansichseiende Bestimmung, daß sie nicht bloß begrenzt sind, – sie haben so noch Dasein außer ihrer Grenze, – sondern daß vielmehr das Nichtsein ihre Natur, ihr Sein, ausmacht. Die endlichen Dinge sind… Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende. Das Endliche…vergeht; …das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben: die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes.“ (G. F. W. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil, Leipzig 1951, 116f.).
[36] So Hans-Martin Saß in einem Gespräch mit mir.
[37] WA 39 I, 175,9-16.
[38] Auf die ratio evidens beruft sich Luther auf dem Wormser Reichstag. (Vgl. WA 7, 838,4).
[39] Paul Althaus (a.a.O., 66) sagt zurecht, daß im Sinne Luthers die Vernunft „im `weltlichen Regiment'…allein die letzte Instanz (ist) und die Normen zum Urteilen und Entscheiden über die rechte Ordnung und Verwaltung der irdischen Dinge, in /konomie und Politik, in sich selbst (hat).“
[40] Vgl. WA 39 I, 175,18f.
[41] WA 51, 126,7ff.
[42] WA 40, III, 51,8f.
[43] Als solcher ist Kant u.a. von Julius Kaftan, Friedrich Paulsen, Heinrich Scholz und Werner Schulz bezeichnet worden. Dem näher nachzugehen ist hier nicht der Ort.
[44] Paul Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. VII, Stuttgart 1962, 36.
[45] Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 6f.
[46] „Denn der Zweifel ist ein spezieller Fall der Gewaltenteilung, auf die es dem Skeptiker generell ankommt: auf die Teilung jeder Alleingewalt in Gewalten, die Teilung der Geschichte in Geschichten, die Teilung der sozialen und ökonomischen Macht und in Mächte, die Teilung der Philosophie in Philosophien, und so fort.“ (Marquard, a.a.O.; 7).
[47] „Skepsis ist Usualismus, der Sinn für das Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der [48] „Der Skeptiker nun meint: in unserem Leben sind die Schicksalzufälle untilgbar prägend; zu ihnen gehören auch unsere [49] Gerhard Stammler, Erkenntnis und Evangelium. Grundzüge der Erkenntnistheorie als Lehre vom Sachgehalt, Göttingen 1969, 208 Anm. 20.
[50] Stammler, a.a.O., 202.
[51] Stammler, a.a.O., 202.
[52] Stammler, a.a.O.;401. Vgl. auch Udo Kern, Zum Charisma der Rationalität, in: Theol. Literaturztg. 112 (1987) 865-882, hier: 871f.
[53] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Leipzig 1971, 172.
[54] Hegel, ebd., 171.
[55] Hegel, ebd., 173.
[56] Hegel, ebd., 174f.
[57] „… cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit.“ (WA 7, 838,8).
[58] Die Hölle ist nichts anderes „als das böse Gewissen selbst (ipsa conscientia mala). Wenn der Teufel nicht das schuldverhaftete Gewissen hätte, dann wäre er im Himmel (Si Diabolus non haberet ream conscientiam, esset in coelo). Dieses aber entzündet die Flammen der Hölle und weckt die furchtbaren Matern und die Erinnyen im Herzen…Der Zorn Gottes ist die Hölle des Teufels und aller Verdammten.“ (WA 44, 617,30-35).
[59] „Conscientia vincit, ubi Christus iuvat, cum est gratia et victoria in nobis.“ (WA 39 II, 170,8f.).
60 Von der Freiheit eines Christenmenschen in: Martin Luther, Studienausgabe hg. v. Hans Ulrich Delius, Berlin 1979ff. (= StA), Bd. II, 265.
[61] Calvin, Institutio III, 19, 12: „Nihil iam hac regula (sc. 1. Korinther 10,23) expeditius, quam utendum libertate nostra, si in proiximi nostri aedifcationem cedat: sin ita proximo non epediat, ea tunc abstinendum.“
[62] Helmut Hild, Protestantismus – seine Verantwortung für morgen, in: Gustav A. Benrath, Roman. Roessler, Helmut Hild [Hgg.], Der Protestantismus als kritische Kraft, Göttingen 1979, 41-60, hier: 53f.
[63] Carl Frd. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, I, 1966, 2.A., 178.
[64] Vgl. Udo Kern, Die durch Barmen definierte Zweireichelehre, in: Theolog. Zeitschr. hg. v. d. Theol. Fak. d. Uni. Basel 42 (1986) 237-254.
[65] H. Hild, a.a.O., 52.
[66] Dieses Gedicht von Günther Eich ist zitiert bei Roman Roessler, Protestanten – ihre Aufgabe heute, in: G. A. Benraht, R. Roessler, H. Hild, a.a.O.;27-40, hier: 37.
[67] H. Hild, a.a.O., 52.
[68] Das wird in der bekannten Stuttgarter Schulderklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 19.10.1945 klar bekannt: „…wir klagen uns an, daß wir (sc. in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft) nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
[69] Vgl. Günter Jacob, Weltwirklichkeit und Christusglaube. Wider eine falsche Zweireichelehre, Stuttgart 1977.
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