Junge Menschen jüdischen Glaubens waren ein Teil der Jugendbewegung. Diese Weltsicht hatte unter ihnen noch weit stärkeren Rückhalt hatte als unter ihren nicht-jüdischen Altersgenossen – und alles bereits ab dem späten 19. Jahrhundert! Diese reformorientierte Gruppenbildung unter jüdischen Jugendlichen wird in einem aktuellem Sammelband aus dem renommierten Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin und Leipzig, jetzt gründlich untersucht.
„Wissenschaftlich“, so steht es in der Einleitung dieses Bandes, „erweist sich die Geschichte der jüdischen Jugendbewegungen als prägnanter und zugleich ambivalenter Ausdruck des Modernisierungsprozesses mitteleuropäischer Gesellschaften“. Dieser komplexe Satz zeigt sehr korrekt auf, was die Leserschaft hier erwartet. Was ein wenig nach einer Art Parallelwelt klingt, war sehr konkret, sehr handfest. So ist es diesem aktuellen Band klar zu entnehmen.
Die jüdische Jugendbewegung war Teil einer völlig neuen, weitgespannten, gesamtgesellschaftlichen Generation von Reformern, die über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinausging. Einerseits war in ihr das sozialistische Gedankengut weitverbreitet. Andererseits stand sie gegen antisemitische Töne, die in der übrigen Jugendbewegung durchaus auch zu hören waren. Moshe Zimmermann weist dezidiert drauf hin, dass die jüdischen Mitglieder aus dem Wandervogel ausgestoßen wurden und dass dies ein Gründungsimpuls für eine eigene, speziell jüdische Jugendbewegung gewesen ist. Ein ähnlicher Impuls war eine Generation zuvor – ab 1879 und verstärkt ab 1883 – im akademischen Bereich erfolgt. Die älteste jüdische Studentenverbindung, die A.V. Kadimah Wien, wurde 1881 gegründet. Sehr bald folgten an Gründungen jüdischer Studentenverbindungen an fast allen Universitäten Mitteleuropas. Das ist gut belegt, weil sie Schriftstücke und Memorabilia hinterließen. Und so, wie das dort zu sehen ist, war es wohl auch unter den den jungen Jüdinnen und Juden im mittleren und östlichen Europa, die nicht studierten.
Von einer ganzen jungen jüdischen Generation wird in diesem Band berichtet. Sozialistisch oder deutschnational, jüdisch-integrativ oder strikt zionistisch – die Reformbestrebungen hatten erstaunlich viele unterschiedliche Gesichter. Das weltanschauliche Spektrum dieser Bewegung nennt Moshe Zimmermann „ausgesprochen breit“, es teilte sich vor allem in eine national-jüdische – also zionistische – und eine assimilatorische Richtung. Die Berührungspunkte zwischen angehenden Akademikern und anderen Gruppen der Jugendbewegung waren dabei unterschiedlich stark, aber immer vorhanden. Denn auch die jüdischen Korporationen teilten sich sehr strikt in „nationale“ und „zionistische“ Verbindungen, zwischen denen die Verständigung oft nur mühsam und manchmal gar nicht möglich war. Genauso war es zunächst auch in der jüdischen Jugendbewegung, die etwas jünger anzusiedeln ist; von „Heranwachsenden“ spricht Barbara Stambolis. Ihre Trennlinie verlief aber ab dem Ersten Weltkrieg, eher zwischen bürgerlichen und sozialistischen Gruppen, wie Moshe Zimmermann anmerkt.
Das Aufkommen des Nationalsozialismus bewirkte, dass alle miteinander klar und ausschließlich zionistisch tendierten. Im diesem höchst informativen Band wird quasi eine Gesellschaftsgeschichte der Reformbewegungen entwickelt. Fast schon tragisch ist es, dass die kulturellen Wurzeln der Jugendbewegung dann in Erez Israel kaum noch sichtbar waren. Jasch Nemtsov greift diesen Aspekt auf, indem er auf das Verschwinden der Lieder, der Tänze, der Musik allgemein eingeht. Ein enormer Kulturverlust ist hier zu beklagen, aber die Parallele findet sich bei Pfadfindern und im Wandervogel, wo das Liedgut auch im Mutterland der Jugendbewegung, also in Mitteluropa, zwar rudimentär noch beherrscht wird, vom gewesenen Reichtum aber keine Rede sein kann. An die Stelle der Musik trat die Tatkraft, die Umsetzung des von Max Nordau geforderten „Muskeljudentums“ – Ulrike Pilarczyk steuert in diesem Band einen Beitrag über die Bilder zu dieser entwicklung bei.
Interessant sind die bereits 1985 erschienenen Ausführungen Gert Mattenklotts, in denen – völlig korrekt – Theodor Herzls Wirken als Vater des Zionismus in seiner großen Bedeutung gewürdigt wird. Natürlich blieb es nicht dabei, sondern die Konzepte veränderten sich, doch Mattenklott kann diese Veränderung nicht komplett erfassen, denn ein Desiderat bleibt: Er lässt die jüdischen Korporationen völlig unberücksichtigt. Dabei hatten diese Verbindungen, von denen es zehn in Berlin, vierzehn in Wien und sogar 20 in Prag gab, bereits ab 1896, ab der Veröffentlichung von Theodor Herzls Buch „Der Judenstaat“, die als Initialzündung des politischen Zionismus gelten kann, eine große Bedeutung. Mattenklott lehrte in Marburg, wo der akademische Sozialismus die Oberhand hat. Dass er die jüdischen Verbindungen nicht in ihrer Bedeutung erkennen konnte, mag am spiritus loci liegen.
Die Jugendbewegung entstand, folgt man Jacob Snir, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In seinem Beitrag zur eher im östlichen Europa aktiven, sozialistisch und sogar teils kommunistisch ausgerichteten jüdischen Gruppe „Haschomer Haziar“ stellt er deren Wirksamkeit für den polnischen und galizischen Raum schon damals fest. Ab etwa 1900 ist eine bürgerlich fundierte Jugendbewegung auch für Mitteleuropa fassbar, und sie sollte das 20. Jahrhundert prägen. Die jüdische Jugendbewegung war ein – ebenfalls prägender – Teil hiervon, und durch den Antisemitismus, der in Gesamteuropa – wenn auch unter verschiedenen Fahnen – immer weiter wuchs, wurde sie zur Eigenständigkeit gezwungen. So war es nur logisch, dass ihre unterschiedlichen Gruppen, durch äußeren Druck im Zionismus vereint, auch die Alijah nachhaltig prägte, obwohl die kulturellen Wurzeln äußerlich weitgehend verschwanden. Auch für dieses Phänomen liefert Jacob Snir einen wichtgen Hinweis: Ab 1948, ab der Gründung des Staates Israel, war keine Zeit mehr für Lagerfeuerromantik. Es war die Zeit für den jungen Staat Israel, im Krieg um sein Überleben zu kämpfen. Korrespondierend dazu sei der Beitrag von Hans Jacob Ginsburg über den Betar, eine eher rechtsgerichtete, jedenfalls äußerst militärisch geprägte Organisation – höchst interessant, aber für die Geschichte der jüdischen Jugendbewegung ein Randthema, zumindest aus mitteleuropäischem Blickwinkel.
Durchaus auch weiblich geprägt war die jüdische Jugendbewegung, und in diesem band kommt dieser Aspekt nicht zu kurz. Lieven Wölk untersucht die Haltung und die Attitüde der weiblichen Mitglieder des „Schwarzen Fähnleins“, die es durchaus gab. Selbstbewußte und emanzipierte junge Frauen, jüdisch-jugendbewegt, sprechen aus den Quellen, die er untersucht. Der aufkommende Nationalsozialismus drängte auch sie in die Richtung des Zionismus, die – so sind die Quellen wohl zu deuten – ihrem Selbstverständnis eher nicht entsprach, weswegen sie auch in einer Distanz zur derlei erzwungene Zuschreibung verblieben. Korrespondierend dazu steht der Beitrag von Sabine Hering. Im Blog „Textland“ wird er wie folgt zitiert und kommentiert: „Assimilierungsbestrebungen und zionistische Emanzipation kreuzten sich mannigfaltig. Ob bündisch oder zionistisch: man strebte einer ‚neuen Zeit’ entgegen. In jedem Fall wurde Härte gefordert, auch in den Mädchen- und Frauen-Gemeinschaften, die innerhalb der Verbände von ‚männlicher Hegemonie marginalisiert’ zu werden drohten. Leiterinnen jüdischer Mädelschaften postulierten einen zünftigen Rigorismus ‚auf Fahrt’“. Und all dies kam dann in Palästina, nach der Alijah, zur Anwendung.
Gut lesbar und thematisch sehr konzentriert sind Micha Brumliks Ausführungen zum nationaldeutsch-jüdischen „Vortrupp“, zu dem auch Hans-Joachim Schoeps gehörte. Brumliks Autorenname schmückt im übrigen den Band. Dies bestätigt sich auch in seinem höchst informativen Aufsatz zur jüdischen Jugendbewegung in der Bundesrepublik, den er unter den Titel stellt: „Wer je die flamme (sic!) umschritt…“ Brumlik schließt hier den Kreis vom 19. ins 21. Jahrhundert. Und ganz im 21. Jahrhundert angekommen ist er bei seinem Beitrag über die heutige, jüdisch-jugendbewegte Hashomer Hatzair, der eindeutig den Charakter einer Reportage hat. Brumliks Schlussworte gemahnen an ein dejà-ju, denn er testiert, daß diese forsch-progressive, durchaus links tendierende heutige jüdische Jugendbewegung kaum Unterstützung bei den jüdischen Gemeinden finden wird. Es ist also alles wie damals bei Theodor Herzl, der seinen Traum von einem jüdischen Staat bei den damaligen jüdischen Gemeindevorständen ebenfalls nicht unterbringen konnte. Sein erster Zionistenkongress wurde schließlich von der damaligen akademischen Avantgarde der jüdischen Jugend organisiert – von jüdischen Korporierten aus Brünn und Wien.
Ein Kompliment an Herausgeber und Verlag! Doppelt so viel gäbe es zu sagen, und so sei dieser gut gemachte Sammelband hier insgesamt zur Lektüre empfohlen. Thematisch ist er umfassend angelegt, die schwer überschaubare, höchst lebendige Vielfalt der jüdischen Jugendbewegung wird gut beleuchtet und erklärt. „Der Verlag Hentrich & Hentrich liefert wichtigen Debatten der Gegenwart Grundlagen.“ So steht es im Blog „Textland“ über das Buch zu lesen. Das trifft’s ganz gut, es ist nicht übertrieben. Ein schlichter, grundsolider Festeinband, erfreulicherweise rundgebunden, sowie eine nobel-zurückhaltende graphische Gestaltung machen den Band auch optisch und haptisch zu einer Bereicherung jeder Bibliothek.
Zentralrat der Juden in Deutschland (Hrsg.), „Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung“, Konzept und Redaktion: Doron Kiesel, Hentrich & Hentrich, Leipzig / Berlin, ISBN 978-3-95565-467-2, 24,90 Euro