Die Annäherung an eine so komplexe und vielschichtige Persönlichkeit wie die des bayerischen Königs Ludwig II. bedurfte stets einer besonderer Sensibilität, einer Feinfühligkeit, die beinah an das grenzte, was man Empathie nennt. Es waren Literaten durch die Generationen und durch die Grenzen hinweg, die versuchten einglaubwürdigeres Bild des sonst wegen seiner Extravaganzen umstrittenen Monarchen zu vermitteln, empfindsame Dichter oder Schriftsteller, die in ihm eine verwandte Seele erblickten und sich selbst in seiner sagenumwobenen Gestalt widerspiegelten. So Paul Verlaine, der ihn bereits in seinem Todesjahr in dem Sonett „A Louis de Bavière“ zum „einzigen echten König des Jahrhunderts“ (Le seul vrai roi du siècle) stigmatisierte. Oder Guillaume Apollinaire, der in der „Chanson du Mal Aimé“ (Lied des Ungeliebten) zur Entstehung des Mythos des „Mondkönigs“ (Roi Lune) beitrug, der auch durch die Anwendung und eigene Beschäftigung mit modernster Technologie wie der Elektrizität sich selbst und sein Schaffen als Gesamtkunstwerk im Wagnerschen Sinne in die Welt projizierte. In Deutschland war es vor allem Klaus Mann, der in seiner schwermütigen Novelle „Vergittertes Fenster“ die letzten Stunden von Ludwigs traurigem Abgang verewigte. Der Regen, ein für Oberbayern an manchen Sommertagen charakteristischer Dauerregen, bestimmte darin eintönig-monoton den Rhythmus der Erzählung, die zu den besten des begabten, glücklosen Schriftstellers gehörte.
Sich filmisch an Ludwig II. heran zu wagen, ohne Opfer der um ihn herum geschaffenen Klischees zu werden, erwies sich stets als problematischer. Luchino Visconti, der gewiss auch zu der Schar der geistig Verwandten gehörte, gelang zweifelsohne einefilmische Darstellung, die viele Merkmale des Meisterwerks besitzt und heute noch – vor allem in der ursprünglichen Fassung – an Reiz nichts eingebüßt hat. Im Mittelpunkt des Films stand allerdings eher der junge, in seiner wilden Schönheit begriffene Helmut Berger, dem der alternde Meister Ludwigs biographische Züge verliehen hatte, wobei der Aspekt der homoerotischen Anziehung sehr stark in den Fokus der Handlung rückte.
Zu erwarten war, dass Peter Sehr in seiner neuen Ludwig II. – Verfilmung sich zumindest mit der gleichen Sensibilität an die Ludwig-Gestalt herantasten und mit Fingerspitzengefühl in die psychologischen Tiefen seines Auserkorenen hinein drängen würde wie esihm 1999 in seinergelobten, spannungs- und intrigenreichen Kaspar Hauser-Verfilmung gelungen war. Denn genau wie Kaspar Hauser war Ludwig II.jener menschlichen Spezies zuzurechnen, die Franzosen – nicht diskriminierend – ein „diverse“ nennen, ein Terminus dieser, der nicht zufällig keine Korrespondenz in der deutschen Sprache findet. Ludwigs besondere Art, sein großes Allgemeinwissen, seine neugierige und unvoreingenommene Aufgeschlossenheit für das Neue, was z.B. der technische Fortschritt mit sich brachte, oder für alles Fremde, wie andere Kulturen und Religionen, kommen in Sehrs Film kaum oder nur sehr oberflächlich zum Vorschein. Ludwigs Gestalt erscheint von Anfang als extrem exzentrisch und karikiert. Vieles wird in dieser als historisch angekündigten Verfilmung verfälscht und verdreht. So z.B. die Andeutung auf erste Anzeichen eines Nervenleidens bereits im frühen Lebensabschnitt, ein Verhältnis zur Religion, das zwischen Frömmigkeit und Aberglaube schwankt, odereine vollkommene Unzulänglichkeit im Umgang mit den Regierungsgeschäften, die den historischen Tatsachen ganz einfach nicht entsprechen. Auch der edle Pazifismus nach heutigem Empfinden, worauf Ludwigs politisches Handeln über den ganzen Film hindurch reduziert wird, wirkt zwar sehr trendy, aber selbst bei einem wirklich so friedensbejahenden König wie Ludwig II., übertrieben und wenig überzeugend. „Gewehren mit Geigen entgegentreten“ zu wollen, mag eine werbewirksame Redewendung sein, hat aber kaum mit der Realität eines Bruderkriegs gegen Preußen zu tun, der von Bayern nur verloren werden konnte. Dass Bismarck in seinen Memoiren schrieb: „Ich bin mit ihm bis zum Lebensende in regem brieflichen Verkehr gestanden und habe dabei jederzeit von ihm den Eindruck eines geschäftlichen klaren Regenten gehabt“, spricht Bände über Ludwigs II. staatsmännische Größe, zumindest in den Kernjahren seiner Herrschaft. Das Resultat ist ein äußerst oberflächliches Zerrbild einer nicht allein im bayerischen Raum immer noch sehr beliebten Persönlichkeit, die im Ausland nach wie vor das positive Deutschlandbild tout court verkörpert. Was in dem aufwendigen, sehr kostspieligen Spielfilm von Peter Sehr, der diesmal mit seiner französischen Ehefrau Marie Nöelle Regie führt, vordergründig fehlt, ist die passende Atmosphäre, die der schon zu Lebzeiten sagenumwobene Monarch selbst heraufbeschworen hat. Um mehr Action nach heute gängigenfilmwirtschaftlichen Kriterien in die Story hineinzubringen, wurde schlussendlich nur Hektik produziert, die den Zuschauer nicht fesselt sondern eher ermüdet. Zahlreich die Fehler, die einer unsicheren Regieführung sowohl bei den schwachenschauspielerischen Leistungen als bei den Einstellungen zuzuschreiben sind, die eher das Kulissenhafte herausstellen.
Die unverfälschte Atmosphäre aus Ludwigs Welt findet sich in einem anderen, mit weitaus geringeren Mitteln und viel Liebe zum Detail und zur historischen Wahrheit gedrehten Film wieder, der pünktlich im Ludwigs II Jubiläumsjahr 2011 erschienen ist. Als Impulsfilm zur Bayerischen Landesausstellung 2011 begonnen, wurde der Art-Doku „Mein Atem ist die Freiheit“ von der Münchner Filmemacherin Angelika Weber gedreht. In dreijähriger akribischen Arbeit hat die Historikerin, die sich in den 70er Jahren mit Filmproduktionen wie „Maria Ward“ oder „Die Verlobten“ nach Alessandro Manzonis Roman „I Promessi Sposi“ einen internationalen Namen gemacht hat, ein auf langwierigen Recherchen und Forschungsarbeiten basierendes eigenes filmisches Gesamtkunstwerk realisiert, das seiner rätselhaften Persönlichkeit viel näher kommt und eher gerecht wird. Jenseits jeder Hektik lassen die schnellen Schnitte in Webers Film den raschen, oft galoppierenden Rhythmus nachempfinden, mit dem sich bei Ludwig II. der kreative Prozess vollzog, seine blitzartigen Intuitionen, die Geschwindigkeit, mit der er Ideen entwickelte und Pläne zur Realisierung führte: das Tempo eines Königs, dem nur – wie er selbst vorahnte – ein kurzes Leben beschieden war. Ein Leben, das – durch ständige Ortswechsel geprägt – stets mit neuen Bauvorhaben, staatsmännischen Aufgaben, einer umfangreichen Korrespondenz – etwa 3.000 Briefe! -, Gesprächen mit Politikern, Künstlern, Komponisten, Wissenschaftlern, Handwerkern undseinem geliebten Volk gefüllt war. Die Zeit in ihrem Weiterfließen, aber auch in ihrer Beschränktheit, wird darin zum roten Faden, der sich durch den ganzen Film zieht: Sinnbildlich dafür stehen die immer wieder eingeblendeten Uhren mit ihrem mahnenden Glockenschlag und die vielen Spinnennetze, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schleierhaft wie in einer kunstvollen abstrakten Komposition verweben. Eine Bilderflut in kohärenten Sequenzen kommt auf den Zuschauer zu und versetzt ihn in einen regelrechten Rausch. Im Mittelpunkt der mitreißenden filmischen Erzählung mit Musikstücken steht keineswegs der „Märchenkönig“, sondern eher der visionäre Monarch mit seinem idealistischen Drang als sensibler Förderer der Künste, als Erneuerer und Verfechter des technischen Fortschritts, nicht zuletzt auch der nach Außen hin gewandte Weltbürger in all seiner Modernität und Aktualität. Die poetischen Außenaufnahmen – manche von ihnen wahrhaftige Kunstbilder – wetteifern mit jenen von Bauten und Kunstwerken, die nicht nur als Kulisse oder Hintergrund dienen, sondern Ausdrucksform einer unwiederholbaren, einmaligen künstlerischen Vision sind: die Ideen, die hinter jedem Kunstwerk stehen, lebendig umzusetzen. Geführt wird der Zuschauer vom König selbst auf eine spannende Entdeckungsreise hinter verschlossene Türen im Spiegel von unbekannten Originalschriften und eigenhändigen Zeichnungen. Der Doku-Film, aus dem viele unerforschte Einzelheiten aus Ludwigs Leben ans Licht kommen, ist aus seiner eigenen Perspektive gedreht.
Ludwigs II. kultivierter Sprachduktus – die Sprache eines Dichters! -, verleiht ihm durch die eindrucksvollen Zitate aus einer Fülle von Autographen die Aura einer außergewöhnlichen historischen Dokumentation. Neben dem grenzenlosen Interesse für die großen Innovationen des technischen Zeitalters, in das er hineingeboren wurde, wird u.a. seine Leidenschaft für den Orient thematisiert, die in die ferne Türkei führt und in berühmten Bauten wie in der Berghütte „Schachen“ oder im „Maurischen Kiosk“ auf Schloss Linderhof ihre kunstvolle Umsetzung findet.
Lebendig werden die Vorbilder, die seine geistige Welt mit prägten: allen voran Wilhelm Tell mit seinem Freiheitsdrang, auf dessen Spuren er sich in die für ihn vorbildliche Schweiz begibt. Und natürlich Wagner und sein Werk, insbesondere „Parsifal“, den er – dem erklärten Antisemitismus seines Günstlings zum Trotz – Hermann Levi, dem genialsten unter den zeitgenössischen Dirigenten anvertraute.
Angelika Webers besonderer Verdienst ist es, einen Aspekt in Ludwigs Wirken behandelt zu haben, der bisher völlig außer Acht gelassen wurde, nämlich sein Verhältnis zu dem zu seiner Zeit gesellschaftlich aufsteigenden Judentum und den Juden in Bayern. Mit der auf seine Anordnung erfolgten Überlassung eines Grundstücks im Herzen von München zum Bau der 1938 zerstörten Hauptsynagoge im neu-romanischen Stil hinter dem Künstlerhaus gab Ludwig II den entscheidenden Impuls zur Emanzipation der zum wichtigen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsfaktor um die Jahrhundertwende in ganz Bayern avancierten jüdischen Gemeinde.
Daran erinnerte in seiner Ansprache unmittelbar nach der Uraufführung von Peter Sehrs Spielfilm, in dem dieses wichtige Vorkommnis keine Erwähnung findet, der Israelische Generalkonsul Tibor Schalev Schlosser, der feierlich zum anschließenden, von ihm gestifteten Empfang im HVB-Forum einlud. Ein posthumes Dankeschön an den vorausblickenden König, mit dem Israel – ganz in Ludwigs Geist! – gedenkt, die Freundschaft mit Bayern in eine neue Dimension hinzuführen und auszubauen.
126 Jahre nach seinem geheimnisvollen Tod am Starnberger See kann man ohne Übertreibung behaupten: Ludwig II. verbindet!
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