Ostap Slyvynsky. Wörter im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Berlin (edition.fotoTAPETA) 2023, 112 S., 10,00 €. ISBN 978-3-949262-28-9.
Und dann müssen wir auch noch die Sprache wiederaufbauen / Damit Kerze nicht mehr Bunkerlicht meint / Damit der Vogel wieder Federn bekommt / Damit Blumen aufhören Feuer zu spucken …
Die Eingangssequenz des Trauer-Poems, in dem „der Krieg unsere Häuser bis aufs Skelett entblößt, / uns die Haut abgezogen, damit man leichter erkennt, ob/ darunter das Herz noch schlägt.“/ aus der Feder des ukrainischen Autors Slyvynsky wirft eine der grundlegende Fragen der Ethik unserer menschlichen Existenz auf. Auf welche Weise können wir die in Kriegen oft schwer verletzten, sogar verstümmelten Wörtern wieder zum Leben erwecken? Mehr noch: wie können wir gestorbene Wörter wieder beleben, wie umgehen mit denen, die „aus einer halbvergessenen Vergangenheit auf(tauchen) und … eine neue Bedeutung (bekommen)“, wie der Herausgeber Slyvynsky in seiner Vorrede zu „Wörter im Krieg“ hervorhebt? Eine Antwort auf diese ethisch und semantisch existenzielle Fragestellung versuchte bereits der polnisch-litauische Dichter und Nobelpreisträger Czesław Miłosz in seinem Gedichtzyklus Die Welt. Eine naive Dichtung im Jahr 1943 zu geben, als deutsche SS-Truppen das Warschauer Ghetto und dessen jüdischen Insassenzerstörten. Eine Greueltat, unter der auch die Wahrnehmung und Benutzung einfacher Wörter zu leiden hatten, als rund achtzig Jahre danach ein machttrunkener russischer Diktator seinen ukrainischen Nachbarn überfallen ließ und Millionen ukrainischer Bürger*innen in die Flucht nach Mittel- und Westeuropa trieb. Und welches Schicksal erlitten die unter den Explosionen schwerer Granaten und den Einschlägen von Drohen sich deformierenden Wörter? „Manche Wörter sterben und fallen ab wie Blüten. Manche tauchen aus einer halbvergessenen Vergangenheit auf und bekommen eine neue Bedeutung“, sagt der Herausgeber. Und verweist darauf, dass nicht er die Erzählungen der hinter einem grauen Einband abgedruckten Texte geschrieben habe, sondern die zahlreichen Flüchtlinge, „Menschen, in deren Leben der Krieg einbrach, und die nun gemeinsame Erfahrung … teilen.“ Zusammen mit ihnen und einer Reihe von explizit genannten Mitautor*innen habe er dieses „Wörterbuch des Krieges“ zusammengestellt.
Jede der episodenhaften Erzählungen mit den Namen der Verfasser*innen und einem Stichwort, das die jeweiligen Erlebnisse und Empfindungen bündelt, beschreibt bewegende Momente, in denen der Krieg schauderhafte, manchmal auch bizarre Eindrücke hinterlässt. Wie z. B. unter dem Stichwort ‚Äpfel‘. Dort vergleicht Anna aus Kyjyv die Einschläge von Granaten mit den fallenden reifen Äpfeln in ihrem Garten. Sie bekennt, dass dieses Geräusch sie trotz alle dem glücklich macht. Oder eine gewisse Maryna aus Charkiw, die den Einschlag einer Granate im Hinterhof ihres Wohnhauses und die vollkommene Zerstörung der Wohnung wie durch ein Wunder in ihrem Badezimmer überlebte. Dabei habe sie sich „wie eine Heldin aus 1000 und eine Nacht“ gefühlt. Die schrecklichen Auswirkungen von Verwundungen schildert Wiktor aus Sumy, dessen Bein amputiert werden musste. Er gelangt zu einer bitter-lakonischen Einsicht wegen eines Splitters im funktionsfähigen „heilen“ Bein: „Ich werde mit diesem Bein immer irgendwie im Krieg sein. Vielleicht wäre es besser gewesen, es zu amputieren!“
In einem von furchtbaren Erlebnissen begleiteten Krieg gegen die Zivilbevölkerung verändert sich selbst der Geruch des Blutes, wie Marija aus Tschernihiw berichtet. Freiwillige Helfer retteten sie aus den Trümmern ihres Wohnhauses, kurz bevor sie verblutet wäre. Der Geruch des Blutes habe sie überleben lassen. Seit diesem Augenblick sehe sie überall Blut, ohne Angst vor diesem Anblick zu haben. Dennoch sehe sie das Blut überall, sogar wenn sie eine Landkarte betrachte. Da scheint es, „als würde aus den Rändern der Karte Blut auslaufen.“ Überhaupt sei der Geruch des Blutes sei überall dort spürbar, wo Rettungswagen unterwegs sind, bekennt Andrij aus Lwiw, dem an der polnisch-ukrainischen Grenze Lemberg: „Schmerz riecht nach Blut. Ein süßlicher Geruch mit leicht metallischer Komponente. Außerdem riecht Schmerz nach Schweiß, nach einem tagelang nicht gewaschenen Körper. Zu diesem Geruch kommt eine Note von Alkohol und Jodlösungen plus Chlor. Auch die sinnlich wahrnehmbare Schönheit, bekennt Kateryna aus Wyschhorod, sei im Krieg gefährlich, denn „schöne Dinge, Menschen und Beziehungen dienen nun nicht als Inspiration, sondern um sie zu vernichten.“ Neben die bewusst wahrgenommene Unterdrückung sinnlich-ästhetischer Reize tritt aber augenscheinlich auch die von Sehnsucht beladene Wiederentdeckung traditioneller religiöser Aspekte, wie Viktoria aus Charkiv bekennt: Obwohl sie aus einer Familie mit keinen echten Traditionen stammt, besann sich ihre Familie plötzlich wieder auf den Weihnachtsstern, backte Koljadky, lernt wieder die Koljaduwaty, das Sternsingen, lädt Verwandte und Bekannte ein, um religiöse Bräuche zu pflegen. Andererseits aber verlieren Tabu-Wörter plötzlich ihre Bedeutung. Früher habe er, bekennt ein gewisser Saschko aus Kyjiv, gerne bombig gesagt, sogar „schlägt ein wie eine Bombe“, wenn etwas richtig cool war. Und wenn er etwas bewusst überhören wollte: „Bin im Panzer“. Solche Wörter seien überhaupt nicht mehr im Gebrauch. Und die Träume im Krieg der russischen Aggressoren gegen die ukrainische Bevölkerung? Maryna aus Charkiw bekennt: “Jetzt kann ich überhaupt nicht schlafen. Ich habe Angst einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Ich hasse es zu träumen, denn danach bricht wieder alles über mich herein. … Jetzt muss ich lernen zu schlafen. (lacht).“
„Wörter im Krieg“ ist überwiegend ein Psychogramm vom unbeugsamen Willen ukrainischer Frauen und Kinder zu überleben. Überwiegend sie waren im Frühjahr und Sommer 2022 auf der Flucht in die rettenden EU-Staaten, während die meisten der 18- bis 60 jährigen Männer entweder an den ost- und südöstlichen Fronten der Ukrainischen Republik ihren Wehrdienst leisteten oder im Lande selbst sich auf einen militärischen Einsatz vorbereiteten. Aus diesem Grund äußern sich auch überwiegend jüngere und ältere Frauen in dieser Dokumentation über ihre Gefühle. Sie bewegen sich einerseits zwischen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, andererseits bringen sie oft ihr Bekenntnis zu einem unbedingten Siegeswillen zum Ausdruck. Die von Freunden und Bekannten des Autors gesammelten Eindrücke zeugen aber auch von einem Stimmungswandel, in dem das kollektive Überleben nach dem heimtückischen Überfall russischer Truppen auf ihr Vaterland in der Zwischenzeit einem wachsenden Bewusstsein von Siegeswillen gewichen ist. Der in Schwarz gekleidete Bucheinband zeigt an vielen Stellen kleine gelbe Pünktchen. Sie versprechen einen möglichen Wandel in der mörderischen Auseinandersetzung zwischen zwei slawischen Völkern. Und der zeichnet sich auch in einem allmählichen Wandel im Umgang mit den semantischen Inhalten bestimmter Wörter ab. Dieser Wandel deutet sich im letzten Beitrag der Publikation an: Pokój – auf Polnisch Frieden und zugleich Zimmer, bewegt die von Sumy nach Warschau geflohene Walerija. Sie denkt an ihr Haus, das sie verlassen musste und hofft auf eine baldige Rückkehr in ihre ukrainische Heimat.
Die vom Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt finanziell geförderte Publikation zeichnet sich durch einen einfühlsamen Einblick in die psychomentale Situation eines Volkes aus, das durch den brutalen Krieg des russischen Aggressors schwer geschädigt worden ist und sich nun erfolgreich zur Wehr setzt. Umso wichtiger erweist sich deshalb eine Publikation, in der psychisch und körperlich leidende Frauen, Kinder und nicht zuletzt auch Männer zu Wort kommen, um den jähen inhaltlichen Wandel der Wörter zu dokumentieren. Deshalb sollte die vorliegende Publikation sowohl als Quelltext für den Schulunterricht in der Oberstufe der Gymnasien benutzt werden als auch einer Aufklärung über einen Krieg dienen, der nicht nur Europa in seinen humanitären Bemühungen schwer geschädigt hat.