Leonardo Sciascia. Die Affaire Moro

Flagge Italien und USA, Foto: Stefan Groß

Leonardo Sciascia. Die Affaire Moro. Ein Roman… Mit einem Essay von Fabio Stassi. Neu übersetzt von Monika Lustig. Karlruhe (Edition Converso) 2023, 237 S., 24.- €, ISBN978-3-949558-18-4

Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, Präsident der Demokrazia Christiana und mehrfacher italienischen Ministerpräsident, durch die Brigate Rossi (Rote Brigaden) im Frühjahr 1978 bildeten über Jahrzehnte ein schier unerschöpfliches Thema europäischer linksradikaler Terrorgeschichte. Die aus der Feder des sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia stammende Affaire Moro beleuchtete dieses düstere Kapitel italienischer Geschichte unter Blickwinkeln, in denen sowohl die widersprüchliche Funktion des italienischen Staates als auch dessen mangelhafte Bemühungen um die Rettung des Entführten kommentiert wurde. Dieses Anliegen verfolgt auch Monika Lustig, eine kompetente Kennerin italienischer Gegenwartsliteratur, mit ihrem neu übersetzten Text. Mit hundert fundierten Anmerkungen versehen, zeichnet er sich durch Luzidität und sachliche Kompetenz aus. Es sind auch Eigenschaften der Buchausgabe, die nicht nur durch die gelungene typografisch transparente Gestaltung des in rot und schwarz gekleideten Hard-Cover-Bandes überzeugt, sondern auch durch den Essay von Fabio Stassi, „Der Leser als Detektiv“, der der „Affaire Moro“ argumentative Tiefenschärfe verleiht. Auf diese Weise vermittelt der Text, den  Sciascia bereits vier Monate nach der Hinrichtung von Moro, im August 1978 abgeschlossen  hatte, neue, unerwartete Einsichten in die Hintergründe des zögerlichen Handelns des italienischen Staates gegenüber der Terrororganisation „Rote Brigaden“ während des Entführungskrimis. Zugleich erfährt der Leser mehr über Aldo Moros  Haltung gegenüber der kommunistischen Fraktion im Parlament. Diese ineinander verschachtelten Handlungsstränge in dem mehrschichtig codierten Text sind nunmehr in einer auch für den deutschsprachigen Leser einsichtigeren Weise aufbereitet. Eine Einsicht, die noch nicht die Funktion von Literatur als Mittel der Aufklärung von Intrigen und Verbrechen zu erläutern vermag. Dieses Anliegen von Literatur, neben Geschichtsschreibung und Zeitgeschichte der Wahrheitsfindung verpflichtet zu sein, greift Fabio Stassi in seinem Beitrag (vgl. S. 203 ff.) über die detektivische Aufgabe des Lesers auf. Unter Hinweis auf den dokumentarischen Ermittlungsroman empfiehlt er  den gleichsam umgekehrten Weg auf der Suche nach der Aufklärung. Nicht die Realität der vermeintlichen Fakten, sondern die unter der erdrückenden Fülle der Argumente entstandene Literatur möge der Gradmesser für die Begutachtung der rätselhaft-verwirrenden „Fakten“ sein. In einem Abschnitt seines Essays, der auch dem Werk des drei Jahre zuvor in Ostia am Mittelmehr ermordeten Paolo Pasolini gewidmet ist, kommt er zu der Einsicht: „Die Affaire Moro ist weder ein Instant-Buch noch ein Tagebuch, sondern das Ergebnis einer Reflexion und einer Praxis, womit Sciascia sich bereits Zeit seines Lebens misst.“ (S. 207) Sciascia habe sein Werk über Moro beinahe wie zur Begleichung einer Schuld gegenüber demjenigen geschrieben, den „er wörtlich als seinen engsten Gefährten betrachtet“, der der einzige Mensch in Italien gewesen sei, „mit dem er wirklich reden konnte.“ (S. 209) Obwohl er Pasolini im Laufe seines Lebens nur einziges Mal face-to-face erlebt hatte, habe es zwischen beiden eine Brücke der Trauer gegeben, die aufgrund der grauenerregenden Art ihrer Exekutionen dem Werk von Sciascia über Moro eine nachhaltige Wirkung verleihen würde. Sciascia habe es zur Aufgabe gemacht, „diesen Körpern die Schamhaftigkeit, die Würde zurückzugeben, die ihnen genommen, in der sie erniedrigt wurden.“ (S. 211)

Parallel zu diesem lebenslang sich verdichtenden Bekenntnis zum Werk von Pasolini habe Sciascia, so Stassi, auch zu Aldo Moro ein anderes Verhältnis entwickelt, als er vom Staat alleingelassen, „von Hand der Brigadisten die Maske vom Gesicht gerissen war“ ,nur noch ein einsamer Mensch gewesen sei, „ eine Opferkreatur, würdig des menschlichsten Mitgefühls.“ (S. 213) Diese sich verstärkende Empathie gegenüber den Opfern habe Sciascia bewogen, nach einer echten Lösung von Konflikten zu suchen. Er musste, so Stassi, der Literatur als Fiktion  abschwören und „ihre Praxis neu definieren.“ Unter Verweis auf den argentinischen Autor Jorge Luis Borges sei es nämlich für Literatur abwegig geworden, mit den Mittel der Fiktion nach „Wahrheit“ zu suchen. Vielmehr müsse ein vorhandenes Material aus dem Kontext gelöst und in einen neuen Zusammenhang eingebaut werden. Unter Verweis auf bedeutende Werke der Weltliteratur, in denen Resümees erzeugt werden, die nichts anderes „als Vorwegnahmen , als Prophezeiungen seien, decke Die Affaire Moro nichts auf, sie versuche lediglich, mit dem Instrumentarium der Literatur, den Worten eines Gefangenen Menschenwürde zurückzugeben.“

Angesichts dieser auf den ersten Blick „ernüchternden“ Analyse gewinnt das Bekenntnis der Übersetzerin „Von der Pflicht, die Affaire Moro zu übersetzen“ (vgl. S.221f.), eine den Autor-Text besonders würdigende Funktion. Er entwerfe eine moralische, de-sentimentalisierende Dimension, nämlich „im Dienste einer radikalen Aufklärung“ (S. 222) alles zu mobilisieren, um die Entführung Moros  nicht nur als Entführung der Wahrheit zu betrachten. Mit dieser abschließenden Würdigung eines Romans in seiner Funktion als de-fiktionalisierender Essay verleiht sie der „Affaire“ den Status einer moralischen Aufklärungsschrift, die den Leser befähigt, die Verschleierung der Hintergründe für die Entführung und Hinrichtung Moros  nicht nur als entführte Wahrheit wahrzunehmen, sondern den „wuchernden“ kriminellen Elementen mit rechtstaatlichen Mitteln Paroli zu bieten. Eine Publikation, die nicht zuletzt in der Kombination von Autor-Text, Essay, kommentierender Neu-Übersetzung und ausführlichen Anmerkungen die kriminelle Affaire um die Ermordung Aldo Moros hinreichend aufklärt, wenngleich die Schleier des Bösen auch nach 45 Jahren durch den Text wehen.

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