Wolfgang Schlott: Buchbesprechung von: Arnold Zweig. De Vriendt kehrt heim

Die Andere Bibliothek

Arnold Zweig. De Vriendt kehrt heim. Roman. Mit einem Vorwort von Meron Mendel. Berlin (Die andere Bibliothek). Aufbau Verlage. 2024. ISBN  978-8477-0482-9

Wer die politischen Motive für den Mord an dem niederländischen Juristen und Schriftsteller Dr. Jacob Israel de Haan im Jahr 1924 in Jerusalem begreifen will, der sollte das Vorwort zu Arnold Zweigs Roman von  Meron Mendel besonders aufmerksam lesen. Vor allem dessen Eingangssentenz mit dem Hinweis auf den 7. Oktober 2023, als in den Morgenstunden bewaffnete Hamas-Einheiten israelische Zivilisten  in Kibbuzim während eines Supernova-Musikfestivals überfielen und ein Blutbad anrichteten, sollte die Aufmerksamkeit des Lesers auf den seit über hundert Jahren schwelenden, immer wieder ausbrechenden kriegerischen Konflikt zwischen zwei unversöhnlich gegenüber stehenden nationalistischen Bewegungen, der  palästinensischen Hamas und den unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen im israelischen Staat, lenken.

Vor mehr als hundert Jahren, als Arnold Zweig nach seiner Rückkehr aus seinem Exil, dem britischen Mandatsgebiet Palästina, 1933 in Amsterdam seinen Roman auf Holländisch De Vriendt keert weer im Verlag Querido herausgab, bildete die Ermordung des Dichters und Politikers J.I. de Haan das wesentliche Motiv für die Entstehung des Romans von Arnold Zweig mit zwei wesentlichen Korrekturen. Als Titelgestalt seines Romans kristallisierte sich de Vriendt heraus, dessen Modell „der unglückliche Dichter, unselige  Politiker J.I. de Haan … war“ (Arnold Zweig, vgl. S. 267). Den Zeitpunkt seiner Ermordung legte der Autor auf den Sommer 1929 fest. Mit den Motiven für dessen Ermordung beschäftigt er sich bis zu seiner Ausreise aus Palästina. Er betont jedoch, dass er keinen seiner Freunde aufgesucht habe, um über die Hintergründe der Mordtat etwas zu erfahren. Ihn hätten „die Widersprüche und Risse im Aufbau seiner Persönlichkeit, seine glänzenden Gaben, seine Vorurteile und heftigen Hingaben und das notwendige Ende, das er nehmen musste“ (S. 266), interessiert. Auch mit dem literarischen Werk von de Haan habe er sich nur sehr gezielt auseinandergesetzt. Nicht der Dichter und dessen Werk sei der Gegenstand seiner Betrachtungen gewesen. Vielmehr sei es sein Anliegen gewesen, wie Menschen von der Art J.I. de Haan eine gerechtere Beurteilung im Lager seiner politischen Gegner erfahren könnten. Aufgrund dieses ambitionierten Anspruchs, dem Opfer eines politischen Fememords eine ihm angemessene Beurteilung zuzuschreiben, ist das vielschichtige Sujet des vorliegenden Romans für seine Leser/innen einleuchtend, wenngleich seine Interpretation mit einem aufwendigen Leseprozess verbunden ist.

Der Roman,  1932 im Gustav Kiepenheuer-Verlag als letzte Publikation von Arnold Zweig in Deutschland vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschienen, besteht aus drei Büchern mit den folgenden Titeln: EIN GEISTIGER ALLEIN, SCHÜSSE IN JERUSALEM; STOSS UND GEGENSTOSS REGIEREN DIE WELT.  Die Einleitungen zu den Büchern bestehen jeweils aus Vierzeilern, die dem poetischen Werk von de Haan entnommen wurden und  kryptische Aussagen enthalten.

Dieses Textelement ist in der vorliegenden Neuausgabe von Arnold Zweigs „De Vriendt“ lediglich als Zitat zu werten, ohne einen direkten Bezug zur Handlung aufzuweisen. Vielmehr ist es ein auktorialer Erzähler, der seine Leser/innen durch einen ambitionierten Handlungsstrang leitet, in dem die einzelnen Personen der Handlung nur dann und wann direkt zu Wort kommen. Es sind dies Lolard B. Irmin, wichtigster Mann des Geheimdienstes bei der Verwaltung von Judäa (Südpalästina); Iwanow, ein Tscherkesse, der im Dienst des israelischen Geheimdienstes und auf Anweisung von Irmin die jüdischen und die arabischen Gruppierungen und Milieus beobachtet, wie auch Dr. Gluskinos, in dessen Praxis sich die Sprecher der unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen regelmäßig treffen. Wie auch an diesem Nachmittag, als in dem Gespräch zwischen Lolard B. Irmin und Iwanow Dr. de Vriendt. dem Herausgeber einer Zeitschrift, in der Kritik an der Einstellung zionistischer Gruppierungen gegenüber anderen judaistischen Gruppierungen geübt wird wie auch das gestörte Verhältnis  zwischen Arabern und Juden thematisiert wird. Über diesen Doktor de Vriendt aber wollte Nachman, das „“geistige Haupt“ von rund dreißigtausend jüdischen sozialistischen Arbeitern nicht reden, ohne die genauen Gründe für seine politischen Motive zu nennen. Vielmehr sind es Vermutungen, die sich in Aussagen wie „solche krankenhaften Außenseiter verwirren nur, was sie anrühren.“

Ein solcher Wechsel zwischen direkter Rede und auktorialem Kommentar erfüllt im 2. Kapitel eine wichtige Funktion. Er beschreibt  die spannungsgeladene politische und soziale Atmosphäre im Jerusalem der 1920er Jahre. Im 3. Kapitel wird der Leser mit den Hauptfiguren des Romans bekannt gemacht. Es ist die Ankündigung  ‚Ein Mann lässt sich warnen`‘ und beschreibt die Situation, in der sich  Dr. Jizchak Josef de Vrienth innerhalb der jüdischen Gemeinde in Jerusalem befindet. Vor allem im Gespräch mit Lolard de Irmin wird deutlich, unter welch schwierigen Bedingungen der Dialog zwischen den einzelnen jüdischen Gruppierungen geführt wird. Obwohl de Irmin bekennt, „die Spielregeln und Gewohnheiten der orthodoxen Juden,…., der Araber oder die der abessinischen Juden“ sehr wohl zu kennen, weil sie  die Spielregeln eines großen Spiels“ wären, das die Völker mit Gott spielten, muss er zugeben,dass die Publikationen von de Vrienth ihn immer wieder überraschen. Er bewundert ihn in seiner doppelten Rolle als Europäer und Orientale, der kein Odium scheue, wenn es sich um Überzeugungen handele, entwickele er einen außerordentlich Mut, um seine Position in Jerusalem öffentlich zu machen. De Vriendt finde deshalb in der jüdischen Öffentlichkeit auch hohe Anerkennung. Dennoch trifft er bei seinen Spaziergängen in den modernen Vierteln von Jerusalem  auf viele skeptische Blicke und abwehrende Gesten. Nur in einer kleinen Klause, wo sich ein Gruppe von gesetzestreuen Talmudisten im Umkreis von Rabbi Zadok Seligmann versammelt hatte, wurde er mit bewundernden Blicken begrüßt und sofort in vertiefende Gespräche über den Talmud einbezogen. Doch seine hohe Anerkennung als Gelehrter ist durch sein intimes Verhältnis zu dem Knaben Saut, der einer mächtigen,angesehenen arabischen Familie entstammt, in Misskredit geraten.

Der Autor hingegen äußert sich zu diesem Fall moralischer „Inzucht“ und religiöser „Abweichung“ sehr differenziert: „Wer als Erwachsener ein Kind mit Leidenschaft liebt, sucht in ihm sich selbst. Einmal und irgendwo müssen von der Seele die Fingerabdrücke der formenden Mächte abgewaschen werden,… Es muss wieder das Kleine da sein, das Zierliche und Glatte, das Bewegliche und Schuldlose, das Übermütige, Spöttische, das vom Leben noch nicht befleckt ist, der jugendliche Mensch.“ (S. 92)

Die Erschütterungen, die einen solchen Mann bewegen, der ein Kind mit Leidenschaft liebt, lösten in ihm ungewöhnliche Empfindungen aus. Er gehe jedes Mal, wenn seine Hände den Körper eines Knaben streichelten, „durch den Schatten des Todes, jedes Mal über die Grenze des menschlichen Lebens, in den Anhauch der Vernichtung.  Und wenn er ausgelöscht ist in dieser Vernichtung,…, dann ist er glücklich, befreit, beseligt, wieder vereint mit der Urmutter, dem Tode.“ (S.93)

Mit diesem Monolog, vom Autor moderiert, enden die Ausführungen des ersten Buches und die Schüsse in Jerusalem fallen erst im zweiten Buch. Es gibt zunächst in fünf kurzen Kapiteln einen Einblick in die Druckerei der ZeitschriftHa-arew, in der gerade auf Anweisung eines gewissen Dr. Glikson die Schlagzeile „ Doktor de Vriendt verrät das jüdische Volk“ mit dem Zusatz „Aus den Reihen des jüdischen Volks ist er von jetzt gestrichen.“ gesetzt wird. Dass in der Öffentlichkeit des palästinenschen Staates eine wachsende Unruhe entstanden ist, verdeutlicht auch das Gespräch zwischen dem holländischen Konsul Roetbeeren, dem Polizeichef Irmin und Dr. de Vrienth. Vor allem die abfälligen Bemerkungen von Dr. de Vrienth über die in Palästina umgesetzte Politik der Zionisten, wie auch seine Meinung über Zionisten erregen die beiden Politiker, die ihren Unmut gegenüber dieser Position zum Ausdruck bringen. Die aufeinander prallenden Positionen sind damit markiert: Dr. de Vrienth als scharfer Kritiker des Zionismus ist nunmehr zum Spielball eines gnadenlosen Konflikts zwischen verschiedenen pressure-groups geworden. Mehr noch: der Anschlag auf sein Leben, im 4. Kapitel des zweiten Buchs thematisiert, wird in die Realität umgesetzt. Während eines spätabendlichen Spaziergangs durch die Neustadt von Jerusalem wird er in der Nähe des Schomreh-Hospitals durch mehrere Gewehrschüsse niedergestreckt, nachdem er hinter sich jemand rufen hört: „Verrat tötet“.

In den folgenden Kapitel werden die Kommentare in den nationalistischen Zeitungen interpretiert: „der Ermordete sei ein Opfer seiner zionistischen Gegner geworden: es liege ein politischerMord vor“ (S. 141) Doch der Autor wehrt sich gegen eine solche Simplifizierung der Ursachenfindung und fügt ein drittes Buch mit der Überschrift Stoss und Gegenstoß regieren die Welt hinzu.

Es greift die Tag für Tag auflammenden Konflikte zwischen jüdischen und arabischen Gruppierungen auf. Selbst während der Grablegung von Jizchak JOsef de Vriendt kam es zu Überfällen jüdischer Gruppen auf die englische Ordnungsmacht. Konstabler wurden körperlich bedroht. Juden aus dem postrevolutionären Russland mischten sich in die Auseinandersetzungen ein. „Jüdische Arbeiter verteidigen eine Mosche gegen jüdische Angreifer“ (S:169) Der Autor entfaltet eine breite Palette an Kampfszenen, um die  tumultartigen, blutigen Szenen nachzuzeichnen. Und seine Schilderungen der bewaffneten Ausseinandersetzungen gehen soweit, dass er bestätigt, jüdische Siedler hätten sogar die englische Ordnungsmacht  mit Waffen angegriffen. Deshalb hätten sich britische Beamte lieber mit den Arabern solidarisiert! In diesen turbulenten Jahren, als die britische Ordnungsmacht immer wieder angesichts der anwachsenden Kriegsgefahr in Palästina die amerikanische Supermacht um Hilfe rief, zeichnet sich auch deren Rückzug aus Palästina ab.

Arnold Zweig hat mit seinem dokumentarisch belegten Roman die Ursachen für den immer wieder auflammenden Konflikt um die Vorherrschaft in Palästina offenbart. Es ist der militante, wenig konziliante Hegemonialanspruch der zionistischen Gruppen gegenüber den arabischen Siedlern, ein Anspruch der gemeinsam mit dem orthodoxen Herrschaftsanspruch der rechtsgerichteten zionistischen Gruppen die Ursache für die andauernde bewaffnete Auseinandersetzung bildet. Dieser durch andauernde kleinere bewaffnete Konflikte alimentierte Palästina-Krieg hat in der Zwischenzeit die Vorstufe zu einem Nahostkrieg erreicht, in dem eine hochgerüstete Hamas-Organisation den Krieg gegen einen israelischen Staat führt, der verpflichtet ist, seine jüdischen Bürger/innen zu schützen. Allerdings benutzt die derzeitige rechtsgerichtete Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Netanyahu in der entscheidenden Phase ihres Verteidigungs- und Angriffskriegs nur noch Vernichtungswaffen, um die Hegemonialmacht im Nahen Osten wieder zu erringen. Der bislang gescheiterte Dialog zwischen dem israelischen Staat und den palästinensischen Grupiergenist auch auf die unversöhnliche Einstellung zionistisch geprägter Machtgruppierungen zurückzuführen, die sich gegen ein friedliches Zusammenleben mit der palästinensischen Bevölkerung zur Wehr setzen.

Zweigs Darlegung der Konflikte in den 1920er Jahren beleuchtet die Grundlagen für die Entstehung eines Konflikts, der nicht gelöst werden kann. Seine andauernde zerstörerische Gewalt ist auch darauf zurückzuführen ist, dass  die zionistisch geprägten Machteliten in israelischen Staat im 20. und frühen 21. Jahrhundert nicht lern- und dialogfähig geworden sind.

Umso bedauerlicher ist, dass das Buch eines schlesischen Juden nach über achtzig Jahren – in Israel immer noch nicht publiziert worden ist. Umso wichtiger wäre es, dass der niederländische Jude de Haan, die Vorbildfigur in „de Vriendt kehrt heim“ nun auch einen würdevollen Platz in der kollektiven Erinnerung der israelitischen Juden findet.


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