Lindita Arapi. Albanische Schwestern. Roman. Aus dem Albanischen von Florian Kienzle. Bonn (Weidle Verlag) 2023, 238 S., 25.- €, ISBN 978-3-949441-07-3
Der Einstieg in die Beziehungsgeschichte zwischen Alba und Pranvera, Töchter aus der Familie von Naim und Lilia Darӫzezi in einer albanischen Kleinstadt, weist viele Merkmale einer Tragödie auf. Alba hat nach ihrer Ausreise in Wien einen „wohlgeordneten Westeuropäer“ namens Thomas Stuck geheiratet. Eine in vieler Hinsicht leichtsinnige Entscheidung, die ihr Ärger und Ungemach bringt und zugleich ihre Sehnsucht nach ihrer in Albanien gebliebenen Schwester verstärkt. Das wird bei einem scheinbar harmlosen Zwischenfall in der Käuferschlange eines Supermarktes deutlich. Ein unachtsamer Kunde lässt eine Weinflasche fallen und der auf den Boden zerfließende rote Saft projiziert das Bild ihrer schönen Schwester Pranvera in ihre Wahrnehmung. Dieses Körpergedächtnis löst in ihr ein Schmerzempfinden aus. Ursache dieser angstpsychotischen Reaktion ist aber nicht dieser scheinbar belanglose Erinnerungsschub. Mehr noch ist es ihre unglückliche Ehe mit Thomas, „diesem Informatikehemann in Wien“, der „in einer auf Kredit gekauften Dreizimmerwohnung lebt“, die den steten Quell ihrer Unzufriedenheit bildet. Alba, die in einem südeuropäischen Land unter rigiden kommunistischen Bedingungen aufgewachsen ist, muss sich nun gegen kulturelle Bedingungen zur Wehr setzen, die vor allem in einer ökonomisch bedingten Männerherrschaft zum Tragen kommen. Ihr Thomas, ein Einzelkind, das jegliche Beziehungen zu Eltern und Verwandten abgebrochen hat, pflegte seine Junggesellenmanieren, leistet sich heimliche Gespielinnen, reagiert verständnislos auf die Wünsche seiner Ehefrau, gehört deshalb in diese Kategorie der unbelehrbaren Männer. Doch Alba, telefonisch beraten von ihrer älteren, ebenfalls verheirateten Schwester, findet in Marion, einer erfahrenen Eheberaterin, tatkräftige Hilfe. Sie tritt einer Selbsthilfegruppe betrogener Ehefrauen bei. Leider ohne nachhaltigen Erfolg. Sie kehrt in ihre albanische Heimatstadt zurück, um ihrer Mutter nach dem Tode beizustehen, obwohl sie mit ihr und dem engstrinigen Vater bittere Erfahrungen gesammelt hat, so als empörte Zeugin einer illegalen Abtreibung, der sich ihre Schwester zwangsweise unterziehen musste. Diese für sie empörende kulturelle Rückständigkeit in ihrer albanischen Heimat erträgt sie dennoch geduldig. Ungeachtet der mütterlichen Willkür ist die auch mit einer bewunderungswürdigen Hilfsbereitschaft gegenüber ihren greisenhaften Nachbarn erfüllt, deren Kinder irgendwo in Amerika oder Westeuropa leben und nur selten ihre gebrechlichen Eltern besuchen. Sie ist endgültig in ihr elterliches Haus zurückgekehrt, um eine von den greisen Nachbarn bewunderte Alba zu werden, die auf Kinder verzichtet hat, regelmäßig ihre Schwester mit deren Kindern in der Hauptstadt Tirana besucht und sich scheinbar mit dem Schicksal der Rückkehr in die Heimat abgefunden hat.
Lindita Arapi, die mit ihrem Roman „Schlüsselmädchen“ bereits 2015 erfolgreich in den hart umkämpften deutschsprachigen Literaturmarkt gestartet ist, hat mit dem nun im Bonner Weidle-Verlag einen zweiten Titel vorgelegt, der aus verschiedenen Gründen die besondere Aufmerksamkeit der Literaturkreise erregen wird. Es ist nicht nur die lebendige Darstellung patriarchalischer Strukturen, die sich in der zynisch verblendeten und brutalen kommunistischen Welt in Albanien nach den zweiten Weltkrieg verfestigt hatten. Auch die in Profitgier und männlich dominierten Berufsfeldern erstarrte westliche liberale Geschäftswelt ist der Gegenstand ihrer Kritik, die sie mithilfe geschickt umgesetzter literarischer Verfahren überzeugend zum Ausdruck bringt. Ihre auktorial eingestimmte Erzählerin unterbricht häufig ihre anschaulich dargestellten Alltagsszenen und gibt ihren Leifiguren Alba und Pravera immer wieder Raum, um deren erlebtes Leid und manche Glücksmomente so zum Ausdruck zu bringen, dass Leser*innen sich immer wieder in deren Erlebniswelt versetzen können. Auf diese Weise entsteht eine eindrucksstarke Erlebniswelt sowohl von den erstarrten patriarchalischen Strukturen im südeuropäischen Albanien als auch von der großstädtischen Geschäftswelt Österreichs. Und es ist nicht immer sicher, ob der Lesende sich mit der prosperierenden westlichen Welt identifiziert oder ob er sich mit Alba und Pravera identifiziert. Mit der einen, die zurückkehrt ist in ihre sich allmählich reformierende albanische Welt und mit der anderen, einer Pravera, die trotz erlebter psychischer und leiblicher Leiden in Tirana geblieben ist. Unabhängig von solchen Überlegungen bleibt der nachhaltige Eindruck, dass Lindita Arapi mit ihrem Roman einen Beweis für einen Roman geliefert hat, der psychologisch aufgeladene Spannung und überzeugende Erzählstrukturen mit einem spannenden Plot in Verbindung bringt. In Verbindung mit der gut lesbaren Übersetzung von Florian Kienzle, strukturiert in einem etwas rätselhaften Zahlengerüst von römisch I bis X, dem handlichen soft cover des Bucheinbandes wie auch der etwas schematischen Grafikgestaltung von Greta von Richthofen haben die „Albanischen Schwestern“ beste Chancen, mehr als Aufsehen in der verwirrenden Fülle des Frankfurter Büchermarktes zu erregen.