Wolfgang Benz. Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ im Nationalsozialismus

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Wolfgang Benz. Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ im Nationalsozialismus. Mit 26 Abbildungen. Ditzingen (Reclam) 2020, 220 S., 22,00 €. ISBN 978-3-15- 011258-8.

Seit Januar 2012 stand sie wieder im Licht der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Die Stiftung „Weiße Rose“ hatte ihr in der Ludwig-Maximilians-Universität in München eine Ausstellung gewidmet, die ihren vielschichtigen Widerstand gegen den Nationalsozialismus seit 1938 dokumentierte. Bestehend aus einer Stammgruppe von sechs Frauen und Männern sowie einem knappen Dutzend aktiver Mitarbeiter/Innen gelang es „Onkel Emil“ bis zum Ende der Hitler-Diktatur in einem weit verzweigten Netzwerk unter äußerst lebensbedrohlichen Umständen vielen Verfolgten der Nazi-Barbarei zu helfen und sie vor ihrer Vernichtung zu retten. Unter ihnen waren vor allem jüdische Mitbürgerinnen und – bürger, die das nationalsozialistische Terrorregime spätestens seit November 1938 mit krimineller Gewalt verfolgte. Der 9. November 1938, als die Synagogen in Deutschland in Brand gesetzt wurden, stellte für Ruth Andreas-Friedrich, Mitglied der Stammgruppe, wie auch für ihren Lebenspartner Leo Borchard gleichsam die Initialzündung für ihre Hilfsaktionen dar. „Sie begnügte sich nicht mit innerem Abscheu und der Verständigung über ihre  Abneigung  gegen das Hitler-Regime im Kreis Gleichgesinnter.“ (S. 13) So belegt Wolfgang Benz, weltweit anerkannter Antisemitismus-Forscher, in seiner sorgfältig recherchierten Publikation die Handlungsmotive von Ruth Andreas-Friedrich unter Verweis auf deren Tagebuchaufzeichnungen zwischen 1938 und 1945. Die in Berlin wohnende Journalistin sei zur Chronistin der Jugendverfolgung geworden, indem sie von nun an nicht nur die Not der Juden protokollierte, sondern – gemeinsam mit ihren Mitstreitern – ein Netz von Mitarbeitern knüpfte, das die Grundlage für viele erfolgreiche Aktionen bildete.

Die Stichworte im Inhaltsverzeichnis belegen es: Diskriminierung und Entrechtung; Juden im Untergrund und ihre Helfer; Hilfe für Juden als Widerstand gegen den Nationalsozialismus; Judenretter und Widerstandskämpfer; Der späte Ruhm der „Stillen Helden“, Die Einzigartigkeit der Widerstandsgruppe „Onkel Emil“. Sie bilden eine zeitliche und handlungslogische Kette von Argumenten, die die solidarischen Abläufe summarisch und exemplarisch belegen.

Ein besonders überzeugendes Kapitel ist den meist spontanen Hilfsaktionen für Juden gewidmet, die zu Beginn der 1940er Jahre Berlin als ihren Wohnsitz gewählt hatten, um vor den Verfolgungen durch Gestapo, SS und Polizeibehörden einen gewissen Schutz in der Anonymität der Großstadt, eine letzte Gelegenheit zu einer Ausreise aus dem deutschen Reich zu suchen. Dieser Personenkreis von etwa 73.000 Personen (sie gehörten zu den 164.000 zwangsweise in Deutschland verbliebenen Juden, vgl. dazu die Angaben S. 47) versuchten im Untergrund zu überleben, teilweise mit falschen Papiere ausgestattet, teilweise in Wohnungen, Gartenlauben und Abrissgebäuden versteckt, teilweise in Mischehen getarnt vor den Verfolgungen der Nazi-Behörden.

Angesichts „des offenen Antisemitismus der Fanatiker und der alltäglichen Judenfeindschaft der Angepaßten“ (S. 50) war die Bereitschaft zur Solidarität mit den verfolgten jüdischen Mitbürgern noch in den frühen 1930er Jahren durchaus vorhanden. Sie schwand unter dem Einfluss von Propaganda und systematischem Rassenhass in der kontrollierten Öffentlichkeit während der späten 1930er Jahre und erwies sich nach 1941 unter der Einwirkung von Terror und Deportation in die Konzentrationslager als Aktionsbereitschaft einer schwindenden Minderheit. Umso unschätzbarer war der Einsatz  kleiner Aktionsgruppen im Untergrund, die vor allem Juden beim Überleben in der Nazi-Diktatur halfen. Zu dem Kreis der Geretteten gehörten unter anderen Hans Rosenthal, Michael Degen, Maria von Malthan, Otto Weidt, Hanni Weisenberg und viele andere (vgl. S. 50 bis 64). Ihre Fotografien bilden neben denen, die ausgewählte Helfer zeigen, eine anschauliche Gruppe von Personen, die einen würdigen Platz im Memorial zur Verteidigung der elementaren Menschenrechte einnehmen.

Es gehört zu den besonderen Verdiensten dieser Publikation, dass sie nicht nur minutiös, soweit es die umfangreichen Recherchen von Professor Benz und seinen Mitarbeiter/innen ermöglichten, die Einzel- und Gruppenschicksale der Verfolgten und ihrer Retter bis 1945 aufspürten, sondern auch Lebensläufe nach 1945 dokumentiert. Unter ihnen erweist sich Ruth Andreas-Friedrichs „Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945“ (Berlin 1947) als wertvolle Dokumentation des Widerstands. Mehr noch: aufgrund ihrer vielfältigen publizistischen und unternehmerischen Aktivitäten erwirbt Frau Friedrich ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Ihre Anerkennung als „Unbesungener Held“ wurde ihr allerdings in frühen 1960er Jahren vom Berliner Senat aus formellen Gründen verweigert. Erst posthum erhielt sie 2002 die hohe Auszeichnung aus Israel, als „Gerechte unter den Völkern der Welt“.

Ein nicht minder umfangreiches Aktivitätspotential entwickelte ihre Tochter Karin Friedrich, die im „Schattenmann“ ihrer Mutter bereits ihre Widerständigkeit im Untergrund erprobt hatte. Diese Flexibilität bewies sie auch nach 1945. Nach ihrer Schauspiel-Karriere in den frühen 1950er Jahren dokumentierte sie die Widerstandsaktivitäten der „Weißen Rose“ und erwarb als Chronistin, Biographin und Zeitzeugin von „Onkel Emil“ hohe Anerkennung. Ungeachtet solcher gesellschaftlich anerkannter publizistischer Aktivitäten setzte der Ruhm der „Stillen Helden“ (vgl. S. 169) erst in den 1970er Jahren ein. Nach gelegentlichen Artikeln in Illustrierten und der Publikation von literarischen Werken beschäftigte sich die Wissenschaft mit den Motiven der Retter. Mehr nicht? Benze kommt im Hinblick auf die zögernde, gleichsam verschämte gesellschaftliche Anerkennung zu einem einleuchtenden Urteil: „… im Gegensatz zu den Heroen des Widerstands wie z.B. den Männern des 20. Juli, den Studenten der „Weißen Rose“ oder den kommunistischen Gruppen, die dafür stehen, dass Hilfe für die Verfolgten im Alltag durchaus möglich war. In Wahrheit hätte es Alternativen gegeben zum Wegschauen, zur Gleichgültigkeit, zur Hinnahme der Verfolgung anderer. … Die Retter der Juden aber vergaß man nicht nur, weil sie selbst von ihren Taten nicht sprachen, sondern auch, weil ihr Engagement die Behauptung der Anspruchslosen, man habe nichts machen können gegen den Terror, als Legende entlarvt hätte.“(S. 178)

Gibt es ein überzeugenderes Zeugnis für die Feigheit eines Volkes, das sich von Verbrechern in ein gigantisches Abschlachten von „minderwertigen Elementen“ treiben ließ? Die Dokumentation über den Tätigkeitsbericht der Gruppe „Onkel Emil“ mit den beinahe vergessenen Namen ihrer sechs Stammgruppenmitglieder und zahlreicher Helfer, ausgestattet mit vielen Quellverweisen und Anmerkungen könnte nicht nur der Impuls für viele weitere Entdeckungen sein, sondern auch zum Bestandteil von Schulunterricht und Lesungen werden. Angesichts des offenkundig und verdeckt auftretenden Antisemitismus in der bundesdeutschen Gesellschaft also erneut eine Aufforderung zum Disput über unsere jüngste Vergangenheit, in der eine verschwindende Minderheit mit Courage und Solidarität ihren jüdischen Mitbürgern geholfen hat. Ob die Schulpädagogik und die Bildungspolitiker diese Chance nutzen werden?

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