Vor 70 Jahren eröffnete Bundespräsident Theodor Heuß in Niedersachsen die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Bulldozer, die Leichenberge in Gruben schieben. Menschen dem Tode näher als dem Leben, geschlagen, gefoltert und abgemagert bis auf die Knochen. Britische Filmaufnahmen, aufgenommen kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen in den frühen Nachmittagsstunden des 15. April 1945 haben sich für immer ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Die prominenteste Gefangene in Bergen-Belsen, die damals sechzehnjährige Jüdin Anne Frank, die später durch ihr im Amsterdamer Untergrund verfasstes Tagebuch weltberühmt wurde, war zu diesem Zeitpunkt schon zwei Monate tot und in einem Massengrab verscharrt worden. Der Weltöffentlichkeit gezeigt wurden die Bilder aus Bergen-Belsen erstmals beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg im November 1945. Darunter Aufnahmen des SS-Kommandanten Josef Kramer und der bei ihrer Festnahme erst 22-jährigen Aufseherin Irma Grese, die später zusammen hingerichtet wurden. Der US-Psychologe Gustave M. Gilbert, der fließend Deutsch sprach und in Nürnberg uneingeschränkten Zugang zu den Angeklagten hatte, beobachtete deren Reaktionen, als sie filmisch mit ihren Verbrechen konfrontiert wurden. „Julius Streicher – langjähriger Herausgeber des antijüdischen Hetzblattes `Der Stürmer` – starrt gebannt auf die Leinwand, so als könne er sich nicht satt sehen an den gemarterten Juden“, notierte Gilbert in sein Tagebuch. „Hermann Göring wendet sich ab, Rudolf Hess schläft und Joachim von Ribbentrop, Hitlers Außenminister schluchzt beim Anblick der grausamen Bilder“. Göring, eine Zeit lang Hitlers Kronprinz, beschwerte sich später bei Captain Gilbert mit den Worten: „Es war so ein schöner Nachmittag, bis Sie diesen Film gezeigt haben“. Von Einsicht und Reue keine Spur. Göring hielt die Aufnahmen aus Bergen-Belsen für Propaganda der Alliierten.
Desinteressiertes Volk
Was dort und andernorts in zwölf Jahren NS-Herrschaft geschah, wurde unzählige Male beschrieben, analysiert und doch kaum verstanden. Bis heute bleibt die Frage nach dem Warum. Warum war es möglich, dass ein zivilisiertes Land braun bekleideten Emporkömmlingen die politische Führung überließ, ohne deren kriminelle Ambitionen zu durchschauen? Ein Land, das den Computer und das Automobil erfunden und Genies wie Albert Einstein, Thomas Mann und Sebastian Bach hervorgebracht hatte. Wie war es möglich, dass im Land von Goethe, Schiller und Novalis eineinhalb Millionen Kinder industriell ermordet wurden, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regte? Bergen-Belsen, als Ort unvorstellbarer Grausamkeiten ging am 30. November 1952 als erste staatliche Gedenkstätte ihrer Art an den Start, und unvergessen bleiben bis heute die Worte des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuß, nach denen „wir Deutsche sehr wohl von den Verbrechen gewusst und doch allzu gerne weggeschaut haben“.
Eine plausible Antwort auf die Frage nach dem Warum-die-Deutschen-weggeschaut-haben lieferte der Historiker Götz Aly in seinem Buch „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ (S. Fischer Verlag 2005), demzufolge das NS-Regime die Bevölkerung vor allem mit sozialen Wohltaten zum Schweigen brachte. Wer aufmuckte, hatte in Hitlers Staat oft viel zu verlieren, und nicht immer gleich das Leben. Die meisten Deutschen arrangierten sich mit dem Regime, solange es Arbeit, gefüllte Schaufenster und außenpolitische Erfolge gab. „Dass die erhöhten Renten und Beihilfen teils aus jüdischem Vermögen, aus Raub und Enteignung stammten, interessierte kaum jemanden“, sagt Aly. Niemand fragte in den dreißiger Jahren, woher all die schönen Möbel, Pelze, das teure Kinderspielzeug und selbst die wenigen Motorräder, Radios und Autos stammten, die regelmäßig feilgeboten wurden. In Lokalzeitungen standen Auktionstermine, bei denen die Besitztümer zwangsenteigneter Juden zu Geld gemacht wurden. „Bergen-Belsen war die logische Konsequenz dieser Politik“, sagt Aly. Was als behördlicher Raubzug begann, steigerte sich in der Reichskristallnacht am 9. November 1938 zu nackter Gewalt und endete in den Verbrennungsöfen von Auschwitz, Treblinka und Mauthausen.
Gefangene gegen Devisen
„Bergen-Belsen war ein so genanntes Durchgangslager“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Wo immer die Möglichkeit bestand, mit Häftlingen Geld zu machen, tauschte der NS-Staat sie gegen solches oder gegen deutsche Gefangene im Ausland ein. Bergen-Belsen war seit 1941 ein Auffanglager für sowjetische Kriegsgefangene gewesen, die Zwangsarbeit leisteten und anschließend auf andere Lager verteilt wurden, um Platz für neue Transporte zu schaffen. „Die zentrale Lage fernab der Kriegsschauplätze machte es möglich, dass Bergen-Belsen der SS bis kurz vor Kriegsende als Auffanglager diente“, sagt Krämer. Ein Ort, wo überlebende Häftlinge aus dem Osten ihrem Schicksal überlassen blieben, bis die Alliierten dem Grauen im Frühjahr 1945 ein Ende bereiteten.