Träfe ein gebildeter Europäer unserer Tage auf einen angesehenen Hellenen des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, so würden sich beide wohl glänzend verstehen. Sie wären Geistesverwandte der besonderen Art, Brüder über Jahrtausende hinweg. Beide verbindet, auf abstrakte Art und Weise, eine merkwürdige Zeitgenossenschaft. Sie erleben beide den allmählichen Rückzug zivilisatorischer Gewissheiten, die schleichende politische Ohnmacht, den Raubbau an ihrer kulturellen Basis, den Verfall ihrer Hochkultur.
Der Grieche – wohl am besten ein Athener – würde über den Niedergang des attischen Seeimperiums klagen, das Chaos der makedonischen Herrschaft, die Einfältigkeit der Römer, die nun den Ton angaben, den Bedeutungsverlust der Akademeia, also derjenigen Schule, die einst Platon gründete und Aristoteles hervorbrachte, die aber nun – wenn überhaupt – nur noch Skeptiker und Kyniker produzierte; kurzum, den Rückzug der Hellenen aus der Weltgeschichte. Ihm wäre mit dem heutigen Europäer die angsteinflößende Ahnung gemein, es sei langsam vorbei mit der Hegemonie ihrer Kultur.
Neigt sich das europäische Zeitalter dem Ende zu?
Doch was könnte der Europäer vorbringen, um seine Melancholie zu rechtfertigen? Übertreibt er nicht? Neigt sich das europäische Zeitalter wirklich dem Ende zu, wie er behauptet? Nun, wäre er einmal quer durch den Kontinent gefahren, er hätte gute Argumente. Zuvörderst, Europa ist ein schrecklich alter Kontinent. Die Geburtenrate ist niedriger als je zuvor, in nur 15 Jahren wird die größte demographische Gruppe aus über 60-Jährigen bestehen. Wenn man mit ansieht, wie ein ganzer Kontinent vergreist, schießen einem schlagartig die Worte des Papstes in den Kopf: „Es gewinnt der Gesamteindruck der Müdigkeit und der Alterung. Wie eine Großmutter, die nicht mehr fruchtbar und lebendig ist.“
Das Abendland kann sich nicht selbst reproduzieren
Während anderswo die Geburten explodieren und den Planeten in regelmäßigen Abständen weitere Millionen und Milliarden an Menschen bescheren, kann sich das altgewordene Abendland nicht einmal mehr selbst reproduzieren. Sieht man es aber auch sonst nicht überall? Wie andere Mächte beginnen die Europäer zu übertrumpfen, ökonomisch die USA, China, Indien…? Die neueste Technik wird nicht mehr in London, Paris oder Berlin produziert, sondern aus dem Silicon Valley eingeschifft. Auch militärisch bedarf Europa dem Schutz seiner Filialkultur aus Übersee, weil es aus eigener Kraft weder Selbstschutz noch Peripherie-Stabilisierung aufbringen kann.
Der umgreifende Kulturrelativismus
Eine Kultur wird aber auch dann dekadent, wenn ihre Träger vergessen, warum man sie braucht. Der umgreifende Kulturrelativismus (Multikulturalismus ist hier nur ein Synonym), die One-Earth-Ideologie, die Menschelei mit all ihren Surrogaten, zeugen von achselzuckender Registrierung des eigenen Verschwindens. Das Bildungssystem, einst mit humanistischem Gymnasium und europäischer Universität an seiner Spitze, verkommt zu einer Massenproduktionsstätte semi-akademischen Humankapitals. Es ist also nur Symptom, dass man mittlerweile von Bachelor und Master spricht, statt von Magister und Diplom.
Unsere Gesellschaft ist individualistisch und hedonistisch
Die Gesellschaft, die daraus hervorgeht, ist individualistisch-hedonistisch, besteht nur noch aus Begeisterten des Selbst. Der dazu erfundene Begriff der „Spaß-Kultur“ ist ein derartiger Widerspruch in sich, dass man ihn kaum ruhig ertragen kann, denn was sich hinter diesem Wörtchen verbirgt hat vielleicht viel mit Spaß zu tun, aber nur sehr wenig mit Kultur. Auch politisch zerreibt sich der Kontinent, mal aus Zerstrittenheit, mal aus EU-Übereifer, nicht selten aus Lust am Untergang.
Welche große Entwicklung hat Europa zuletzt aus eigener Kraft angestoßen?
Die Frage muss erlaubt sein: Welche weltgeschichtlich bedeutsame Entwicklung hat Europa zuletzt aus eigener Kraft angestoßen? Welche Technik wurde weltweit adaptiert? Welche naturwissenschaftliche Entdeckung stellte die conditio humana ernstlich in Frage? Welcher europäische Philosoph wird neuerdings global gelesen? Man gewinnt den Eindruck, das europäische Zeitalter hat – irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts – seinen Zenit überschritten.
Einen Vorteil mag es aber geben. Denn „die Dekadenz zeigt im Zerfall eine letzte Ahnung, wie gross etwas war.“ (Hans Ulrich Bänziger) Was haben die Europäer der Welt nicht alles geschenkt? Man denke nur daran, wie die kosmische Wende den Planeten selbst an den rechten Platz rückte – Kopernikus darf man nicht ohne Grund als Begründer der Neuzeit verstehen -, oder an die scholastische Erkundung der Welt mitsamt der schöpferischen Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance, die vielen zivilisatorischen Errungenschaften, sei es Freihandel und Marktwirtschaft, Hygiene, Medizin, Kulinarisches, die großartige europäische Architektur oder der technische Fortschritt von der Hochseeschifffahrt über die Dampfmaschine bis zur Elektrizität.
Die naturwissenschaftlichen Entdeckungen von Newton bis Einstein, die großen Philosophen von Hobbes, Descartes und Leibniz über Locke, Hume, Rousseau, Kant bis zu Hegel, Schopenhauer, Byron, Mill und Nietzsche, die schöpferischen Poeten, Literaten, Musiker und Künstler, seien es Shakespeare oder Goethe, Mozart oder Bach, Da Vinci oder Picasso – „Nie wieder werde ich solche Freunde haben!“ (Botho Strauß)
Die alte Welt ist an Selbstmarginalisierung erkrankt
Das Abendland wird wohl, anders als bereits vor hundert Jahren postuliert, nicht untergehen – dafür sind seine technologisch-sozialen Reserven zu groß. Doch das was übrig bleibt, ist nur die Oberfläche der Oberfläche, die wirtschaftliche Potenz einiger großer Nationen. Überall sonst ist die alte Welt an Selbstmarginalisierung erkrankt, an Bedeutungsverlust der besonderen Art. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man in der Mitte des Kontinents, dem Herzen, das Ende am ehesten zu spüren bekommt, immerhin war Deutschland immer schon Hauptschauplatz der europäischen Entwicklung, egal ob im dreißigjährigen oder ersten Weltkrieg. Vielleicht verspürt man hier am ehesten den eigenen Verfall, die Sottise der Dekadenz. So oder so kann man nur hoffen, die Nachfolger der europäischen Zeit wissen das Erbe zu würdigen.
Der Text erschien zuerst auf „The European“
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