Wir brauchen eine Abkehr von der US-inspirierten kriegs-grünen Doktrin, Russland ruinieren zu wollen

Entrüsten wir uns! Über den nicht verhinderten Ukraine-Krieg

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Ich aber versichere dich, Vater,

dass dieses naturwidrige ›Gern-sterben‹,

welches da allen Männern zugemutet wird,

so heldenhaft es dem Aussprechenden

auch dünken mag –

mir klingt es wie gesprochener Totschlag.«

(Bertha von Suttner, Die Waffen nieder)

In Anbetracht des Völkerrechts kann der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 nur verurteilt werden. Bei aller Einmütigkeit in der Verurteilung dieses militärischen Überfalls kommen wir nicht umhin, seine Vorgeschichte zu betrachten. Im Folgenden datiert diese Vorgeschichte vom Ausschlagen der ausgestreckten Hand Putins, als dieser am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag redete, wo er unter anderem ausführte:

„Heute erlaube ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten. […] Eine der Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region. Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel. […] Tatsächlich lebte die Welt im Laufe vieler Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Konfrontation zweier Systeme, welche die ganze Menschheit mehrmals fast vernichtet hätte. […] Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.“

Vor dem Hintergrund der Ereignisse vom 24.2.2022 belehrt man uns heute, zurückliegende Aussagen Putins seien als schäbige Lügen zu werten. Es werden sogar Versuche unternommen, Initiativen zur Entspannung früherer Jahrzehnte zu diskreditieren. Doch schauen wir etwas näher hin: Als Putin sich wie oben zitiert äußerte, hatte die erste Nato-Osterweiterung 1999 bereits stattgefunden. Weitere Nato-Osterweiterungen folgten in den Jahren 2004, 2009, 2017 und 2020. Treibende Kraft hinter diesen Nato-Erweiterungen waren die USA. Vor diesem Hintergrund gelangen nicht wenige Beobachter zu dem Schluss, die aggressive US-Außenpolitik sei letztlich auch für den Überfall Russlands auf die Ukraine ein entscheidender Faktor. Zu diesen Analytikern gehört der an der University of Chicago lehrende Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer. Und eine entsprechende Warnung war bereits vom US-Diplomaten George F. Kennan in einem einflussreichen Artikel in der New York Times vom 5. Februar 1997 ausgesprochen worden, worin Kennan schreibt: „… expanding NATO would be the most fateful error of American policy in the entire post-cold war era.” [… eine Ausdehnung der Nato wäre der fatalste Fehler der US-Außenpolitik in der Phase nach dem Kalten Krieg.] In diesem Sinne spricht denn auch Papst Francesco im Interview mit dem Corriere della Sera am 3. Mai vom „Bellen der Nato an der russischen Haustür“ („l’abbaiare della Nato alla porta della Russia“), welches für die tragischen Ereignisse seit dem 24.2.22 mitverantwortlich sei. Aus der Vielzahl und Pluralität dieser Stimmen erhellt: Wir haben es nicht beileibe nicht mit einem schlichten „Narrativ des Kremls“ zu tun.

Offenbar bedurfte es unter anderem einer langen Serie von Nato-Erweiterungen, um den Putin der ausgestreckten Hand von 2001 in jenen Dämon zu verwandeln zu dem er in Zuge einer erfolgreichen Kampagne unter willfähriger Beteiligung der Presse gemacht wurde. Die Dämonisierung war erfolgreich abgeschlossen, als man allerorten hörte: Mit Putin kann man nicht verhandeln – er lebt schon lange in einer politischen Blase und zieht seine imperialen Pläne unbeirrt durch!

Indem der Westen Putin auf diese Weise erfolgreich dämonisierte, beging er jedoch einen kardinalen Fehler. Denn ein dehumanisierter Dämon spult eben einfach nur sein imperiales Macht-Programm ab und ist jeder diplomatischen Initiative unzugänglich. Gerade indem man Putin jahrelang dehumanisierte, beging man den Fehler, ihm die moralische Schuldfähigkeit für seine Handlungen zu nehmen. Ein böser Dämon konnte gar nicht anders handeln als Putin es an jenem 24. Februar 2022 tat. Die sich selbst zur „Partei der Guten“ stilisierenden USA mit ihrem Nato-Anhängsel hingegen hätten durchaus bewirken können, dass die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt. Die Guten sind ja deshalb gut, weil sie für sich eine Handlungsfreiheit reklamieren können, eine Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. – Im Unterschied zu einem entmenschlichten Dämon, bei dem man davon ausgehen muss, dass er seine Drohungen automatenhaft in die Tat umsetzen wird. Folglich ist der Westen mit seinen vielbeschworenen „Werten“ – sprich: die US-Regierung – die einzige übrigbleibende handlungsfreie Instanz, die die eingetretene Entwicklung, den Überfall Russlands auf die Ukraine, hätte verhindern müssen. Hierin liegt der Denk- und Strategiefehler der beispiellosen Dämonisierung Putins zurückliegender Jahre.

Seine Drohungen verkleidete Putin in zurückliegenden Jahren öfters in die Rede von Roten Linien, deren Übertreten er als russischer Staatschef nicht tolerieren werde. Wie das RedaktionsNetzwerk Deutschland am 18. November 2021 berichtet, beklagte Putin: „Wir machen ständig unsere Bedenken deutlich und sprechen über rote Linien.“ – Der Westen nehme diese jedoch nicht ernst. Dem entsprechend äußerte US-Präsident Biden im Vorfeld seines virtuellen Gipfels mit Putin am 7.12.2021, er akzeptiere von niemandem Rote Linien. Ganz in diesem Sinne machen die USA aus ihrer militärischen Aufrüstung und Nato-Ausrichtung der Ukraine auch gar kein Geheimnis. So teilt das Weiße Haus am 1. September 2021 auf seiner Internetpräsenz mit: Seit 2014 haben die USA 2,5 Milliarden Dollar in das ukrainische Militär investiert. Die USA würden ihr „robust training and excercise program“ ausdehnen und die Ukraine weiter zum „NATO Enhanced Opportunities Partner“ aufbauen.

Obwohl es ihr ein Leichtes gewesen wäre, wendete die US-Regierung den russischen Überfall auf die Ukraine nicht ab: Sie unterließ es, den Angriff durch das Eingehen auf Rote Linien abzuwenden und ist somit für den Überfall kausal mitverantwortlich. Unterlassungen haben häufig den Status von Handlungen – so auch hier. Die Unterlassung der US-Regierung beruht auf wohlerwogenen aktiven Entscheidungen.

Zur Kette der Kausalitäten, die den Überfall auf die Ukraine mit zunehmender Unausweichlichkeit herbeiführten, gehört nicht zuletzt die Unterlassung der US-Regierung, einen ihr am 17. Dezember 2021 vorgelegten russischen Vertragsentwurf zur Deeskalation und über gegenseitige Sicherheitsgarantien gebührend zu berücksichtigen. In der Einleitung zu diesem Vertragsentwurf heißt es, der Vertrag sei zu unterschreiben „in dem Bestreben, jegliche militärische Konfrontation und jeden bewaffneten Konflikt zwischen den Parteien in dem Bewusstsein zu vermeiden, dass ein direkter militärischer Zusammenstoß zwischen ihnen zum Einsatz von Kernwaffen führen könnte, was sehr schwerwiegende Folgen haben würde.“

In Artikel 5 des Vertragsentwurfs heißt es:

„Die Vertragsparteien verzichten auf die Stationierung ihrer Streitkräfte und Waffensysteme –einschließlich im Rahmen internationaler Organisationen, Militärbündnissen oder -koalitionen – in Gebieten, in denen eine derartige Stationierung von der anderen Vertragspartei als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit empfunden werden könnte. Ausgenommen ist eine solche Stationierung innerhalb der nationalen Hoheitsgebiete der Vertragsparteien.“

Wie gesagt, gingen die USA nicht ernsthaft auf diesen Vertragsentwurf ein. Stattdessen äußerte  der ukrainische Präsident Selenskij auf der zurückliegenden Münchner Sicherheitskonferenz vom 18. –20. Februar 2022, die Ukraine könnte durchaus aus dem Budapester Memorandum aussteigen. Was bedeuten würde: Die Ukraine könnte sich mit Atombomben bewaffnen.

Unterlasse ich es, eine klar identifizierte Gefahr abzuwenden, obwohl ich sie leicht abwenden könnte, so mache ich mich schuldig, wenn durch mein Unterlassen Menschen zu Schaden kommen. Ich mache mich insbesondere dann schuldig, wenn ich selbst bei der Gefahrenabwendung nicht geschädigt würde und die Gefahr dennoch nicht abwende. Vor diesem Hintergrund ist es daher sehr zutreffend, wenn Klaus von Dohnanyi in seinem aktuellen Buch Nationale Interessen notiert: „Europa muss sich endlich eingestehen: Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache. […] einen seriösen Versuch der USA, mit Russland in Europa zu einem Interessenausgleich zu kommen, hat es außerhalb von Rüstungsfragen nie wirklich gegeben.“

Hätten die USA den russischen Vertragsentwurf ernst genommen – oder wären sie von ihren Verbündeten dazu gebracht worden, denen für eine solche Initiative allerdings das nötige Rückgrat fehlt –, so wäre es wohl kaum zum völkerrechtswidrigen russischen Einmarsch in die Ukraine gekommen, der Tausenden ukrainischen und russischen Soldaten sowie ukrainischen Zivilisten Tod und Elend brachte.

Die obigen Überlegungen zeigen Folgendes: Ist Putin jener von imperialen Träumen getriebene Dämon, zu dem er seit Jahren stilisiert wird, so lag es allein an den handlungsfreien USA, durch Respektierung von Putin gesetzter Roter Linien den Einmarsch Russlands in die Ukraine abzuwenden. Dämonisiert man Putin hingegen nicht, so wird man realpolitisch mit ihm verhandeln müssen. Und dies bedeutet insbesondere auch eine Abkehr von der US-inspirierten kriegs-grünen Doktrin, Russland ruinieren zu wollen, die die Welt mit Sicherheit einige Schritte weiter an den Abgrund führen würde. Gewiss hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung gegen den russischen Angriff. Zugleich aber haben die Bevölkerungen von Drittstaaten das Recht, von ihren Regierungen nicht in diesen Krieg einbezogen zu werden.

Fordern wir die Mitglieder der Regierungsparteien auf, sich für Lösungen zur Beendigung dieses Krieges einzusetzen, die auf eine Neutralität der Ukraine hinauslaufe – nachdem sie gegebene Lösungen zur Verhinderung des Ukraine-Krieges ignorierten. Entrüsten wir uns!

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Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).