William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie, Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Dierlamm und Nobert Juraschitz, C.H. Beck, München 2018, 978-3-406-70044-6, 38 EURO (D)
Als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (1985 bis 1991) macht Gorbatschow mit seiner Politik der Transparenz (Glasnost) und der Umgestaltung (Perestroika) die Beendigung des Kalten Krieges möglich. Während seiner Zeit als Staatspräsident der UdSSR (März 1990 bis Dezember 1991) führen die Reformen zur Auflösung der Sowjetunion. Außerhalb Russlands ist die Wertschätzung für Gorbatschows Leistungen hoch: 1990 erhält er den Friedensnobelpreis.
Für viele Menschen im heutigen Russland gilt Gorbatschow dagegen als Verräter, der eine Supermacht auf dem Gewissen hat. Erst kürzlich hat das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum in einer Umfrage gefragt, welchem politischen Programm aus dem Jahr 1991 die Menschen folgen würden, dem von Jelzin, oder dem vom Gorbatschow. 59 Prozent meinten, keinem von beiden. Immerhin 16 Prozent hielten noch zu Jelzin. Gorbatschow dagegen waren lediglich 9 Prozent zugeneigt. Es hat auch etwas mit der aktuellen innen- wie außenpolitischen Situation Russlands zu tun. Bei den anhaltenden Spannungen mit dem Westen und der zunehmend schweren Wirtschaftslage wird die Sowjetunion zu einem historischen Sehnsuchtsort.
In diesem Spannungsfeld der Erinnerungskultur erscheint nun eine Biografie des Politikwissenschaftlers und Experte für die Geschichte der Sowjetunion, William Taubman, über den Mann, der die Welt veränderte.
Gorbatschow glaubte an den Sozialismus, an Lenin und an Marx. Er wollte nach den Verbrechen Stalins den Sozialismus durch eine „Reform“ retten und demokratisieren. (S. 266) Den Aufstieg vom Bauernjungen in das höchste Amt der Sowjetunion erklärt Taubman mit seinem Idealismus, seiner Tatkraft, sein großes Selbstvertrauen und seinen evolutionärem Vorgehen. Außerdem war er ein „brillanter Taktiker“ (S. 808), der stets an seine Prinzipien glaubte: „Bis zum Ende wiederholte Gorbatschow immer wieder seinen Glauben an den Sozialismus und betonte dabei, dass dieser den Namen nicht verdient habe, wenn er nicht wahrhaft demokratisch sei. Doch der Versuch, das sowjetische Experiment einer sozialistischen Gesellschaft zu demokratisieren, endete damit, sie aufzulösen. So gesehen half Gorbatschow, das sowjetische System zu begraben, indem er sich bemühte, es lebenswert zu machen, indem er danach trachtete, es dahingehend zu ändern, dass es den in seinen Augen ursprünglichen Idealen gerecht wurde.“ (S. 808)
Taubman kommt zu dem Schluss: „Bei all seinen Mängeln und auch wenn er seine hehren Ziele nicht alle erreichte, war er doch ein tragischer Held, der Verständnis und Bewunderung verdient.“ (S. 811)
In dieser monumentalen Biografie arbeitet Taubman brillant die Charakterzüge und die Motivation des politischen Handelns eines Mannes heraus, der die Welt veränderte. Dass Gorbatschow polarisiert, ist logisch. Jede bedeutende Person, die ein neues Zeitalter einläutet, besitzt Befürworter und Gegner. Die Enttäuschung über seine mangelhafte Wertschätzung in Russland sitzt noch immer tief, während im Westen die „Gorbi“-Rufe nie verstummen werden. Der Kampf um die Deutungshoheit in der Geschichte um die Person Gorbatschow ist in vollem Gange, in der Geschichtspolitik ist er immer noch eine bedeutende Person. Diese Biografie ist ein Teil davon, sie wird wahrscheinlich aufgrund ihrer detailgetreuen Schilderung für eine gewisse Zeit das Grundlagenwerk zur Person Gorbatschow sein.