Wie viel Kanzler steckt in Friedrich Merz?

Friedrich Merz, Foto: Stefan Groß

Er gilt als konservativ und wirtschaftsliberal – der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Ihm könnte es gelingen, die CDU aus dem Umfragetief zu alter Macht zurückzuführen. Doch wofür steht der Mann, den Merkel einst als politischen Gegner und Herausforderer entmachtete?

Das politische Berlin galt im letzten Jahrzehnt als Ein-Frau Show. Im Wesen nichts Neues. Merkel, Merkel und nochmals Merkel. Ganze Generationen kennen bis dato nur eine Regierungschefin und können sich einen Führungswechsel überhaupt nicht mehr vorstellen. In der Tat hatte die Kanzlerin – neben Helmut Kohl – einen bemerkenswert langen Atem und kontrollierte und führte die Bundesrepublik viele Jahre hindurch mit Weitsicht und Umsichtigkeit. Merkel wurde so peu a peu zur mächtigsten Regierungschefin und zur Konstrukteurin Europas und führte Deutschland wirtschaftlich zum Erfolg. Doch zum Schicksalsjahr wurde der Physikerin das Jahr 2015 und die gravierenden Fehler, die sich mit ihrer falschen Migrationspolitik verbanden. Nicht nur in Deutschland wurde sie dafür abgestraft, auch das Ausland und selbst der amerikanische Präsident Donald Trump reagierten mit Schrecken auf die Politik der offenen Türen. So schwer es für die Bilanz Merkels auch ist: am Aufstieg der AfD ist sie maßgebend beteiligt, der Brexit geht letztendlich mit auf ihr Konto und die Vision eines geeinigten Europas steht vor einem Scherbengericht. Die Flüchtlingsfrage hat Europa geteilt und derzeit ist der Kitt brüchiger denn je. Was Deutschland jetzt braucht, ist Mut zur Veränderung, was sich nicht zuletzt in einer neuen Personalie spiegeln könnte.

Während Angela Merkel und Horst Seehofer angeschlagen um den Machterhalt kämpfen, stehen die Chancen für einen alten Rivalen der Kanzlerin derzeit sehr gut. Friedrich Merz ist in der Partei kein Unbekannter und gilt vielen als echter Nachfolger nicht nur im Amt des Parteichefs, sondern auch als möglicher Bundeskanzler. Von 2000 bis 2002 stand der Jurist Merz schon im Zentrum der Macht, war Vorsitzender der Unionsfraktion und von 2002 bis 2004 Vize der Unionsfraktion. Dann verdrängte ihn Angela Merkel aus dem Amt. Und aus diesen Tagen hat Merz noch eine Rechnung mit der Kanzlerin offen. Als Finanzexperte wurde er mit der Steuerreform auf dem Bierdeckel bekannt, als Kritiker der Migrationspolitik durch seine Leitkulturdebatte, die er als erster entzündet hatte. Während unter Angela Merkel Deutschland nicht nur zusehends nach links rückte und Multikulti als Geschenk begriff, das die Gesellschaft bereichert, ging Merz dazu immer wieder auf Distanz.

Mit seinem Begriff der „deutschen Leitkultur“ kritisierte er bereits zur Jahrtausendwende den Migrationsschub von Muslimen und klagte rigoros die Akzeptanz deutscher Werte ein. In diesem Zusammenhang monierte er insbesonders traditionelle Bräuche bei Muslimen und forderte, sie müssten „unsere Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten akzeptieren“. So verwundert es nicht, dass insbesondere Friedrich Merz in den vergangenen Jahren zum heftigsten Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik wurde. Nun könnte sich der Protest gegen das Kanzleramt auszahlen und Merz die Meriten für seine Oppositionspolitik erhalten.

Unverhofft kommt oft. So könnte man die politische Karriere der letzten Jahre von Friedrich Merz bezeichnen. Denn von der Showbühne der Politik war er spätestens 2009 endgültig verschwunden, hatte sich zusehends in der Wirtschaft etabliert und Weltpolitik als Vorsitzender des Netzwerkes Atlantik-Brücke betrieben. Der Aufsichtsratschef des größten Vermögensverwalters der Welt, BlackRock, steht für viele Merkel-Gegner schon seit geraumer Zeit auf der Wunschliste, wenn es um die Ablöse von Merkel und eine Verjüngung der Partei geht.

Begonnen hatte Merz als Europapolitiker. 1989 wurde er in das Europäische Parlament gewählt, dem er bis 1994 angehörte. Von 1994 bis 2009 war er Mitglied des Bundestages und von 1996 bis 1998 Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages. 1998 wurde Merz zunächst stellvertretender Vorsitzender, und im Februar 2000 als Nachfolger von Wolfgang Schäuble Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit Oppositionsführer. Nachdem die damalige Parteivorsitzende Angela Merkel den Fraktionsvorsitz für sich selbst beanspruchte, wurde Merz zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Politisch resigniert, trat er im Dezember 2004 von diesem Amt zurück.

Im Unterschied zur Bundeskanzlerin agierte Merz nie stromlinienförmig, abwartend und anpassungsfreudig. Während Merkel die Inkarnation des taktischen Aussitzens gewesen ist, war Merz immer schon Konfrontation pur. Merz ist kein Chameleon, das beständig die Farbe wechselt, auch kein Schaf, das immer der Herde hinterherläuft und den Mainstream imitiert. Wenn es so etwas wie die Inkarnation eines Wirtschaftsliberalen gibt, dann ist es der Politiker aus dem Sauerland. Seine Tätigkeiten für und innerhalb der Wirtschaft hatten ihm aber nicht nur Freunde eingebracht. So kam es im Jahr 2006 zur Diskussionen über Interessenkonflikte von Bundestagsabgeordneten, die neben ihrem Abgeordnetenmandat weitere Tätigkeiten ausübten. 2006 hatte Merz mit acht weiteren Abgeordneten des Deutschen Bundestags beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen die Offenlegung ihrer Nebeneinkünfte eingelegt, letztendlich aber verloren.

Und in der Tat liest sich die Liste, wo Merz wirtschaftlich verwoben ist, wie das Who is Who der deutschen Wirtschaft. Er gehört zu den Aufsichtsräten der AXA Konzern AG, der DBV-Winterthur Holding AG, der Deutsche Börse AG, der IVG Immobilien AG und der WEPA Industrieholding SE. Er ist Mitglied des Verwaltungsrates der BASF Antwerpen N. V. und der Stadler Rail AG sowie der HSBC Trinkaus & Burkhardt. Seit Dezember 2017 ist er Aufsichtsratsvorsitzender des Köln/Bonner Flughafens.

„Mut zur Zukunft“, „Nur wer sich ändert, wird bestehen“ und „Mehr Kapitalismus wagen“ – allein diese drei Publikationen machen deutlich, was Merz am Herzen liegt. Das merkelsche Weiter-so, der Handlungsstau in der Großen Koalition und eine Politik auf Zeit widersprechen dem agilen Merz. Der fordert ein klares Umdenken sowohl in der Finanz-, der Sicherheits- und der Familienpolitik. Als Wirtschaftsliberaler steht er für einen neuen Aufbruch, plädiert für Deregulierung und Privatisierungen, will mehr Kürzungen bei Sozialleistungen und keinen Wohlfahrtsstaat, der Wahlgeschenke verteilt. Auch in Sachen Gentechnologie gilt er als Vorreiter. Der durch Merkel eingeleiteten Energiewende steht er weiterhin kritisch gegenüber und befürwortet die Kernkraft. 2010 unterzeichnete Merz den “Energiepolitischen Appell” und plädierte für die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke. Und auch ein Jahr später noch warnte er von einer zu schnellen und unüberlegten Energiewende.

Ob Merz energiepolitisch auf der Höhe der Zeit liegt, mag man bezweifeln, wenn man den steilen Aufstieg der Grünen mit ihrer Nachhaltigkeitspolitik und zukunftsweisender Umweltpolitik betrachtet. Tatsächlich sind es in der Tat grüne Themen, die immer mehr Wähler in die Arme von Annalena Baerbock und Robert Habeck treiben. Die Grünen hatten sich in den letzten Monaten geschickt in der politischen Mitte verortet und sowohl der Union als auch der AfD Stimmen abgenommen. Als neue „Volkspartei“ der Mitte haben sie gute Chancen, zumindest in den nächsten Monaten, dass der Zulauf weiter ungebremst bleibt.

Die Stärke von Friedrich Merz dagegen liegt woanders. Er könnte es schaffen, der angeschlagenen CDU unter Angela Merkel wieder mehr Stahlkraft zu verleihen und ihren Anhängern den verlorenen Stolz zurückzugeben. So befürwortet auch der frühere bayerische CSU-Staatsminister Thomas Goppel die Kandidatur von Merz: „Er eröffnet damit für die CDU eine immense Perspektive und setzt damit auch ein Signal gegen eine weitere Erosion hin zur AfD.“ Kurzum: Für viele bleibt Merz der einzige Hoffnungsträger, der die CDU wieder zu alter Stärke führen kann. Das vermag ihm zu gelingen, wenn er der CDU ein klareres politisches Gesicht verpasst. Weg von Multikulti hin zu einer konservativen Verortung – das wäre für die Volkspartei wahrscheinlich die Rettung und würde sie aus der Konturlosigkeit unter Merkel wieder in mehr Sonnenlicht tauchen.

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Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".