Wie Propaganda mit Propaganda bekämpft wird

„Ich bin der grüne Geist, der stets das Gute will und stets das Böse schafft!“ (frei nach Goethe)

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Der russische Außenminister Sergej Lawrow gilt als routinierter Diplomat. Doch im Interview mit dem Berlusconi-Sender Rete 4 schwatzte er am 1. Mai 2022 dummes Zeug daher, mit dem er wahrscheinlich die meisten Israelis und Juden weltweit gegen sich aufbrachte – ausgerechnet Israel, das bislang keine Waffen an die Ukraine liefert und sich auch nicht an den westlichen Sanktionen beteiligt.[1] Hitler sei wie Selenski jüdischer Herkunft gewesen. Damit legte er nahe, dass Juden durchaus im Stil des Nationalsozialismus regieren können. Der öffentliche Aufruhr folgte prompt. Der Streit um Lawrow ist ein Beispiel dafür, dass der Kampf gegen Propaganda meistens selbst nur Propaganda beinhaltet.

Politiker der gemäßigten italienischen Linken reagierten mit Empörungsmanagement;[2] Alessandra Moretti, EU-Abgeordnete der Partito Democratico (PD), nannte den „Angriff auf das Gedenken der Schoa unverzeihlich“ und erinnerte daran, dass eine der Bombardierungen einem Denkmal bei Kiew gegolten habe, wo 34.000 jüdische Menschen bestattet sind, die von den Nazis ermordet wurden. PD-Vorsitzender Enrico Letta bezeichnete das Interview mit Lawrow als „Schande für Italien“. Italiens politische Rechte reagierte hingegen zustimmend. Andrea Ruggieri, ein Abgeordneter der Berlusconi-Partei Forza Italia bezeichnete das Interview als „nützlich für Millionen italienische Zuschauer“ und für ein „Stück Zeitgeschichte“. Auch andere Politiker aus dem rechten Lager begrüßten die Rete-4-Sendung. Offenbar hat Italiens Rechte ein größeres Zutrauen in die Mündigkeit der italienischen Zuschauer als die gemäßigte Linke, die ihnen die unter Propagandaverdacht stehenden Aussagen des „Feindes“ vorenthalten möchte. Betreutes Informieren liegt im Trend, nicht erst seit Kriegsbeginn. Dabei konnte der Zuschauer von Lawrow Interessantes erfahren: Einschätzungen der russischen Regierung zur Atomkriegsgefahr, zu westlichen Sanktionen und russischen Gegenmaßnahmen, wie Russland zu Italien steht. Doch diese Themen spielten im medialen Empörungsmanagement kaum noch eine Rolle. Die Berichterstattung konzentrierte sich auf Lawrows Faux Pas.

Propaganda ist nicht einfach falsch

Lawrows Äußerungen sind im Westen als Propaganda verpönt. In der westlichen Gegenpropaganda gelten sie als Gefahr, vor der man die Bürger schützen muss. Was Propaganda ist, muss falsch sein. Doch diese schlichte Annahme folgt einer unsinnigen Schwarz-Weiß-Logik. Das Gegenteil ist richtig: Wirksame Propaganda basiert auf Fakten; nur werden sie derart ausgewählt, verzerrt, über- oder untertrieben und verbunden, dass sich ein falsches Bild von der Realität ergibt. Falschbehauptungen der Propaganda bewirken das Gegenteil, sobald sie entlarvt werden. Propaganda ist es auch, Fakten einfach zu leugnen, zu ignorieren oder als „falsch“ darzustellen, nur weil sie aus einer feindlichen Quelle stammen. Dieses Prinzip wird auch von westlichen Polit-Akteuren genutzt – was von Sputnik oder RT kommt, muss falsch sein und gehört verboten. Zur Propaganda gehört es, die passenden Fakten auszuwählen, andere hingegen zu verschweigen und so ein Narrativ zu verbreiten, das den eigenen Interessen nutzt und das Publikum über die eigenen Absichten hinwegtäuscht. Propaganda ist also etwas ganz alltägliches; wir sind alle Empfänger und Verkünder von Propaganda, manchmal bewusst, häufig unbewusst; jede geäußerte Meinung ist der propagandistische Versuch, unter den Mitmenschen die eigene Sicht auf die Welt zu verbreiten, dem können gute und schlechte Absichten zugrundeliegen.

Der propagandistische Kampf um das Wort Faschismus

Propagandistische Sprachregelungen ermöglichen es, Teile der Wirklichkeit auszublenden. Daher streiten Verkünder gegensätzlicher Narrative um Begriffe. Im März 2014 veröffentlichte die Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht, einen Aufsatz von Andreas Umland, in dem er davor warnte, die Partei Swoboda, die damals in der Ukraine mitregierte, als faschistisch oder nazistisch zu bezeichnen, weil der Faschismustheoretiker Roger D. Griffin Swoboda gegen diesen Vorwurf verteidigt habe; die Partei sei lediglich „rechtspopulistisch“.[3] Umland hatte das berechtigte Anliegen, die rechtsradikalen Phänomene in der Ukraine zu differenzieren, doch er begründete diese Notwendigkeit mit der deutschen Schuld, als ob diese die sachgemäße Verwendung der Begriffe bedinge:

„Deutsche sind in den `Bloodlands`, nicht zuletzt in der Ukraine, für Millionen Morde, Verstümmelungen, Verschleppungen, Traumatisierungen usw. zwischen 1939 und 1945 verantwortlich. Aufgrund dieser hohen historischen Hypothek sind nicht die Kritiker einer Verwendung des Faschismusbegriffs im Erklärungsnotstand.“ Umland meinte zudem: „Bei den Begriffen `Faschismus` und `Nazismus` handelt es sich sowohl in der Ukraine als auch in Russland um historisch aufgeladene Begriffe, die sich eindeutig auf das Dritte Reich und seinen Vernichtungskrieg (und weniger auf den italienischen Prototyp) beziehen. Diese Termini verbinden sich für viele Osteuropäer mit unmittelbaren Lebenserfahrungen ihrer Großeltern und anderen Familienmitgliedern.“

Die unmittelbare Lebenserfahrung der Osteuropäer war, dass die sowjetische Propaganda den Begriff Faschismus benutzte, um Nationalbewegungen zu bekämpfen und zu verleumden. Dieser propagierte Antifaschismus lobpries die eigenen Taten, übertrieb die gegnerischen Untaten und verschwieg die eigenen Verbrechen. In diesem Sinne haben die Regierenden der Russischen Föderation das Propagandavokabular der Sowjetführung übernommen. Doch Faschismus ist ein Begriff, der nicht nur in der sowjetisch-russischen Propaganda, sondern auch in der westlichen Wissenschaft benutzt wird. Er kennzeichnet durchaus einige Phänomene der ukrainischen Politik und Gesellschaft. Gewiss sind die Verhältnisse nicht derart, dass sie eine militärische „Entnazifizierung“ rechtfertigten.

Die Strategie der Verharmlosung

Aus Umlands guter Absicht, die pauschalen russischen Faschismus-Vorwürfe gegen die Ukraine zu differenzieren, entwickelte sich in den Medien die fragwürdige Praxis der Verharmlosung. So wagt kaum ein westlicher Journalist, die Asow-Bewegung als faschistisch zu bezeichnen, weil sie auch in den russischen Medien so genannt wird. Die gebräuchliche Ersatzvokabel lautet „ultranationalistisch“, was auch nicht gerade sympathisch, aber irgendwie harmloser klingt, offenbar handelt es sich um Leute, die es mit dem Nationalen etwas zu bunt treiben. Dabei sind es nicht nur Wolfsangel und Nazi-Sonne, die die Asow-Bewegung mit den Nazis teilen. Osteuropakorrespondent Florian Hassel skizzierte im April 2022, wer Mariupol verteidigt, nämlich das Asow-Regiment, das dort sein Hauptquartier hat.[4] Auch Hassel vermied die Bezeichnung „faschistisch“, beschrieb auch die übertriebene russische Propaganda über Asow und ließ dennoch keinen Zweifel, um was für eine Truppe es sich handelt. Dem Asow-Gründer Andrij Bilezkij werden derbe rassistische Sprüche nachgesagt; antifeministische Asow-Mitglieder üben Gewalt gegen LGBT-Demonstranten und gegen Roma aus. Amnesty International resümierte 2019:

„Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt kein Interesse, rechtsextreme Angriffe auf Roma und zivilgesellschaftliche Akteure stärker zu verfolgen als sein Vorgänger. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit, das Übergriffe befördert.“[5]

Selenski hat wohl keine andere Wahl, denn er ist vom jüdischen Milliardär Igor Kolomoisky abhängig, der ihm zur Macht verhalf und der auch die Gründung der Asow-Organisationen finanzierte. Asow ist nur eine der rechtspopulistischen, rechtsradikalen, rechtsextremistischen, ultranationalistischen oder eben doch faschistischen Banden oder wie man sie sonst nennen mag, welche sich in der Ukraine austoben.

Die Verklärung der Maidan-Bewegung zum Vorposten von Demokratie und Freiheit

Volodymyr Ishchenko, der zur Maidan-Bewegung forscht, sah 2019 den Maidan-Aufstand wie auch die Regierung Selenskis ziemlich kritisch.[6] Die Wahl Selenskis sei eine Antwort auf die postsowjetische Krise der politischen Repräsentation gewesen, die der Maidan-Aufstand nicht gelöst, sondern reproduziert und verstärkt habe. Die unterschiedlichen postsowjetischen Eliten der Ukraine konkurrierten miteinander und stellten ihre Partikularinteressen als Gesamtinteresse dar, wenn sie an die Macht gelangten. Auf dem „letzten, längsten und gewaltsamsten“ Euromaidan-Aufstand von 2014 sei die nationale Einheit ausgerufen worden, die die berüchtigte Ost-Westspaltung des Landes überwinden sollte. Doch jene Ukrainer, die dem Maidan gegenüber skeptisch waren, habe es befremdet, dass die legitimen Unterschiede innerhalb der ukrainischen Nation gar nicht thematisiert wurden. Ishchenko fällt ein ernüchterndes Urteil: 

„Der Euromaidan beflügelte die Hoffnungen auf eine `revolutionäre` Transformation; tatsächlich kamen die Interessen und Wünsche der verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, die durch die Revolution realisiert werden sollten, nicht einmal zur Sprache. Stattdessen verstärkte sich das Gegenüber von schwacher Zivilgesellschaft und geschwächtem ukrainischen Staat weiter. Letzterer bekam mehr Ressourcen und Möglichkeiten, um seine nationalistisch-neoliberale Agenda voranzutreiben, und agierte damit fern der Hoffnungen der meisten Ukrainer.“

Solche Darstellungen sucht man inzwischen vergeblich in den Leitmedien, es passt nicht zum Schwarz-Weiß-Schema, das in Kriegszeiten vorherrscht, Schwarz bedeutet Diktatur, Weiß Demokratie und so bringt es CDU-Vorsitzender Friedrich Merz auf den nicht nur unter geographischer Hinsicht recht verallgemeinernden Punkt:

„Es ist Krieg in Europa. Es ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine. Es ist ein Krieg gegen die Demokratie, gegen unsere Freiheit.“ und: „Das ist der große Konflikt auf der Welt: Um Demokratie und gegen Diktatur.“[7]

Diesmal wird Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt, aber „unsere Freiheit“ am Dnepr. Bei solch propagandistischer Vereinfachung passen differenzierende Informationen zur politischen und militärischen Lage nicht mehr ins mediale Konzept.

Kritik an der nationalistischen Geschichtsklitterung gilt als moralisch verwerflich

Die Tendenz zur Verharmlosung rechter und nationalistischer Gruppen wird zum scheinmoralischen Gebot, denn es geht schließlich um Opfer, um Menschenleben. Der inzwischen bekannteste Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, twitterte gegen eine kritische Meldung der nicht gerade ukrainefeindlichen Tagesschau:

 „Leute, liebe @tagesschau, lassen Sie doch endlich das Asow-Regiment in Ruhe. Bitte. Wie lange wollen Sie dieses russische Fake-Narrativ – jetzt mitten im russischen Vernichtungskrieg gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder in Mariupol – bedienen?“[8]

Das ist ein mittlerweile übliches kommunikatives Gebaren im kriegerischen Diskurs: Wer anderer Auffassung ist, soll die Kriegstoten verantworten und den Mund halten, er verbreitet sowieso nur russische Fake News.

Melnyk, der sich auf der Bundestagssitzung vom 27. Februar 2022 anlässlich der beschlossenen Zeitenwende hin zu einem neuen deutschen Militarismus von Joachim Gauck theatralisch umarmen ließ, verdeutlicht die problematische Haltung vieler Diplomaten und Politiker, die Nationen dies- und jenseits der NATO-Ostflanke repräsentieren. Vielleicht ist Melnyk privat ein netter Mensch, wenn er sich nicht in der Rolle seines Lebens befindet, nämlich Oberlehrer der Deutschen zu spielen. Doch dies feit ihn nicht vor einseitigen Geschichtsbetrachtungen im Dienste einer Erinnerungskultur, die propagandistisch ist, weil sie die Untaten der eigenen Nation unterschlägt. Melnyk lobpreist den antibolschewistischen Partisanenführer Stepan Bandera als „Helden“. Bandera bekannte sich zum Faschismus und kollaborierte mit den Deutschen.[9] Als Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) verantwortete er an der Seite der Nazis Massenmorde an Juden und Polen. Im Westen der Ukraine wird Bandera mit Denkmälern verherrlicht; im Osten des Landes ist er verhasst.

Den Ländern, die dem Hitler-Stalin-Pakt blutig zum Opfer fielen, blieben entweder Kollaboration oder Widerstand. Nationale Bewegungen widersetzten sich den bolschewistischen Besatzern und kollaborierten mit den Deutschen, die ihnen in betrügerischer Absicht die Unabhängigkeit versprachen. Viele Osteuropäer verehren den antibolschewistischen Kampf der Nationalisten als Heldentum. Ein weiteres Beispiel ist Lettland, wo in der Rigaer Innenstadt alljährlich am 16. März die Sympathisanten und letzten Veteranen der lettischen SS-Legion feierlich zum Nationaldenkmal ziehen. Die „Nationale Allianz“, die an der lettischen Regierung beteiligt ist, fördert diesen Kult, der in der lettischen Gesellschaft viel Zustimmung findet. Die meisten Teilnehmer sind keine „Faschisten“. Die SS ließ die meisten lettischen Legionäre zwangsrekrutieren. Aber manche von ihnen kollaborierten freiwillig und hatten sich, bevor die beiden Kampf-Divisionen aufgestellt wurden, bereits an den antisemitischen Verfolgungen, Massenerschießungen des Holocaust und blutiger Partisanenbekämpfung beteiligt. Das wollen die Gestalter der lettischen Erinnerungskultur nicht wahrhaben, die die SS-Legionäre zu „Helden“ des antibolschewistischen Abwehrkampfes verklären und die Kollaboration verschweigen.

„Haltet den Dieb“ – Empörung über russischen Antisemitismus verschleiert die eigene Kollaboration mit den Nazis

Zur Rechtfertigung von Lawrows steiler Behauptung zur jüdischen Herkunft Hitlers verbreitete das russische Außenministerium anschließend eine Erklärung „Über Antisemitismus“, die wiederum in Lettland für Aufregung sorgte:

„Die jüdische Herkunft eines Präsidenten ist noch keine Garantie, dass man vor neonazistischer Willkür im Land geschützt werde. Übrigens, die Ukraine ist derzeit nicht das einzige solcher Länder. Der lettische Präsident E. Levits hat auch jüdische Wurzeln. Und auch er deckt `erfolgreich` die Rehabilitation der Waffen-SS in seinem Land.“[10]

Darauf twitterte der lettische Außenminister Edgars Rinkevics, dass er aufgrund dieser „unannehmbaren antisemitischen Erklärungen“ den russischen Botschafter in Riga einbestellen werde. Die lettische Empörung täuscht darüber hinweg, dass die gewiss übertriebene Kritik an Egils Levits einen wahren Kern hat. Levits, der in Riga in einer jüdischen Familie geboren wurde, emigrierte 1970 nach Deutschland, studierte Jura in Hamburg, schaffte es bis zum lettischen Botschafter in den deutschsprachigen Ländern, amtierte als Richter diverser internationaler Gerichtshöfe, vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten am EuGH in Luxemburg. Zu seiner Karriere gehören Kontakte in nationalkonservative Kreise: Als Mitglied der Fraternitas Lataviensis kannte er Adolfs Silde. Dieser „alte Herr“ der Studentenverbindung hatte sich in den dreißiger Jahren in faschistischen lettischen Organisationen engagiert. Während der deutschen Besatzung kollaborierte er mit den Nazis, schrieb antisemitische Texte. Die lettische Wikipedia notiert zum Verhältnis Levits-Silde:

„Aufgenommen als Lette in der lettischen Studentenkorporation Fraternitas Lataviensis arbeitete [Levits] mit dem Philister Adolfs Silde zusammen, `dessen kraftvolle radikale nationalistische Richtung, die sich für die Erreichung einer beschleunigten, zumindest proportionalen Dominanz auch auf gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Gebiet einsetzt`, Levits hochschätzte.“[11]

 Der Silde zu seinem 80. Geburtstag lobpreisende Artikel, aus dem das Zitat stammt, ist noch im Internet vorhanden.[12]Nein, Levits “deckt” die lettischen SS-Legionäre nicht, er nimmt überhaupt nicht Stellung dazu. Er ließ sich von der “Nationalen Allianz” zur Wahl des Staatspräsidenten vorschlagen. Für jene, die hofften, er würde das Tabu-Thema Kollaboration thematisieren, ist er eine herbe Enttäuschung. Und aufgrund eines solchen Zitats ist auch nicht zu erhoffen, dass er sich um Ausgleich mit der russischsprachigen Minderheit in seinem Land bemüht.

Ebenso wie Melnyk wähnen sich lettische Politiker in der Rolle des Erziehers der Deutschen. Levits wurde zum am 24. Februar 2022 vom Deutschlandfunk zum Kriegsbeginn befragt. Er wertete den russischen Angriff so:

“Heute Morgen waren wir Zeugen eines Angriffsbefehls gegen einen unabhängigen Staat, und das ist zum ersten Mal seit dem 01. September 1939, als Deutschland den Angriffsbefehl gegen Polen gegeben hat, also zum ersten Mal ein Angriffskrieg in Europa.”[13]

Was war dann der Angriff der NATO auf Jugoslawien 1999? Offenbar eine Spezialoperation. Levits hofft auf einen Moskauer Regime-Change. Levits gab den Kurs in der westlichen Sanktions- und Militarisierungspolitik vor:

“Und wir müssen Russland isolieren, wirtschaftlich, also wirkliche richtige Wirtschaftssanktionen, nicht so symbolische Sanktionen, sondern wirkliche Sanktionen, und zweitens wirkliche Hilfe an die Ukraine, wie Präsident Selenskyj das gefordert hat, also militärische Hilfe, wirtschaftliche Hilfe, finanzielle Hilfe.”

Der lettische Verteidigungspolitiker Artis Pabriks forderte in einem Bild-Interview, dass die deutsche Gesellschaft ihre “pazifistische Nachkriegsphilosophie” überwinden müsse.[14] Pabriks war übrigens der erste Minister, der die SS-Legionäre seines Landes als “Helden” bezeichnete.[15] Annalena Baerbock, die Außenministerin, die einer Partei mit inzwischen offenbar anrüchiger pazifistischer Vergangenheit angehört, folgt willig den Erziehern an der NATO-Ostflanke. Baerbock  besuchte vom 20. bis 22. April 2022 die baltischen Staaten. German Foreign Policy zitierte sie mit folgenden Worten:

„Wir stärken unsere Wehrhaftigkeit“, äußerte Baerbock vor Beginn ihrer Reise; „über Wehrhaftigkeit“ aber „können wir von Lettland, Estland und Litauen viel lernen.“ Denn im Baltikum blickten „die Menschen schon seit Jahren intensiv und mit Sorge in Richtung Russland“, erklärte die Außenministerin; „ihren Erfahrungen und Einblicken möchte ich genau zuhören.“[16]

Zudem monierte die Webseite, dass Baerbock nur Gedenkstätten besucht habe, wo der Opfer des Kommunismus gedacht wird, nicht aber die Erinnerungsorte der NS-Opfer.

Der verschwiegene ukrainische Pazifismus

 Die Verharmlosung und Verklärung des ukrainischen und osteuropäischen Nationalismus geht mit einer Dämonisierung des russischen Feindes einher, deren Erläuterung ich mir an dieser Stelle erspare. Die deutschen Leitmedien liefern täglich anschaulichen Nachschub. Wie beschränkt das verkündete Narrativ ist, dass man nur mit Waffenlieferungen zur Fortsetzung des Krieges bis zum ukrainischen Endsieg „helfen“ könne, zeigen die Gegenargumente eines ukrainischen Pazifisten, der für das Verständnis des aktuellen Konflikts ganz andere Zusammenhänge aufzeigt. Yurii Sheliazhenko, der in der Ukraine lebt und das Land jetzt nicht verlassen darf, ist Vertreter der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung. Wie viele ihr angehören, ist mir nicht bekannt, ich nehme an, dass ihre Zahl bescheiden ist. Um so mehr bewundere ich den Mut dieses Aktivisten, in dieser heiklen Situation zwischen den Fronten öffentlich Position für den sofortigen Frieden zu beziehen. Obwohl er sich zur Kriegsdienstverweigerung bekennt, was in der Ukraine unter Strafe steht, meldet er sich mit Youtube-Beiträgen zu Wort.

Sheliazhenko appelliert an die westlichen Regierungen, keine Waffen zu liefern und ruft die politisch Verantwortlichen zu ernsthaften Verhandlungen auf. Er verurteilt den russischen Einmarsch, erinnert aber daran, dass die Minsk-Verträge, die die Situation im Donbass befrieden sollten, auch von ukrainischer Seite nicht eingehalten wurden. Er hält beide Seiten für gleichermaßen nationalistisch und ruft Russen und Ukrainer dazu auf, sich nicht wechselseitig als Nazis zu beschimpfen. Im Interview mit Amy Goodman, die den unabhängigen News-Kanal Democracy Now! leitet, erläuterte Sheliazhenko im März die Vorgeschichte, wie der Westen und Russland sich in die inneren Konflikte der Ukraine einmischten.[17]

 Nach den NATO-Erweiterungen sei es 2014 zur gewaltsamen Machtübernahme in Kiew durch ukrainische Nationalisten gekommen, die der Westen unterstützt habe. Russische Nationalisten und russische Streitkräfte eroberten im selben Jahr gewaltsam die Krim und den Donbass. Statt Verhandlungsbereitschaft beobachtet der Ukrainer

„diese Politik der Drohungen seitens der Vereinigten Staaten gegenüber Russland, seitens der Vereinigten Staaten gegenüber China, und diese Forderungen der kriegstreiberischen ukrainischen Zivilgesellschaft zur Einrichtung dieser Flugverbotszone.“

Zugleich verbreite sich von seinem Land aus ein „unglaublicher Hass auf die Russen“, der nicht nur das kriegstreiberische Regime, sondern auch das russische Volk treffe.

„Aber wir sehen, dass russische Menschen, viele von ihnen, gegen diesen Krieg sind. Und wissen Sie, ich möchte allen mutigen Menschen, die sich gewaltlos gegen den Krieg und die Kriegstreiberei wehren, die gegen die russische Besetzung der ukrainischen Stadt Cherson protestiert haben, meine Anerkennung aussprechen – ich bin ihnen dankbar. Und die Armee, die einmarschierende Armee, hat auf sie geschossen. Es ist eine Schande.“

Der grüne Marsch in die Militarisierung

Man stelle sich einen Grünen-Wähler vor, der Mitte der achtziger Jahre ins Koma fiel und in diesen Tagen wieder aufwacht. Die Pflegerinnen müssten ihn behutsam über die aktuellen Ereignisse in Europa informieren. Wenn man ihn fragte, wie sich seine Partei positioniere, ob sie eher das Narrativ der NATO und der EU oder das Narrativ des Pazifisten Sheliazhenko unterstütze, dürfte seine Antwort klar sein, denn er hatte damals aus pazifistischen Gründen grün gewählt. Damals hoffte er auf die Weiterentwicklung der Konzepte zur gewaltlosen Sozialen Verteidigung, wie sie Gene Sharp oder Theodor Ebert formuliert hatten. Wenn man ihn darüber aufklärte, wie sich Marieluise Beck, Anton Hofreiter und andere Grüne heutzutage äußern, riskierte man seinen sofortigen Rückfall ins Koma.

Was ist aus den Grünen geworden, die einen Großteil des linksliberalen Spektrums auf NATO-Kurs brachten? Ob die Kursveränderungen auch eine Folge der Einwirkung von Think Tanks, Stiftungen, Finanzierungen und Karriereplanungen sind, darüber weiß ich nichts, aber es wäre eine Recherche wert. An der propagandistischen Strategie, den ukrainischen Nationalismus zu verharmlosen, haben sich Grüne maßgeblich beteiligt. Was hätten die Grünen gesagt, wenn der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer, statt die rechtsextremistische und gewalttätige Organisation Combat 18 zu verbieten, auf die Idee gekommen wäre, sie in die Bundeswehr zu integrieren? Haben Grüne vehement kritisiert, dass das Asow-Regiment ein Teil der ukrainischen Armee geworden ist?

Nicht nur grüne Politiker, auch ihre Wähler bevorzugen inzwischen militaristische Lösungen. Laut Umfragen sind es allen voran sie, die die Lieferung schwerer Waffen befürworten.[18] Diese Entwicklung ist nicht zuletzt eine unbeabsichtigte Folge deutscher Erinnerungskultur: Deutschland ist mit Abstand der Hauptschuldige des Holocaust und der übrigen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Da fällt es schwer, Vertreter von Nationen, die unter deutscher Besatzung litten, daran zu erinnern, dass manche ihrer Vorfahren sich bereitwillig an den Nazi-Verbrechen beteiligten und dass ihr nationalistischer Kurs keine Lösung der ethnischen Konflikte in ihren Ländern darstellt.

Diese Zurückhaltung wird paradox, wenn Deutsche aus schlechtem Gewissen den Nachfahren der Opfer nun jeden fraglichen Wunsch nach Aufrüstung und militärischer Beteiligung von den Lippen Selenskis oder Melnyks ablesen. Nach dem Jugoslawienkrieg, bei dem es angeblich galt, Auschwitz und Völkermord zu verhindern, lassen sich die Deutschen nun mehr und mehr in den russisch-ukrainischen Krieg hineinziehen; diesmal gilt es für die grüne Wählerschaft, den millionenfachen Mord an den Ukrainern zu sühnen. Auch diesmal wird die bedingungslose Solidarität die humanitäre Katastrophe befördern, also das Gegenteil des aus schlechtem Gewissen Erwünschten erreichen.

 

[1]https://www.youtube.com/watch?v=EZEO8kCJw9s

[2]https://www.repubblica.it/politica/2022/05/02/news/lavrov_russia_italia_mediaset_reazioni_politica-347778400/

[3]https://www.boell.de/de/2014/03/28/rechtsradikalen-minister-ukrainischen-regierung-faschisten

[4]https://www.karenina.de/news/politik/asow-rechtsradikale-verteidigen-mariupol/

[5]https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/ukraine-regierung-hat-rechtsextreme-nicht-unter-kontrolle

[6]https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/252/selenskyj-symbolisiert-die-krise-der-politischen-repraesentation/

[7]https://www.cdu.de/artikel/merz-putin-fuehrt-krieg-gegen-demokratie-und-freiheit

[8]https://www.derwesten.de/politik/ukraine-botschafter-melnyk-putin-russland-tagesschau-ard-id234885005.html

[9]https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/stepan_bandera_und_die_gespaltene_erinnerung_an_die_gewalt_in_der_ukraine?nav_id=10282

[10]https://www.lsm.lv/raksts/zinas/arzemes/krievija-apsudz-izraelu-un-levitu-neonacistu-atbalstisana-un-antisemitisma.a455148/

[11] https://lv.wikipedia.org/wiki/Egils_Levits#cite_ref-starptautiski_12-0

[12]Brīvā Latvija: Apvienotā „Londonas Avīze“ un „Latvija“, Nr.30 (11.05.1987) (periodika.lv)

[13]https://www.deutschlandfunk.de/egils-levits-ukraine-russland-putin-100.html

[14]https://lcm.lv/lettische-presseschau/lettland/lettischer-verteidigungsminister-artis-pabriks-kritisiert-die-pazifistische-nachkriegsphilosophie-de?gads=2022&page=2

[15]https://www.heise.de/tp/features/Verteidigungsminister-Artis-Pabriks-bezeichnet-SS-Legionaere-als-Stolz-des-lettischen-Volkes-4560057.html

[16]https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8897

[17]https://dfg-vk.de/friedensaktivist-sheliazhenko-aus-der-ukraine-im-interview/#/

[18]https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_92012300/umfrage-mehrheit-der-deutschen-fuer-lieferung-von-schweren-waffen-an-ukraine.html