Erster Teil
I
Um mit all den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen, bedienen sich die Menschen des psychologischen Mechanismus der Komplexitätsreduktion. Was für die Psychologie gilt, trifft auf andere Weise auf die Welt der Politik zu. In der simpelsten Form begegnet uns das Muster zur Erklärung schwieriger Kausalitäten oder komplexer Problemlagen in Gestalt von Verschwörungstheorien. Als bekanntes historisches Beispiel gilt die von Parteigängern der französischen Konterrevolution zur Erklärung der Revolution bemühte freimaurerische Verschwörung, die wiederum von einigen Adepten bis in die Gegenwart auf die Illuminaten von Ingolstadt, den von dem Kirchenrechtler und Aufklärer Adam Weishaupt (geb. 1748 in Ingolstadt, gest. 1830 als Hofrat in Gotha) anno 1776 gegründeten Geheimbund zurückgeführt wird.
Die Ironie derartiger conspiracy theories – heute wittern beispielsweise manche Zeitgenossen in dem Elitentreffen der ›Bilderberg‹-Konferenz eine Art geheime Weltregierung – besteht darin, dass politische Entscheidungen von historisch fundamentaler Bedeutung naturgemäß – eben auch in liberalen Demokratien – innerhalb der Machteliten, d.h. im engstem Kreise der decision-makers, getroffen werden. Umgekehrt bleibt die für gravierende politische Entscheidungen oder für hilflose Reaktionen seitens der von den politischen Umständen getriebenen Akteure relevante Vorgeschichte historischer Zäsuren oder Umwälzungen in derlei verengender Fokussierung ausgeklammert.
Beispielsweise genügt – in aktueller Hinsicht auf das derzeitige ›Jubiläum‹ der Oktoberrevolution – zum Verständnis der Russischen Revolution nicht allein der Blick auf die am Hof in St. Petersburg miteinander rivalisierenden Machtzirkel, hier die russisch-imperiale Kriegspartei, dort die um die ›deutsche‹ Zarin Alexandra Fjodorowna gescharten Vertreter einer Verständigung mit den Mittelmächten. Die Fäden eines umfassenderen, brauchbaren Erklärungsmusters für die Revolution 1917 führen zurück bis zu den napoleonischen Kriegen, über die Dekabristen 1825 zur Bauernbefreiung 1861, über den Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 und die Revolution von 1905, über die Ära Stolypin hin zu den russischen militärischen Niederlagen und Hungerzuständen in den Kriegsjahren 1915/16 bis zur gescheiterten Kerenski-Offensive im Juli 1917. Nicht zu ignorieren sind jeweils die historische Kontingenz und/oder der biographische Zufall, etwa die persönliche Rivalität der russischen Armeekommandeure Paul von Rennenkampf und Alexander Samsonow im August 1914.
II
Auf etwas anspruchsvollerem Niveau dienen zum einfacheren Verständnis, d.h. zur Reduktion komplexer Wirklichkeit – wiederum oft abhängig von politischen Konstellationen und geistig bequemen, ideologischen Konjunkturen – theoretische und/oder ideologische Prämissen wie der von Eckart Kehr in Deutschland in den 1920er Jahren als Antwort auf die Niederlage im Weltkrieg formulierte Primat der Innenpolitik. Angesichts der realen Lage der Weimarer Republik – gerade in den kurzen Jahren innerer Stabilität aufgrund der umfangreichen Anleihen in den USA nach dem Dawesplan 1924 – stieß die These unter Historikern seinerzeit auf geringe Resonanz. Ihre Blüte erlebte sie in den 1960er bis 1980er Jahren, als sich die westdeutschen Intellektuellen mehr und mehr mit der deutschen Teilung arrangierten, viele Historiker die prosperierende westdeutsche Bundesrepublik gleichsam als ›Ende der Geschichte‹ und als historisch-politische Idealform betrachteten.
Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 brach dieses Dogma zusammen. Es wurde durch die verhüllte Wiederkehr vom Primat der Außenpolitik, und zwar einerseits in der Rede von der notwendigen ›Einbindung‹ Deutschlands in die europäisch-atlantischen Strukturen, andererseits in der Proklamation der – auch mit Militäreinsätzen wahrzunehmenden – deutschen ›Verantwortung‹ in der krisenanfälligen Welt ersetzt.
Der Begriff des bipolaren Systems, das den Ost-West-Konflikt auf theoretischer Ebene entschärfte, hatte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erledigt. Selbst der – aus dem ›System Metternich‹ abgeleitete – Begriff des internationalen Systems, der auf Darstellung, Bewahrung oder Wiederherstellung eines instabilen Mächtegeflechts zielt, ist – im Hinblick auf zahllose aktuelle ›systemwidrige‹ Konflikte – keineswegs geeignet, alle in machtpolitischen, ökonomisch-sozialen und historisch-kulturellen Diskrepanzen angelegten Ungewissheiten aufzuheben. Längst überholt wirkt heute – gerade auch im Hinblick auf die Regime in Kuba oder Venezuela – die einst in Lateinamerika florierende, marxistisch inspirierte Dependencia-Theorie. Reduktionistisch erscheint sowohl der ›amoralische‹ Freund-Feind-Begriff eines Carl Schmitt als auch dessen vermeintliche Überwindung – und faktische Umkehrung – im Zeichen der universalen, realiter selektiven Durchsetzung der Menschenrechte, last but not least die Lagerdefinition in ›links‹ und ›rechts‹, die zeitgenössische, anscheinend zeitlose Scheidelinie zwischen Gut und Böse.
Selbst in Zeiten des Kalten Krieges, in denen der Ost-West-Konflikt einerseits angesichts der kommunistischen Praxis politisch-moralische Parteinahme nahelegte, andererseits eine neutrale Betrachtungsweise im Begriff des bipolaren Systems ermöglichte, erfasste das reduktionistische Schema nicht die gesamte politische Wirklichkeit. Der Abfall Titos anno 1948 widerlegte die im Jahr zuvor von Stalins Chefideologen Andrei Alexandrowitsch Schdanow als Antwort auf die amerikanische ›Truman-Doktrin‹ (1947) verkündete ›Zwei-Lager-Theorie‹. In den 1950er Jahren profilierte sich der jugoslawische Diktator Tito sodann als ein Protagonist der ›Blockfreien‹. 1955 signalisierte die Konferenz von Bandung die Relativität des von der Sowjetunion und den USA als den jeweiligen Vormächten definierten Ost-West-Konflikts, als der indonesische Gastgeber Sukarno, der indische Präsident Jawaharlal Nehru und der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai die Solidarität der ›farbigen Völker‹ proklamierten. Doch bereits im Herbst 1962 kam es im Himalaya zu einem vierwöchigen Grenzkrieg zwischen China unter dem Großen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas Mao Zedong und Indien unter Präsident Nehru, dem einstigen Mitstreiter Gandhis.
III
Der theoretische und empirische Reduktionismus dominierte ›linkes‹ Denken in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, auf spezifische Weise in (West-) Deutschland. Anno 1952 etablierte der französische Ökonom und Demograph Alfred Sauvy den Begriff der ›Dritten Welt‹, der einige Jahre später in den an Simplifikationen überreichen neulinken Ideologien von ›1968‹ als Schlüsselpunkt antiimperialistischer Revolution und antikapitalistischer Emanzipation fungierte. Mit neo- und/oder vulgärmarxistischen Wahrheitsansprüchen aller Art blendeten die Neulinken alles aus, was nicht in ihre ›Theorien‹ passte. Mit Fidel Castro, der sich in der Kuba-Krise 1962 seiner sowjetischen Schutzmacht unterordnete, wusste man trotz aller von Jean-Paul Sartre inspirierten Sympathien nichts Rechtes anzufangen. Die revolutionären Projektionen orientierten sich stattdessen an der im Oktober 1967 im bolivianischen Dschungel gescheiterten Märtyrerfigur Che Guevara, den seinerzeit Wolf Biermann als »Jesus Christus mit der Knarre« besang.
Nicht ohne Gewicht blieb in der alten Bundesrepublik der Einfluss der an orthodox-kommunistischen, ›leninistischen‹ Doktrinen orientierten Parteigänger und Aktivisten der DKP, die sich im Gefolge der Neuen Ostpolitik als Nachfolgepartei der verbotenen KPD reetablieren durfte. Sie erfreute sich der Sympathien nicht weniger westdeutscher Intellektueller, beispielsweise Martin Walsers, und all jener, deren Bedürfnis nach Welterklärung noch immer vom antiimperialistischen Idealbild der Sowjetunion sowie der DDR gespeist wurde.
Nicht erst aus historischer Distanz enthüllt sich – von vielen Protagonisten von damals bis heute negiert (›verdrängt‹) – die Psychologie von ›1968‹ als eine spezifisch deutsche Mischung aus realen und imaginären, individuellen und – vornehmlich in Teilen des Nachkriegsprotestantismus gepflegten – kollektiven Schuldgefühlen. Diese aus der deutschen Katastrophe resultierende, ins subjektive Befinden hineinwirkende religiös eingefärbte Ideologie war gepaart mit selektiver Wahrnehmung von Wirklichkeit, utopischen ›emanzipatorischen‹ Projektionen und moralischer Selbstüberhebung einer orientierungslosen, ›vaterlosen‹ Nachkriegsgeneration, für die sich im Verlauf des Vietnamkriegs das bis dahin weithin akzeptierte Identifikationsbild der USA in das der hässlichen imperialistischen Supermacht verkehrte.
Ideologische Blüten trieb die Psychologie von ›1968‹ in den diversen konkurrierenden maoistischen Sekten. Die quasi-religiöse Verehrung für Mao – nach dem Märtyrertod des Messias ›Che‹ – entsprang einem doppelten Bedürfnis: ideell dem Verlangen nach absoluter Wahrheit, praktisch der Kontinuierung des herkömmlichen Antikommunismus/Antisowjetismus unter veränderten ideologischen Vorzeichen. Während man sich noch in Begeisterung über Maos ›Kulturrevolution‹ – in Wirklichkeit nichts anderes als ein Machtkampf innerhalb der chinesischen Eliten – erging, den ›Revisionismus‹ der poststalinistischen Sowjets anprangerte und sich über die Arroganz der ›Supermächte‹ empörte, hatte sich der tiefverwurzelte sino-russische Großmachtkonflikt über den Zwischenfall am Grenzfluss Ussuri (März 1969) bis hin zu atomaren Drohungen zugespitzt.
Der ›neulinke‹ Antiimperialismus der Maoisten gründete auf der – für eigene chinesische Zwecke betriebenen – Adaption der ›Zwei-Lager-Theorie‹. Aus derlei verengter Perspektive, die darüber hinwegsah, dass auch die ›Supermacht‹ USA das von China unter Mao unterstützte Schreckensregime der Roten Khmer unter Pol Pot anerkannte, konnte noch 1978 Joscha Schmierer, der damalige KBW-Funktionär und spätere außenpolitische Stabschef des grünen Außenministers Joschka Fischer, von der Wirklichkeit unbeschadete Reiseeindrücke in Kambodscha gewinnen. Wie die orthodoxen, an Moskau – und der DDR – orientierten Kommunisten klammerten die diversen Maoisten alles aus, was nicht in ihr Weltbild passte. Obgleich man sich zuvor für den ›nationalen Befreiungskrieg‹ der Vietnamesen begeistert hatte, wollte man nicht erkennen, dass in Südostasien uralte nationalkulturelle Antagonismen sowie Machtansprüche des ›Reiches des Himmels‹ wirksam waren.
IV
›Selbstkritik‹ – im Sinne der nüchternen Einsicht in die Komplexität von Geschichte und Politik – ist bei der ideellen (und ideologischen ) Gesamtlinken – von den Ex-Maoisten über die Rest-Stalinisten hier, die unanfechtbaren Trotzkisten dort, über in der ›Linken‹ organisierte Linke bis zu der wundersam wiedergeborenen ›Antifa‹ – kaum zu erwarten. Alle ›Linken‹, inklusive der Linksliberalen, scheinen vereint im ›Kampf gehen rechts‹. Sie verstehen sich – in gewissen Abstufungen – allesamt als Grüne, als Protagonisten des Friedens und der universalen Menschenrechte. Kaum anderes wird auch in den ökumenischen Resolutionen der Kirchen proklamiert.
Mit diesem Selbstverständnis und mit dieser Motivation kommt wiederum eine reduktionistische Denkweise, welche – da ideologiehaltig – die politische Wirklichkeit und deren historische Bedingungen weithin ignoriert, zugleich ein hochpolitisches Moment zum Vorschein. Dies festzustellen, bedeutet nicht, dass diejenigen, die für sich das Etikett ›rechts‹ in Anspruch nehmen, über einen besseren – oder objektiveren – Realitätsbezug verfügen. Auch im ›rechten Lager‹ findet – im Hinblick auf behauptete, vermeintlich zeitlose anthropologische und historische Konstanten – Reduktionismus statt. Der linke Reduktionismus neigt zur Unterschätzung historisch-kultureller Gegebenheiten, ignoriert geopolitische Koordinaten und machtpolitische Kontinuitäten sowie die Grenzen der als universal proklamierten ›Emanzipation‹ der Individuen. ›Rechte‹ betonen – zu Recht – die Bedeutung von Kulturtraditionen im Raum des Politischen, übersehen dabei jedoch die Chancen – und Fakten – des historisch-kulturellen Wandels in unterschiedlichen Weltregionen.
Hier (links) – ›linker‹ Ideologiekritik entrückte – Menschenrechte und Emanzipation, dort (rechts) (ethnisch-)kultureller Essentialismus und ethischer Kulturrelativismus – die Begriffsreduktion ›rechts-links‹ eskamotiert das realhistorisch offenkundige Faktum, dass beide ›Lager‹ der europäisch-westlichen Kulturtradition, genauer: der im »Zeitalter der demokratischen Revolution« (R. R. Palmer) politische Praxis gewordenen Aufklärung entstammen. Die im Zeichen der ›Globalisierung‹ – realiter seit dem Zeitalter der europäischen Expansion – exportierten, in der Ära der Entkolonialisierung teils adaptierten, teils bekämpften Begriffsmuster und/oder Ideologien sowie Herrschaftskonzepte entspringen demselben westlichen kulturhegemonialen Universalismus oder – in ›kritisch‹ aufgeladener Terminologie – demselben ›Kulturimperialismus‹.
V
Die von Komplexität geprägte weltpolitische Szenerie liefert eine Fülle von Anschauungsmaterial zur Infragestellung der von unseren Eliten bevorzugten Analysen und daraus abgeleiteteter politischer Strategien. Es geht dabei
a) um die Überzeugung von der Überlegenheit des eigenen Wertesystems gegenüber anderen Ordnungsmodellen bei gleichzeitiger Hinnahme des Faktischen, heute etwa im Umgang mit dem für westliche Mahnungen unempfänglichen China, dem ›Reich der Mitte‹
b) um die unter dem Zauberwort ›Demokratie‹ und/oder ›nation-building‹ betriebenen Modernisierungskonzepte europäisch-amerikanischer, ›westlicher‹ Herkunft im Zuge der Entkolonialisierung
c) um die moralisch überhöhten Interventionen in für eigene Interessen als bedrohlich wahrgenommenen Krisenherden
d) schlichtweg um die Verteidigung einer als politische Idealform befundenen Ordnung – wie in dem nach dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung etablierten EU-Europa.
Im Rückblick erscheint – mit der epochalen Ausnahme des Sieges über Hitler-Deutschland – die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts von Fehlwahrnehmungen, Fehlentscheidungen und Fehlschlägen geprägt. Erwähnt sei immerhin, dass dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt wenige Wochen nach der Jalta-Konferenz, kurz vor seinem Tode (12. April 1945), gewisse Zweifel an der friedenspolitischen Lauterkeit seines Verbündeten Stalin gekommen sein sollen. Für die liberale Elite der USA bot danach der anno 1947 sichtbar einsetzende Kalte Krieg ein plausibles Erkenntnis- und Handlungskonzept. Dessen Scheitern signalisierte der 1945 mit der Rückkehr der Kolonialmacht Frankreich einsetzende Vietnamkrieg, der erst durch das Arrangement der ›Realisten‹ Henry Kissinger und Richard Nixon mit der imperialen Großmacht China zu einem bitteren Ende gebracht wurde.
Welche Kette von tiefer verwurzelten Kausalitäten und konkreten Realitätsverkennungen seitens des inneren Machtzirkels in der ausgehenden Ära Breschnew zum Zusammenbruch der sowjetrussischen Großmacht 1989/1991 führten, bedürfte einer mehrbändigen Darstellung. Ein wesentlicher Faktor – ein die Delegitimierung des Regimes beschleunigender Fehlgriff – war die Entscheidung des Politbüros zum Eingreifen in Afghanistan im Dezember 1979. Die seit Jahrzehnten anhaltende blutige Misere in Afghanistan liefert ein geradezu klassisches Beispiel für das Versagen vermeintlich ›zielführender‹ Konzepte.
Von den kriegerischen Zusammenstößen mit dem britischen Empire – zuletzt im Jahre 1919 – sowie den herkömmlichen Machtkämpfen an der Spitze abgesehen, könnte man als ein Ausgangsdatum für das seit Jahrzehnten anhaltende Chaos die Gründung der deutschen Oberrealschule in Kabul durch Emir/Schah Amanullah Khan anno 1924 nennen. In dem von archaischen Traditionen, Stammesloyalitäten und -rivalitäten geprägten Land signalisierte sie die Einleitung eines Modernisierungsprozesses, welcher – parallel zu gewaltsamen Machtkämpfen an der Spitze – von Anbeginn erste Aufstände von traditionalistischen Kräften hervorrief.
Dieses Muster wiederholte sich 1973, wenige Jahre nach dem Putsch des früheren Premierministers Mohammed Daoud Khan gegen seinen Cousin Mohammed Sahir Schah. Der Paschtune Daoud hatte als Premier aus nationalistischen, gegen Pakistan gerichteten Motiven die Anlehnung an die Sowjetunion betrieben, begann sich aber später als Präsident von den Sowjets abzuwenden, nicht zuletzt um den Einfluss der – in mehrere Flügel gespaltenen – Kommunisten zurückzudrängen. Das mündete 1978 in den von sowjetischer Seite inspirierten Militärputsch und die Ermordung Daouds. Allen um die Führung rivalisierenden Kräften, hinter denen wiederum Antagonismen zwischen Tadschiken und Paschtunen (sowie den anderen Stammesgesellschaften) zum Vorschein kamen, ging es um den Fortschritt ihres Landes am Hindukusch. Die von Kabul ausgehende ›westliche‹ Modernisierung unter kommunistischen Vorzeichen mündete in das gewaltsame Aufbegehren aller in Religion und Tradition verwurzelten, unter paschtunischer Oberherrschaft versammelten Bevölkerungsgruppen gegen die russischen und amerikanischen Führungsmächte.
Dass von Anbeginn auch die Regionalmächte – Pakistan und Iran – ihre Finger im Spiel hatten, gehört zur Komplexität des Konfliktbündels. Womit die Amerikaner – anders als nach blutiger Erfahrung die Russen mit Blick auf die innerasiatischen Republiken – bei der Unterstützung der islamischen Mudschaheddin nicht gerechnet hatten, dass sich der Aufstand gegen die atheistischen Modernisierer alsbald gegen sie selbst richten würde. Die weiteren Stationen des ›fundamentalistischen‹ Aufstands gegen den Westen sind bekannt: Anfangs noch von den Amerikanern unterstützt, konnten die Taliban ihr finsteres Regime errichten. Inzwischen waren aus dem ganzen arabischen Raum – organisiert und bezahlt von den wahabitischen Saudis – Tausende von Kämpfern, darunter ein Osama bin Laden, nach Afghanistan gezogen, um den Kampf gegen die Gottlosen aufzunehmen. Afghanistan wurde in den 1990er Jahren zur Geburtsstätte des – ideologisch bereits im frühen 20. Jahrhundert ausgebildeten – terroristischen Islamismus.
Im Gefolge der seit über fünf Jahrzehnten anhaltenden Einwanderung aus dem orientalischen Raum haben sich – ungeachtet aller Konzepte und Maßnahmen zur ›Integration‹ in die säkularen, pluralistischen Gesellschaften Westeuropas – faktische Parallelgesellschaften herausgebildet. Diese wiederum bilden den Nährboden für den ›islamistischen‹ Terrorismus. Ein Ende von Krieg und Terror in Afghanistan, d.h. eine auch nur hinlängliche Befriedung des Landes am Hindukusch – wo nach den Worten des verstorbenen SPD-Politikers Peter Struck auch die Sicherheit Deutschlands verteidigt wird – ist nicht abzusehen. Darüberhinaus erleben wir – als Seitentrieb der aus westlicher Perspektive ›reaktionären‹ Kulturrevolution im gesamten islamischen Raum – im ehemaligen Jugoslawien die Etablierung eines islamischen Regimes in Sarajewo sowie – im Kosovo unter dem Protektorat von Nato und EU – die nach Westeuropa ausstrahlende Verbreitung mafiöser Clan-Strukturen auf dem Balkan. Der Begriff ›Komplexität‹ klingt bezüglich derartiger Verhältnisse wie ein understatement.
VI
Die Komplexität des Politischen wird nirgends so greifbar wie im nahöstlichen Krisenbogen. Die Anfänge der derzeitigen Zustände im Irak, in Syrien, im Jemen sowie anders gelagert in der Türkei liegen im Zusammenbruch des Osmanischen Reiches sowie der Intervention der europäischen Mächte vor, während und nach dem I. Weltkrieg. Die daraus resultierende Poblematik wurde nach dem II. Weltkrieg lange überlagert von der Logik des Ost-West-Konflikts und den importierten Ideologien des Nationalismus und Sozialismus.
Mit der Gründung des – militärisch, technologisch und kulturell überlegenen – Staates Israel kam ein für das Konfliktfeld wesentlicher Faktor hinzu. Allein dessen auf unbedingte Existenzbehauptung gegründete Politik ist im Rahmen einer Konfliktanalyse ohne weiteres verständlich: Sie steht im Zeichen einer von sacro egoismo diktierten Staatsräson und variiert entsprechend äußerer und innerer Faktenlage das Verhältnis von Freund und Feind. Daraus resultieren derzeit äußerst verquere Konstellationen. Israel und die – für die Expansion des sunnitischen Islamismus hauptverantwortlichen – Saudis pflegen neuerdings gute Beziehungen. Der gemeinsame Feind ist das schiitische Regime im Iran, dessen Verbündete im Irak und in Syrien sowie die Hisbollah im Libanon.
Nicht zufällig – im Hinblick auf Iran und Syrien – unterstützt Israel derzeit den Versuch einer kurdischen Staatsgründung durch Masud Barzani. Mit diesem Ziel (und dem von diversen kurdischen Kräften verfolgten Fernziel eines vereinigten Kurdistan) geriet der Kurdenführer nicht nur bereits in Konflikt mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan – dessen illiberales (›konservatives‹), neo-osmanisch orientiertes Regime gehört zu den vielen Unsicherheitsfaktoren europäischer Politik –, sondern provozierte die offene Unterstützung Teherans für die irakischen Schiiten bei der Eroberung von Kirkuk, welches die Peschmerga soeben von den Terrorbanden des ›Islamischen Staates‹ befreit hatten. Überdies stoßen die von amerikanischen Regierungen bereits mehrfach düpierten Kurden mit ihren Plänen auf Ablehnung der – dank dem 2003 in ›demokratischer‹ Absicht (regime change) unternommenen Feldzug gegen den ›säkularen‹ Diktator Saddam Hussein – für die derzeitige Wirrnis in Nahost maßgeblich verantwortlichen USA.
Man mag den USA den Vorwurf machen, sie verfügten seit dem Ende des Kalten Krieges in dem nahöstlichen Krisenensemble über kein klares, widerspruchfreies Konzept. Ein solches Urteil zielte an der komplexen Wirklichkeit vorbei, umso mehr, als mit der potentiellen Atommacht Iran ein weiterer, schwer berechenbarer Faktor ins Spiel gekommen ist. Sind die Anschuldigungen des US-Präsidenten Trump der Vertragsverletzungen gänzlich abwegig? Was geschieht, wenn der unter Obama auf zehn Jahre ausgehandelte Atomvertrag mit dem Iran ausläuft? Die westliche Hoffnung auf einen Sturz des Mullah-Regimes bleibt spekulativ. Selbst für diesen Fall wäre nicht anzunehmen, dass die nahöstliche Großmacht – wie zu Zeiten des 1979 von der ›Islamischen Revolution‹ weggefegten Schah Reza Pahlavi – als Verbündeter des Westens fungieren würde.
Was die Lage in Syrien betrifft, so scheint aus dem seit Jahren andauernden Bürgerkrieg – eine blutige Illustration des bellum omnium contra omnes – der Alawit Baschar al-Assad als blessierter Sieger hervorzugehen. – [Siehe auch hier und hier.]– Er verdankt sein politisches Überleben zum einen der Unterstützung des an schiitischer Dominanz interessierten Iran, zum anderen dem geopolitischen Kalkül des unter Putin zu neuer Militärmacht gelangten russischen Imperiums. Was dabei heute russische Großmachtpolitik von westlichen Strategien unterscheidet, ist der Verzicht auf Ideologie. Umgekehrt mündete das, was von der liberalen Öffentlichkeit im Westen als ›arabischer Frühling‹ gefeiert wurde, in Syrien in das Chaos des Bürgerkriegs, in Ägypten in eine neuerliche Militärdiktatur, in Libyen – auch dank westlicher Intervention – in die Wirklichkeit eines failed state.
Dies festzustellen, heißt nicht, die Diktatur des 2011 auf barbarische Weise getöten Muammar al-Gaddafi zu verharmlosen oder übermäßige Sympathien für den ›säkularen‹ Syrer Assad zu bekunden.
VII
Es gilt klarzustellen, dass in Gestalt der von der politisch-medialen Klasse verharmlosten ›Flüchtlingskrise‹, die Komplexität des Politischen – eine Vielzahl von schwer berechenbaren Faktoren und Prozessen – mitten in die vermeintlich stabil geordneten Gesellschaften Europas hineinwirkt – insbesondere nach Deutschland, wo politische Vernunft nur selten zu den Stärken der politischen Kultur gehörte.
Die – von wenigen Stimmen der Vernunft abgesehen – von der politisch-medialen Klasse, nicht zuletzt von den Kirchen, allgemein begrüßte Grenzöffnung der Kanzlerin Merkel für reale und fiktive Flüchtlinge gehört nicht dazu. Die Folgen dieser ›spontanen‹, mithin unreflektierten, irrationalen Entscheidung – eine Missachtung von Verträgen und Parlament – sind inmitten eines ohnehin hochproblematischen ethnisch-kulturellen Transformationsprozesses nicht abzusehen. Sie fügen der Komplexität unserer – im europäischen Kontext historisch belasteten – ›hoch entwickelten‹ deutschen Gesellschaft ein weiteres dispersives, dysfunktionales Element hinzu.
Es ist evident, dass zur Darstellung der durch anhaltende Immigration entstandenen Problematik ethnisch-kultureller und/oder -religiöser Spaltungen herkömmliche Klassenbegriffe (neuerdings underclass) sowie entsprechende Sozialmaßnahmen zu deren Behebung die Wirklichkeit verfehlen. Über die familiären und kulturellen Bindungen der Migranten an ihre Herkunftsländer kommt in den Außenbeziehungen der europäischen Länder ein Unsicherheitsmoment hinzu. Im Hinblick auf die anhaltende Immigration aus islamischen Ländern sowie aus Afrika stellt sich in absehbarer Zeit die innergesellschaftliche Entwicklung (West-)Europas als womöglich unlösbarer Problemkomplex dar – auch wenn die Eliten dies mehrheitlich nicht so sehen wollen. [Siehe auch hier.]
Quelle: Globkult