Auf der „Achse des Guten“ ist meine Rezension des Buches von Christian Hiller von Gaertringen: Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens (München; FinanzBuchBuchVerlag, 2022) erschienen: https://www.achgut.com/artikel/die_aufstrebenden_schwellenlaender_und_die_multipolare_welt
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und dem – von Trump eröffneten, unter Biden fortgesetzten – „neuen Kalten Krieg“ zwischen den USA und China seien noch ein paar Informationen hinzugefügt. China ist längst über die ihm – nach wie vor ausgeübte – Rolle als Kopierer oder Imitator westlicher Technologie hinausgewachsen. Anno 2020 meldete China internationale 68.703 Patente auf verschiedenen Gebieten moderner Hochtechnologie (Halbleiter, Elektromobilität, Internet of things (IoT), Künstliche Intelligenz, Robotik) an, mehr als die USA und mehr als Europa.
Das von der an „einem China“ festhaltenden Volksrepublik mit Drohungen, von den USA mit Sicherheitsgarantien bedachte Taiwan (Republik China) ist der weltweit größte Hersteller von Computerchips. Im MSCI Emerging Market Index liegt Taiwan Semiconductor mit einem Unternehmenswert von 500 Milliarden Dollar an der Spitze, gefolgt von den chnesischen Internetgiganten Tencent mit 450 Millarden und Alibaba mit 400 Milliarden. Dagegen beträgt der Börsenwert des größten deutschen Unternehmens Vokswagen laut Dax nicht mehr als 140 Millarden Euro. (63f.)
Soweit Militärausgaben Rückschlüsse auf – noch (!) – bestehende globale Machtverhältnisse zulassen, sind noch folgende Daten relevant: Der Militärhaushalt der USA lag (2021 ?) mit mehr als 800 Dollar noch weit vor China mit knapp 300 Millarden. Mitgroßem Abstand folgten Indien mit rund 77 Millarden und Russland mit rund 66 Millarden Dollar. Leider fehlt dazu im Buch, wo der Autor auf die den schwindenden militärischen Einfluss der USA verweist (197f.), die Quellenangabe. *
Durch den Ukraine-Krieg, dessen Ende und Folgen nicht abzusehen sind, sowie die spektakulären Klimaproteste hat sich unser Blick auf das Weltgeschehen erneut „eurozentristisch“ verengt. Mit dem programmatisch klingenden Titel seines Buches lenkt der Wirtschaftsjournalist Christian Hiller von Gaertringen die Blickrichtung auf die Prozesse, die im globalen Maßstab im Gange sind und im Zuge der – im Gefolge von Covid schmerzhaft bewusst gewordenen – „Entglobalisierung“ die Zukunft des Globus bestimmen.
Nicht zufällig nimmt der Autor als Ausgangspunkt seiner Kritik an westlicher Selbstgefälligkeit die 1989/1991 von Francis Fukuyama proklamierte These vom „Ende der Geschichte“ im Zeichen siegreicher liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft. Fukuyamas Zukunftsvision einer global fortdauernden Pax Americana wurde alsbald widerlegt durch den Aufstieg Chinas – unter ungebrochen kommunistischer Diktatur – zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht sowie durch das aus dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums hervorgegangene autoritäre Regime Putins. Als politisch aktuelle Pointe wirkt die Hypothese, Putin hätte die Ukraine nicht angegriffen, wenn er nicht die USA – nach ihrem Debakel im Irak und in Afghanistan – als geschwächte Weltmacht wahrgenommen hätte.
Hillers These, die Zukunft liege in einer multipolaren Welt, mag nicht sehr originell wirken. Nichtsdestoweniger belegt er sie mit Fakten der Wirtschafts- und Kulturgeschichte sowie anhand von Daten, die über unser conventional wisdom hinausreichen. Eine 2022 veröffentlichte Studie des Internationalen Währungsfonds (IMF) diagnostizierte eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung in den entwickelten Ländern von 5,2 Prozent im Jahr 2021 auf 1,4 Prozent im Jahr 2023. Dagegen würden die Schwellenländer 2023 mit 3,8 Prozent fast dreifache Wachstumsraten erzielen.
Die welthistorische Tendenz von der westlich dominierten Welt zum Aufstieg der Schwellenländer (emerging nations) stellt Hiller in Relation zu den vier Phasen der Industriellen Revolution. Nach der ersten Phase der Industrialisierung, geprägt von Dampfmaschine, Eisen- und Textilindustrie, sowie im Zeichen des Freihandels steht das 19. Jahrhundert (1815-1880) unter der Vormacht Großbritanniens und seines Empire. In der zweiten Phase (1880-1945), geprägt von Chemie, Elektrizität und Verbrennungsmotor als führenden Sektoren, war die industrielle Welt multipolar unter den europäischen Mächten (England, Deutschland, Frankreich) sowie den USA aufgeteilt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sicherten die USA im Zeichen der von ihnen geschaffenen Institutionen (UNO, GATT/WTO, IMF, Weltbank etc.) samt liberalem Werteystem die Dominanz des Westens. Dank der – von rapiden Entwicklungen im Computersektor seit den 1970er Jahren geprägten – Dritten Industriellen Revolution habe die USA ihre Vormacht noch über einige Jahrzehnte behaupten können. Mit der fortschreitenden, nahezu alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung sei die Vierte Industrielle Revolution (Stichwort: Künstliche Intelligenz) angebrochen. Diese begünstige den Aufstieg der Schwellenländer, verlagere die Wirtschaftsgewichte und bilde die ökonomisch-technische Grundlage der multipolaren Weltordnung des 21. Jahrhunderts.
Den Ausführungen über die Wachstumsdynamik der Schwellenländer vorangestellt ist ein Kapitel mit dem Titel „Die goldenen Zeiten des Westens – und eine Moral mit zweierlei Maß“ sowe ein weiteres über Aspekte der Abkehr vom Westen. Der Autor verweist auf die Diskrepanz zwischen den Proklamationen der Menschenrechte in der Amerikanischen und der Französischen Revolution und deren fragwürdiger Praxis. Dazu gehörten nicht nur Sklaverei und Rassentrennung, sondern auch der 1875 von der Dritten Republik beschlossene „Code de l´ Indigénat“, der in Algerien – sowie später in allen Kolonien – der einheimischen Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte vorenthielt.
Derlei Fakten nährten ehedem die Sympathien der westlichen Linken für die militanten Emanzipationsbestrebungen in der sogenannten „Dritten Welt“. Heutige Linksgrüne – sofern nicht naive Verfechter von „diversity“ – sowie Liberale müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit im „globalen Süden“ nicht nur auf kulturelles Unverständnis – begründet in alten Kulturtraditionen wie des Buddhismus oder des Konfuzianismus –, sondern als Ausdruck westlicher Überheblichkeit auf Ablehnung stoßen. Der an der Lee Kuan Yew School of Public Policy der Nationalen Universität von Singapur lehrende frühere Diplomat Kishore Makhabani erklärt, die Menschen in den Schwellenländern hätten viel zu lange in einer „angelsächsischen Blase“ gelebt. „Unser Verstand war kolonisiert .“ Mehr noch, er zweifelt am Charakter der westlichen Demokratie: „In Wahrheit bekamen die Amerikaner und Europäer die Plutokratie.“ (72, 97)
Als Doppelmoral, Bevormundung und/oder Egoismus werden in den aufstrebenden Ländern nicht nur die menschenrechtlichen Ermahnungen, sondern auch – beispielsweise in einem „grünen“ EU-Aktionsplan für „mehr Wohlstand, Frieden und Nachhaltigkeit“ (2020) verpackte – Forderungen nach umweltschonender Produktion wahrgenommen. Im Zuge der Globalisierung wurden – aus Kosten- wie aus Umweltgründen – schmutzige Schlüsselindustrien wie Stahl- und Aluminiumproduktion nach Indien, China und Südkorea verlagert. Die Folgen werden derzeit angesichts der unterbrochenen Lieferketten spürbar.
Umgekehrt können Umweltdiktate nichtwestlichen Unternehmen Nutzen bringen. Als anno 2020 Siemens Energy aus einem der weltweit größten Kohlekraftwerke in Australien aussteigen musste, baute die Adani Group aus Indien die Bahnstrecke zur Verschiffung der Kohle ohne die deutsche Signaltechnik. Vor dem Hintergrund deutscher Umwelt- und Energiedebatten ist festzuhalten, dass laut Global Coal Exit in 60 Ländern der Welt Kohlekraftwerke geplant oder im Bau sind, die zusammen 579 Gigawatt Strom liefern sollen. Die Leistung eines Atomkraftwerks beträgt ein Gigawatt. (85f.)