Werner Patzelt: Warum hat der Bundestag Angst vor einer AfD-Bundestagsvizepräsidentin?

Deutscher Bundestag Foto: Stefan Groß

Wie ist zu bewerten, dass die Mehrheit im Bundestag sich einmal mehr weigerte, jemand aus der AfD-Fraktion zum Vizepräsidenten des Parlaments zu wählen? – Rein emotionale Reaktionen (etwa zwischen „richtig so!“ und „Saustall!“) bringen nicht weiter. Klären wir lieber sinnvolle Beurteilungsmaßstäbe und sehen wir dann, wie sich anhand ihrer die gestrige Bundestagsentscheidung ausnimmt.

Erstes Urteilskriterium: „Wen soll man wählen? Doch nur den, welchen man mag!“ – Das ist zwar grundsätzlich richtig. Doch im Parlament werden von der Wählerschaft dank freier Wahl nun einmal auch jene gemeinsam vor den zu ziehenden Staatskarren gespannt, die einander oft nicht einmal riechen können – so wenig, wie insbesondere Grüne und AfDler. Und in einer pluralistischen Demokratie ist das Parlament eben jener politische Ort, an dem alle sachlichen Gegensätze öffentlich aufeinander prallen sollen (!) und dabei, aufgrund der Natur politischer Auseinandersetzungen, sich oft mit persönlichen Gegensätzen potenzieren. Umso wichtiger wird es dann, dass ein Parlament diese Gegensätze in sich aushält und mit ihnen so umgeht, dass beim Austragen auch aufwühlender Streitsachen nicht die institutionelle Glaubwürdigkeit des Parlaments gegenüber der Bürger- und Wählerschaft verspielt wird.

Diesem wichtigen Ziel dient, was man den „wünschenswerten parlamentarischen Stil“ nennt. Zu ihm gehört auf alle Fälle das wechselseitige Zuhören und Lernen, gerade auch aus gegnerischen Argumenten. Und dazu gehört vor allem Konsequenz beim Anwenden selbstgesetzter Regeln. Die aber sollten fair sein. Der Bundestag setzt diese Forderung weitestgehend und sehr gut dadurch um, dass er alles, worauf seine Mitglieder Anspruch haben, proportional zu den Fraktionsgrößen verteilt – von der Redezeit im Plenum bis hin zu den Vorsitzen in den Ausschüssen des Bundestages. Ganz in diesem Sinn hat er vor einem Viertaljahrhundert beschlossen, alle Parlamentsfraktionen sollten einen der Bundestagsvizepräsidenten stellen. Deshalb ist zu kritisieren, dass gestern die Mehrheit der Abgeordneten eine selbst (!) aufgestellte Regel gerade nicht eingehalten, also sich unfair benommen hat – und in dieser Wahlsache nun schon zum wiederholten Mal.

Zweites Urteilskriterium: „Ein Abgeordneter ist bei seinen Wahl- und Abstimmungsentscheidungen an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.“ – Das ist wirklich gut so. Diese Regel hindert aber nicht daran, als Abgeordneter beim Nachdenken über eine Entscheidung auch deren Folgen zu bedenken sowie – falls diese als ein größeres Übel erschienen denn der jeweilige Entscheidungsgegenstand – sich in solchen Fällen, und zwar erneut ganz nach eigenem Ermessen, eben anders zu entscheiden, als man das ohne eine Abschätzung jener Risiken und Nebenwirkungen, also nur den eigenen Wünschen und Gefühlen entsprechend täte.

Also ist die Aussage sehr richtig, es könne kein Abgeordneter zur Entscheidung für einen AfD-Politiker als Vizepräsident des Bundestages angehalten werden, falls er – oder sie – einen solchen Kandidaten schlicht nicht wählen will. Nicht weniger richtig ist aber die Aussage, dass die Folgen eigener Entscheidungen selbst dann eintreten, wenn man diese Folgen nicht will. Kein Abgeordneter muss beispielsweise Fraktionsdisziplin üben und einer Gesetzesvorlage der eigenen Fraktion zustimmen, und es muss auch kein Parlamentarier bei einer Vertrauensfrage einem wenig gemochten Regierungschef aus den eigenen Reihen das Vertrauen aussprechen. Trotzdem wird man abwägen, mit welcher Entscheidung man mehr Nutzen oder mehr Schaden anrichtet – und für wen. Somit ist festzustellen, dass sich die Bundestagsabgeordneten gestern ganz rechtskonform verhalten haben – doch dass unabhängig davon auch noch zu prüfen ist, ob sie ebenfalls politisch klug entschieden haben.

Drittes Urteilskriterium: „Wenn man ein Ziel erreichen will, sollte man zielführende Mittel anwenden – falls man sich nicht lächerlich oder verhasst machen will.“ Es ist jedenfalls ganz in Ordnung, wenn Abgeordnete anderer Fraktionen die AfD nicht mögen und bei der nächsten Wahl aus dem Bundestag verdrängen wollen. Umgekehrt ist es ebenso in ganz in Ordnung, wenn Abgeordnete der AfD-Fraktion andere Parteien nicht mögen und diese bei der nächsten Wahl weit überholen, ja sogar aus dem Bundestags verdrängen wollen. Das alles sind nämlich politische Ziele, die für falsch zu halten in einer pluralistischen Demokratie ebenso in Ordnung ist, wie sie anzustreben. Der Mehrwert von pluralistischer Demokratie, ihrerseits widergespiegelt in einem bunten Mehr-Parteien-Parlament, ist ja nicht Einmütigkeit, sondern politischer Streit samt der von ihm ermöglichten politischen Lernfähigkeit.

Doch es ist schlechterdings unklug, beim politischen Streit solche politischen Mittel einzusetzen, die einen dem angestrebten Ziel nicht näher bringen, sondern es vielmehr in die Ferne rücken. Unklug ist es somit seitens der AfD, für Wahlämter Leute vorzuschlagen, gegen deren Wahl gute inhaltliche oder persönliche Gründe sprechen können. Doch es ist nicht weniger unklug, solche Amtsträger, die es aus Fairnessgründen zu wählen gälte (siehe Kriterium 1), selbst dann nicht zu wählen, wenn gegen sie persönlich kaum etwas einzuwenden ist.

Bei der erneuten Ablehnung der AfD-Kandidatin für das Amt des Bundestagsvizepräidenten mögen sich viele Abgeordnete zwar wie Verteidiger unserer parlamentarischen Demokratie vorgekommen sein. Doch die ist überhaupt nicht gefährdet, bloß weil eine AfD-Abgeordnete als Sitzungspräsidentin amtieren und dabei Ältestenrat ebenso kontrolliert würde wie jeder andere Sitzungspräsident. Viele ablehnende Abgeordnete mögen auch von der Empfindung geleitet worden sein, auf diese Weise „Haltung gezeigt“ und „der AfD Widerstand geleistet“ zu haben. Bei einer geheimen Abstimmung braucht es aber nicht viel Haltung, und wirksamen „Widerstand gegen die AfD“ leistet man am besten, indem man Wähler davon abbringt, bei dieser Partei ihr Kreuz zu setzen.

Nach allen Erfahrungen mit den Folgen bislang modischer Auseinandersetzungsweisen mit der AfD kann man dessen gewiss sein, dass durch das neuerliche unfaire Verhalten der Mehrheit im Bundestag die Sympathisanten, Wähler und Mitglieder der AfD weiter in ihrer Haltung der trotzigen Solidarität und des solidarischen Trotzes bestärkt worden sind. Anders gewendet: Man hat wieder einmal das Gegenteil dessen bewirkt, was man erreichen wollte; und auf diese Weise wird der „Krieg gegen die AfD“ (so höchst überspitzt Alexander Gauland) gewiss nicht gewonnen werden. Also erkennen wir: Die Ablehnung der AfD-Kandidatin war politisch dumm.

Zusammenfassend lässt sich somit urteilen:

Die Mehrheit der Bundestagabgeordneten hat, in völliger rechtlicher Korrektheit, eine institutionell unfaire sowie politisch törichte Entscheidung getroffen. Zwar leidet die AfD – ganz wie von ihren politischen Gegnern auch gewünscht – nun kurzfristig an dieser gegnerischen Machtdemonstration. Mittelfristig wird die AfD aber die gestrige, erneut ablehnende Bundestagsentscheidung als gegnerische Einzahlung aufs eigene Sympathiekonto erleben. Und in längerfristiger Betrachtung wird sich zeigen, dass die Gegner der AfD durch ihre gefühlsgesteuerte, nicht vom Verstand geleitete Reaktion wieder einmal die Rolle von AfD-nützlichen Idioten gespielt haben.

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Zum größeren Zusammenhang dieser Dummheit siehe Werner J. Patzelt: Die CDU, die AfD und die politische Torheit, Dresden 2019 (Weltbuch), https://www.amazon.de/CDU-AfD-die-politische-Torheit/dp/3906212432

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