Wer sind wir eigentlich?

Alle Lebewesen reproduzieren sich von Generation zu Generation neu. Auch wir Menschen sind abgesehen von den Feinheiten unseres Aussehens eine körperlich nur geringfügig modifizierte Kopie unserer Vorfahren. Dafür sorgen die auf der DNA genetisch abgespeicherten Informationen. Sie sind auch dafür verantwortlich, dass alle Menschen seit dem Homo erectus, der vor etwa 2 Millionen Jahren gelebt hatte, körperlich und geistig auf dieselbe Art und Weise funktionieren. Allerdings unterscheiden wir uns geistig ganz gewaltig von ihnen, weil wir völlig andere Erinnerungen und Erfahrungen haben und viel mehr wissen als sie. Sind wir deshalb andere Menschen oder sind wir dennoch immer wieder dieselben, die bei jeder Generation neu entstehen und nur andere Erfahrungen sammeln?

Was wissen wir über uns?
Für die nahezu perfekte Reproduktion aller Lebewesen sind die Erbinformationen verantwortlich, die in den Genen der Zellen molekular auf kleinstem Raum abgespeichert sind. Durch sie ist unser Körper definitiv bis in die feinsten Details so aufgebaut und funktioniert auch vollautomatisch so, wie er schon unzählig viele Generationen zuvor als Körper unserer Vorfahren funktioniert hat. Das unterscheidet uns nicht von den Pflanzen und Tieren, die ebenso wie wir Menschen nach den Regeln der Vererbung immer wieder identisch neu entstehen. Das haben die Naturwissenschaften der letzten Jahrzehnte eindeutig bewiesen.
Zu unserem Körper zählt natürlich auch unser Nervensystem, das in unserem Gehirn seine Zentrale hat, in der unsere Erinnerungen, unser Wissen und unsere Erfahrungen völlig anders als in den Genen in unserem Gedächtnis abgespeichert sind. In ihm arbeitet ein spezieller Mechanismus, den wir unseren Geist nennen und mit dem wir alle unsere körperlichen und geistigen Aktionen steuern. Er stellt für die meisten Menschen etwas Geheimnisvolles und für viele gläubige Menschen sogar etwas Göttliches dar, weil er aus traditioneller religiöser Sicht angeblich durch den Odem Gottes in die Menschen gelangte. Heute wissen wir, dass er völlig eigenständig mit einer eigenen Signalsprache unsere Sinnesinformationen verarbeitet und uns über unser Gedächtnis und unsere Sinnesorgane ein Bewusstsein von uns selbst und die Welt, in der wir leben, verschafft. Mit ihm wissen wir auch, wer wir sind, wie wir heißen, in welcher Familie und in welchem Umfeld wir aufgewachsen sind. Mit ihm wissen wir aber auch, in welchem Körper wir stecken, was wir mit ihm körperlich und geistig machen können, was wir mit ihm empfinden, wie wir uns fühlen, was wir alles wissen, sowie was wir erlebt und erfahren haben. Das alles verdanken wir unserem Geist, einem speziellen biophysikalischen Mechanismus, der die entsprechenden Informationen von unseren Sinnesorganen im Laufe unseres Lebens empfangen und die wichtigsten davon für uns in unserem Gedächtnis abgespeichert hat.

Welche Informationen werden in uns verarbeitet?
Mit den genetischen Informationen und den Sinnesinformationen existieren in unserem Körper zwei völlig verschiedene Arten von Informationen und damit auch zwei völlig verschiedene Mechanismen der Informationsverarbeitung, zu denen auch zwei völlig verschiedene Informationsspeicher gehören.
Die genetischen Informationen sind molekular auf der DNA (einem Makromolekül, das Desoxyribonukleinsäure genannt wird) aufgeschrieben und in den Chromosomen unserer Körperzellen abgespeichert. Wogegen die Sinnesinformationen in den neuronalen Strukturen des Gehirns als unsere Erinnerungen abgespeichert sind und unser Gedächtnis bilden. In den Zellen verarbeitet ein chemischer Mechanismus, ein genetischer Geist, die genetischen Informationen und sorgt mit ihnen für die richtige Konstruktion und Funktion des Körpers. Im Gehirn ist es unser denkender Geist, ein biophysikalischer Mechanismus, der mit ionischen Signalen arbeitet und uns mit ihnen Denken und Handeln lässt. Weil diese beiden Mechanismen absolut nichts miteinander zu tun haben, hat unser menschlicher Geist auch keinen Zugriff auf die genetischen Informationen in den Körperzellen, wie auch der genetische Geist keinen Zugriff auf die Sinnesinformationen hat, die unser Geist in unserem Gehirn verarbeitet und abgespeichert hat.
Nicht nur die Speicher und die Mechanismen der Erbinformationen und der Sinnesinformationen sind grundverschieden, sondern natürlich auch ihr Sinn und Zweck. Die Verarbeitung der genetischen Informationen in Pflanzen, Tieren und Menschen sorgt für die körperlichen Aspekte der Lebewesen und die Verarbeitung der Sinnesinformationen sorgt bei allen Lebewesen, die ein Gehirn und Sinnesorgane haben, für die geistigen Aspekte. Zum Körperlichen zählen die Konstruktion und die Funktion der jeweiligen Lebewesen und zum Geistigen zählt neben dem Denken auch die Steuerung aller Aktionen entsprechend den Erfordernissen des jeweiligen Umfelds.

Was wissen wir über unseren Geist?
Unser Geist ist ein Mechanismus, der unsere Sinnesinformationen verarbeitet, sie abspeichert und uns mit ihnen denken lässt. Ein Mechanismus bewirkt etwas in einem speziell dafür konstruiertem System, einem Gerät, Maschine oder Lebewesen, das mit Energie versorgt wird. Er ist damit für eine bestimmte Aktion in dem System verantwortlich. Mit ihm geschieht etwas mechanisch, elektrisch oder chemisch. Spezielle Mechanismen sorgen z.B. dafür, dass unser Körper richtig funktioniert, dass sich die Zellen erneuern, die Nahrung verdaut wird usw.
Der Geist des Menschen unterscheidet sich von mechanischen Mechanismen dadurch, dass man nicht sieht, was er macht, da er mit Informationen arbeitet. So wie unser Körper chemisch vollautomatisch funktioniert, so funktioniert unser Geist auch vollautomatisch. Wir müssen uns nicht darum kümmern, wie wir uns vom Kind zum Erwachsenen entwickeln und wir müssen uns aber auch nicht darum kümmern, wie unser Geist unsere Sinnesinformationen zu unseren Erinnerungen verarbeitet. Alles Körperliche und Geistige geschieht in uns unaufgefordert mit speziellen Mechanismen vollautomatisch, so wie wir es brauchen.
Da unser Geist ein Mechanismus ist, der Informationen verarbeitet, benötigt er auch eine Konstruktion, die in der Lage ist, über spezielle Leitungen Informationen zu empfangen und auszusenden, sowie um geeignete Strukturen, um sie abzuspeichern. Dazu hat die Evolution ein System von Nervenzellen und ein Gehirn entwickelt, in dem diese Aufgabe bewältigt werden kann. Ohne ein funktionierendes Gehirn, das mit dem ganzen Körper vernetzt ist, gibt es auch keinen Geist und mit ihm auch keinen Mechanismus, der Sinnesinformationen verarbeitet.
Erst in höher entwickelten Vielzellern konnte sich ein System aus Sinnesorganen, Nervenleitungen und einem zentralen Gehirn mit einem Mechanismus entwickeln, der in der Lage war, die Sinnesinformationen vollautomatisch zu empfangen, zu verarbeiten und abzuspeichern. Das Ergebnis dieser Arbeit stellt uns dieser Mechanismus, den wir als unseren Geist kennen, wenn wir es brauchen, zur Verfügung. Ohne dass wir dabei spüren oder erkennen wie er es in uns macht, macht er uns dabei bewusst, was in einer ähnlichen Situation geschah, sodass wir für uns die richtigen Entscheidungen treffen können. Unser Körper informiert uns weder darüber, wie er unsere Muskeln betätigt, noch wie er die Erinnerungen aus unserem Gedächtnis beschafft. Es würde uns sogar stören, wenn er es machen würde, da wir dann mit Informationen überflutet würden.
Der menschliche Geist gehört also zu einem Körper, der ihn entwickelte, in dem er seine Arbeit leisten kann und für den er unaufgefordert und vollautomatisch arbeitet, solange er funktioniert und mit Energie versorgt wird. Das ist wie bei einem Motor, der auch nur so lange läuft, solange sein System intakt ist und er mit Energie versorgt wird. Wenn der Körper nicht mehr so funktioniert wie er soll, dann sterben seine Zellen ab und wenn das Gehirn stirbt, dann stirbt mit ihm auch sein Geist. Sobald die Funktionen des Körpers, des Gerätes oder des Lebewesens zerstört sind, kann auch der Mechanismus seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Einen Geist ohne einen lebenden Körper gibt es nicht.
Körper sind vergänglich, da sie aus verderblichen organischen Substanzen bestehen, die eine bestimmte Lebensdauer haben. Damit das Leben mit dem Tod des gealterten Körpers nicht endgültig endet, kann es zuvor körperlich und geistig mithilfe der genetischen Informationen von Grund auf identisch erneuert werden. Natürlich werden auch mit der identischen Reproduktion alle Funktionen und damit auch der Geist, der seine Sinnesinformationen verarbeitet, identisch reproduziert. Allerdings startet der Geist, wenn er mit seiner Arbeit beginnt immer wieder mit Null Informationen, deshalb wissen wir auch nichts über unsere Zeit im Mutterleib und in den ersten Monaten nach unserer Geburt.

Wie unterscheiden sich genetische Informationen von Sinnesinformationen?
Der Stand unserer genetischen Informationen, ihre Menge und Qualität, steht schon lange vor unserer Geburt fest und hat sich seit dem Homo erectus auch nur noch marginal weiterentwickelt. Deshalb sah auch der Homo sapiens schon vor 200.000 Jahren genauso aus wie wir. Das liegt daran, dass das Erbgut nahezu unverändert über die Ei-und Samenzelle von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der Mensch entsteht also nicht aus Staub wie in den traditionellen Religionen gelehrt wird, sondern stets aus lebenden Zellen, die schon seit Jahrmillionen wiederum aus lebenden Zellen entstanden sind. Das Leben wird also den Menschen nicht bei der Geburt gegeben, sondern es war schon vorher da, genau genommen seit der ersten lebenden Zelle. Die Besonderheit des Lebens besteht also darin, dass es sich mithilfe der genetischen Informationen laufend in einem neuen Körper reproduziert.
Bei den Sinnesinformationen ist es jedoch anders als bei den Erbinformationen, die immer erhalten bleiben, weil sie als molekulare Dokumente von Generation zu Generation weitergegeben werden. In einer Eizelle kann es keine Sinnesinformationen geben. Diese sind nicht von Anfang an da, sondern können erst entstehen, nachdem im Neugeborenen das Nervensystem, das Gehirn und die Sinnesorgane voll funktionsfähig ausgebildet wurden und der Geist mit seiner Arbeit beginnen konnte. Erst dann kann er die entsprechenden Sinnesinformationen von den Sinnesorganen empfangen, verarbeiten, abspeichern und mit ihnen Erinnerungen bilden. Letztere entstehen deshalb in jeder Generation nach und nach mit der Ausbildung des Nervensystems von Grund auf neu und können nicht vererbt werden. Obwohl dies offensichtlich ist, gibt es dennoch Institutionen, die den Menschen vorgaukeln, sie in ein früheres Leben zurückführen zu können.
Weil es uns schwerfällt, uns von Vorstellungen zu trennen, die wir seit der frühen Kindheit geglaubt haben, wird alles, was neu ist und unserem traditionellen Menschen- und Weltbild widerspricht, mit Misstrauen betrachtet. Allerdings sollten wissenschaftlich belegte Erkenntnisse einen höheren Stellenwert haben als überlieferte Glaubensvorstellungen. Außerdem ist es nicht allzu schwer, sich vorzustellen, immer wieder ohne alte Erinnerungen und altes Wissen aus einem früheren Leben neu geboren werden. Natürlich können unsere Kinder nicht wissen, was wir in unserem Körper erlebt haben und wir können nicht wissen, was sie in ihrem Körper erleben. Denn auf Erinnerungen, die in einem anderen Körper gesammelt wurden, hat kein fremder Geist einen direkten Zugriff. Sie können nur kommuniziert werden.
Auch zwei absolut identische eineiige Zwillinge können nicht wissen, was der andere gerade denkt, weil sie kein gemeinsames Gehirn und damit auch kein gemeinsames Gedächtnis haben. Da es keine Datenverbindung zwischen den Gehirnen wie bei Computern gibt, können deshalb Informationen zwischen Menschen nur durch Kommunikation ausgetauscht werden. Unser Gehirn kennt nur die Informationen, die es über unsere eigenen Sinnesorgane erhalten hat. Es kann uns also nicht sagen, was der andere erlebt hat oder denkt und auch nicht ob es uns mehrfach gibt.

Fazit
Die Faktenlage kann wie folgt zusammengefasst werden:
1. Wir entstehen körperlich als unveränderte Kopien unserer männlichen und weiblichen Urahnen immer wieder nahezu identisch neu und funktionieren mit denselben chemischen Mechanismen nach denselben genetisch abgespeicherten Informationen. Strukturell und funktionell unterscheiden wir uns von ihnen abgesehen von Äußerlichkeiten seit Jahrtausenden in keinerlei Weise.
2. Geistig unterscheiden wir uns aber gewaltig von unseren Urahnen. Der Mechanismus, mit dem unser denkender Geist funktioniert, ist allerdings genau derselbe wie bei ihnen, aber es sind ganz andere Informationen, die ein Leben lang sammelt und verarbeitet wurden, da wir alle in anderen Zeiten, an anderen Orten, in anderen Familien und Gesellschaften sowie in anderen Kulturen und Zivilisationen leben.
3. Auch wenn wir seit Jahrtausenden immer wieder dieselben Menschen sind, so wissen wir doch nichts darüber, was wir in einem früheren Leben erlebt haben, da Erinnerungen nicht vererbt werden können. Die Frage: Wer sind wir eigentlich?, muss also wie folgt beantwortet werden: Wir sind aufgrund der Genetik immer wieder dieselben neu geborenen Duplikate unserer Vorfahren.
4. Weil wir bis vor wenigen Jahrzehnten nichts über die Arbeit unseres Geistes wussten, haben wir zwar gesehen, dass wir immer wieder neu entstehen, aber wir hielten es für unmöglich, dass wir innerhalb eines Stammbaums immer wieder dieselben waren, die von Grund auf neu entstanden. Wir waren der irrigen Ansicht, „dass es unser Gedächtnis wissen müsste“, da wir uns auch sonst an fast alles erinnern konnten. Es hätte uns allerdings auffallen müssen, dass wir uns nicht einmal an unsere Zeit als Säuglinge erinnern konnten.
Weil wir uns nicht an ein früheres Leben erinnern können, glaubten wir also auch nicht an ein immer wiederkehrendes neues Leben als unsere eigenen Nachkommen, sondern waren fest davon überzeugt, dass unser irdisches Leben nach dem Tod unseres jeweils aktuellen Körpers zu Ende sei. Es kam uns nicht in den Sinn, schon vor dem Tod über das Erbgut neu geboren zu werden, weil wir ja schließlich auch nichts davon merken, wenn wir in dem Neugeborenen reproduziert werden. Damit waren wir von der Endlichkeit des irdischen Lebens felsenfest überzeugt, was den verschiedenen Religionen Tür und Tor öffnete, die ein Leben nach dem Tod in einer anderen und natürlich besseren und gerechteren Welt versprachen.
5. Natürlich ist der Glaube an ein Seelenleben oder eine Auferstehung nach dem Tode dann nicht mehr nötig, wenn wir schon auf dieser Welt innerhalb eines Stammbaums immer wieder mit hoher Perfektion neu geboren werden. Das bedeutet aber auch, dass wir uns mehr auf das irdische Leben konzentrieren sollten, als auf ein hypothetisches Seelenleben. Wenn es sich bei dem Leben nachfolgender Generationen um unser eigenes Leben handelt, dann sind wir auch eher bereit, uns für die Zukunft unseres Planeten einzusetzen, als Hab und Gut für Götter oder Religionen zu opfern. Dennoch ist der Glaube in uns oft traditionell so tief verwurzelt, dass wir ihn trotz eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht einfach aufgeben können.

Über Hans Sixl 52 Artikel
Dr. Hans Laurenz Sixl, Jahrgang 1941, arbeitete als Professor für Physik an den Universitäten Stuttgart und Frankfurt und als Visiting Professor in Durham (UK) und Tokyo (J). Von 1986 bis 2001 war er Forschungsdirektor in der Chemischen Industrie und Vorstandsmitglied der deutschen Physikalischen Gesellschaft. Seine Arbeitsgebiete waren Spektroskopie und Materialforschung. Er hat die Molekularen Elektronik in Deutschland begründet und lehrte an der Universität Frankfurt.

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