Wer ist Gandhi?

Wetterhahn, Foto: Stefan Groß

Mohandas Karamchand Gandhi ist in Indien allgegenwärtig. Der Mahatma, die große Seele, schaut vielleicht nicht von dort oben auf uns, aber zumindest von jedwedem Rupienschein. Dennoch scheint sein Pazifismus in Vergessenheit geraten, ob innerhalb Indiens oder an dessen Grenzen.
Auch in Deutschland ist das Wort Pazifismus nicht gerade en vogue. Der Verteidigungsetat stieg in den letzten Jahren und soll es auch weiterhin; in den baltischen Staaten marschiert die Nato auf und ab, während sie aus Langeweile auf weiße Tauben schießt; und mit den Waffenexporten läuft es bekanntlich auch nicht gerade schlecht. Wer ist dieser Gandhi? Und was ist dieses Pazi…fi…smus?

Es gab schon immer mindesten so viel Kritik an wie Begeisterung für Gandhi. Nicht anders verhält es sich mit seiner Philosophie des Ahimsa (Gewaltlosigkeit). So meinte bereits der Philosoph Karl Jaspers – wenn auch spezifisch auf den gewaltlosen Widerstand (Satyagraha) bezogen –, dass der Gandhismus moralischer Erpressung gleiche, welche selbst in einer Art nicht-physischer Gewalt münde.

Zudem ist es unmöglich, allzeit und allerorts gewaltlos zu handeln, sei es die Spinne, die wir bei Nacht verschlucken, oder die Ameise, die wir bei Tag zertreten. Gandhi war sich dessen bewusst und gestand ein: „Der Mensch kann keinen Augenblick leben, ohne äußerlich, bewußt oder undbewußt, Himsa [Gewalt] zu begehen.“ Ein Grund Ahimsa deswegen aufzugeben, sei es aber nicht.

Eine krassere Kritik äußerte Hannah Arendt: „Wäre Gandhis außerordentlich mächtige und erfolgreiche Strategie des gewaltlosen Widerstands auf einen anderen Gegner gestoßen – auf Stalins Rußland, Hitlers Deutschland, je selbst auf das Japan des Vorkriegs anstatt auf England –, dann wäre ihr Ergebnis nicht Entkolonisierung, sondern >administrativer Massenmord< und schließliche Unterwerfung gewesen.“
Wahrscheinlich hätte auch das Gandhi unbeirrt gelassen. Zwar war er der Meinung, dass Hitler fünf Millionen Juden umgebracht und damit das größte Verbrechen unserer Zeit begangen habe. Trotzdem hätten sich die Juden des Schlächters Messer hingeben, sich von den Klippen ins Meer stürzen sollen.
Hätten sich die Juden wirklich nicht verteidigen sollen, wenn sie dazu im Stande gewesen wären? Hätte die USA nicht im Zweiten Weltkrieg intervenieren sollen? Sollten wir uns nicht verteidigen, wenn unser Leben auf dem Spiel stünde?

Man kann sich nur pazifistisch verhalten, wenn man auch tatsächlich am Leben ist. Wenn dies also die logische Prämisse ist, muss grundsätzlich die Möglichkeit zur Selbstverteidigung gegeben sein. Zumindest lautet so eins der Argumente gegen den absoluten Pazifismus. (Wie flexibel der Begriff Selbstverteidigung ist, daran brauch an dieser Stelle wohl kaum erinnert werden.)

Gewaltlosigkeit hat so seine Schwierigkeiten. Kein Wunder, dass Gandhi, der „halbnackte, aufrührerische Fakir“, wie ihn Winston Churchill nannte, heute nur noch ein gedruckter Kopf auf den indischen Banknoten ist. Und doch gibt es gute Gründe, an den Pazifismus zu glauben, oder zumindest an den konditionalen Pazifismus – sei es im politischen oder im persönlichen.

Oft wird Pazifismus, besonders in der Politik, der Donquichotterie bezichtig, als nicht „realpolitisch“. Doch lässt die Tatsache, dass ein pazifistischer Akteur wohlmöglich mit einem gewalttätigen Akteur auseinandersetzen muss, darauf schließen, dass sein Ideal unnütz ist?

In einem Szenario, indem beide Akteure sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet fühlten, wären deren Ideale nicht im Geringsten „weltfremd“. Oft haben wir es mit einer Art Gefangenendilemma zu tun: Da alle davon ausgehen, alle anderen werden vielleicht Gewalt anwenden, tue ich es auch, am besten sogar, bevor die anderen dazu in der Lage sind.

Wie verändert man also die Attitude der Akteure? Jemand muss den ersten Schritt wagen, in der Hoffnung, dass sein Gegenüber ihm gleichtut und realisiert, dass beide Parteien mit Ahimsa besser gestellt sind. Die Voraussetzung ist dabei selbstverständlich, dass der Pazifist am Leben ist, um pazifistisch zu agieren.

In Großbritannien entwickelten Kriminelle beispielsweise einen unausgesprochenen Kodex, keine Waffen bei sich zu tragen, was offensichtlich mit der (zumindest bis vor kurzem) vorwiegend unbewaffneten Polizei in Verbindung steht. Ähnlich verhielt es sich mit den Briten, die sich im Großen und Ganzen Gandhis Maxime der Gewaltlosigkeit aneigneten.

Um den circulus vitiosus der Gewalt zu durchbrechen, verlangt es nach äußerst viel Courage und Persistenz. In dieser Hinsicht war Gandhi ein Vorbild. Mut wie Resilienz können nur hervorgerufen werden, wenn man den Pazifismus zu seinem Prinzip macht, da es Prinzipien sind, die Weltanschauungen konstituieren und damit unser generelles Verhalten bestimmen.

Dem widersprechen nicht einmal Ausnahmen. Aus dem gleichen Grund ist auch Kants Kategorischer Imperativ (der z. B. in jeglicher Situation das Lügen untersagt) von solch großer Bedeutung und dessen Leitidee im ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes verankert. Nicht weil wir niemals lügen oder Gewalt anwenden würden, sondern weil wir über Ausnahmen intensiver und öfter nachdenken. Sie werden so nicht zur Regel.

Es ist die Kraft der Utopie, dass sie, während man nach dem Unerreichbaren greift, einen weiter strecken lässt, als man es ohne sie getan hätte. Sich in allen Umständen wie Gandhi zu verhalten, mag also Utopie sein, doch ist sie eine Utopie, die den Teufelskreis der Gewalt zu brechen vermag. Denn Auge um Auge lässt bekanntlich die ganze Welt erblinden.

Zuerst erschienen auf „The European“

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