Wer entscheidet?

„Vox populi, vox Dei“ hieß es im alten Rom. Doch das Votum des Volkes mit der Stimme Gottes gleichzusetzen, liegt uns heute fern. Denn wir fragen: Wer ist „das“ Volk, und was hat Gott damit zu tun? „Wir sind das Volk“ skandierten 1989 die Opponenten gegen ein DDR Regime, das sich als „Volksdemokratie“ ausgab. Wenig später wandelten sich die Rufe in die nationale Parole „Wir sind ein Volk“. Das war politisch sehr wirksam und führte zur Wiedervereinigung.
Seitdem ist es um die deutsche Nation sehr still geworden, sie scheint immer mehr von jenem Europa aufgesogen zu werden, das sich hauptsächlich durch den Euro definiert. Im jüngsten Wahlkampf propagierte die SPD den Slogan: „Das Wir entscheidet“. Aber hat „es“ wirklich entschieden? Was ist überhaupt „das Wir“? Die Parole erinnert fatal an die Phrase der „volonté générale“ des Jean Jacques Rousseau, mit der der französisch-revolutionäre Totalitarismus zur Einebnung individueller und gruppenhafter Entscheidung en gerechtfertigt wurde.
Bleiben wir in Europa lieber beim Modell einer von pluralen Werten und Interessen geleiteten Demokratie. Da ist das „Wir“ der Gemeinsamkeiten nicht leicht zu ermitteln. Denn es gibt keine religiöse oder politische Instanz mehr, die es allgemeinverbindlich definiert. In der Demokratie herrscht einfach die Mehrheitsregel, gebunden freilich an eine Rechtsordnung, die besonders die Minderheiten zu schützen hat. Mehrheiten kommen und gehen, die Grundrechte bleiben. Schade, daß im deutschen Wahlkampf so wenig über die Lebens- und Familienrechte gesprochen wurde. Bei uns scheint sich inzwischen alles um ökonomische Fragen zu drehen. Als ob der materielle Wohlstand die Legitimationsbasis der Demokratie und auch der europäischen Ordnung sei.
Das macht das Geschäft der demokratischen Politik zu einem bloßen Tauschhandel. Austauschbar und zum Verwechseln ähnlich scheinen vor allem die herrschenden Parteien zu sein. Langeweile breitet sich mit dem parteiübergreifenden Gefühl aus, alles sei ökonomisch im Lot und „alternativlos“. Die beachtlich schweigende Minderheit der Nichtwähler wäre noch größer geworden, hätte es nicht die „Alternative für Deutschland“ (AfD) gegeben. Solche und noch viel kritischere Parteien gibt es in den übrigen europäischen Staaten schon längst – und sie beleben den Parlamentarismus.
Im übrigen Europa gehen die Uhren anders, sie sind genauer auf die Wähler eingestellt. Die lassen sich vom Populismus-Vorwurf nicht so leicht einschüchtern. Denn schließlich sind alle Parteien „populistisch“, besonders im Wahlkampf mit seinen beleidigend dummen Phrasen. Freilich braucht die Politik mehr Klartext, der die Wähler zur Entscheidung drängt. Und natürlich Alternativen.
Nun haben wir auch bundesweit gewählt. Wir sollten sogar. Denn Wahlrecht ist schließlich Wahlpflicht, heißt es von den Regierenden, die sich aber immer mehr von den Regierten entfernen. Daß sich viele Staatsbürger dieser Pflicht einfach entziehen, nämlich immer noch 28,5 Prozent, zeugt von Demokratiemüdigkeit. Manche sind einfach zu träge. Oder so vertrauensselig zu glauben, alles gehe auch ohne sie ganz gut. Andere Nichtwähler haben schon resigniert: Wozu noch auf nationalstaatlicher Ebene wählen, wenn die wichtigen Entscheidungen auf europäischer Ebene zustande kommen. Und zwar ohne Befragung eines europäische Souveräns. Den gibt es nämlich noch lange nicht.
Dieses Demokratiedefizit setzt sich in jenen Partei en fort, die sich als „alternativlos“ bezeichnen. Wer von seiner Person oder Position behauptet, ohne Alternative zu sein, ist ideologisch vernagelt und undemokratisch. Und er provoziert geradezu die Suche nach anderen Parteien und Lösung en. Wohin soll ich mich wenden? – fragt ein altes Kirchenlied. Darauf finde n auch die Kirchen keine klare parteipolitische Antwort. Gut so. Mündige Christen werden ihr eigenes Gewissen strapazieren müssen.
Die Bischofsweihe verleiht keine politisch-ökonomische Kompetenz. Überdies sollte eine Exzellenz, die auch noch den Vorsitz der deutschen Bischofskonferenz innehat, keine Initiative zur Aushöhlung der eigenen Amtsautorität ergreifen. Einfache Erkenntnisse, nicht wahr? Leider hatte sich der Erzbischof von Freiburg, Robert Zollitsch, nicht daran gehalten, als er mitten im Wahlkampf dem „Badischen Tagblatt“ ein Interview gab. Darin gab er – mit Blick auf die „Alternative für Deutschland“ – der Hoffnung Ausdruck, „daß es nur ein paar Nostalgiker sind, die nicht in den Bundestag einziehen werden“. Nur ein paar Nostalgiker? Immerhin auf Anhieb 4,7 Prozent, die (noch) nicht in den Bundestag einziehen konnten. Weiterhin wird Zollitsch mit den Worten zitiert: „Unsere Zukunft liegt in Europa und nicht in der Rückkehr in die Nationalstaaten.“ Und: „Ich sehe keine Alternative zum Euro. Denn der zwingt uns, weiter zusammenzukommen.“
Ein Europa ohne Nationalstaaten – wo bleiben denn da die staatskirchenrechtlichen Garantien? Und warum sollte uns der Euro zu irgendetwas zwingen dürfen? Freiheitsbewußte Demokraten verbitten sich das. Und Satiriker könnten schon im bloßen Zitieren der erzbischöflichen Phrasen die stärkste Entgegnung vorbringen, ohne auf die inhaltliche Bedeutung kritisch einzugehen – wie es für die AfD Joachim Starbatty in einem Brief an den Erzbischof konstruktiv versucht hat. Die AfD suchte ernsthaft den Dialog mit Zollitsch , der ihn natürlich verweigerte, weil man mitten im Wahlkampf wohl lieber Interviews gab.
Deren politische Wirkung hat sich als ebenso beschränkt erwiesen wie ihr Inhalt. Welche Partei wir wählen oder nicht wählen, lassen wir uns nicht von geistlichen Würdenträgern vorschreiben. Von ihnen erwarten sich politisch praktizierende Christen keine konkreten Lösungen, sondern gut begründete ethische Maßstäbe – zur eigenen Entscheidung. „Bekenntnisse“ zum Euro und zur Auflösung der Nationalstaaten wirken leicht fundamentalistisch und weltfremd. Eine Demokratie ohne Alternativen, ohne Korrekturmöglichkeiten, ist keine mehr. Es könnte ja sein, daß sich die angeblichen Nostalgiker als die besseren Realisten erweisen.

©: www.die-neue-ordnung.de

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Über Wolfgang Ockenfels 43 Artikel
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels, geboren 1947, studierte Philosophie und Theologie in Bonn und Walberberg. 1985 erhielt er eine Professur für Christliche Sozialwissenschaften mit den Lehrgebieten Politische Ethik und Theologie, Katholische Soziallehre und Sozialethik, Wirtschaftsethik sowie Familie, Medien und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Ockenfels ist zudem Geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer BKU und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" in Bonn. Er gehört zum Konvent Heilig Kreuz der Dominikaner in Köln.

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