„Was Sie da machen, ist der Pilgerweg des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Phantastisch! Genau solche Geschichten wollen die Leute hören.“ Diese Worte bekommt Harold Fry, ein frisch pensionierter 65er auf seinem langen Pilgerweg zu hören, als sein Unterfangen medienpublik wird. Ein knapper Brief von Queenie Hennessy, einer seit 20 Jahren aus den Augen verlorenen Kollegin, die im Sterben liegt, lässt ihn aus der Eintönig- und Wortlosigkeit seiner Ehe ausbrechen und etwas Unglaubliches tun. Aus einem flüchtig hingeworfenen „Tschüss dann, Maureen“, das er seiner Frau zuruft, um eigentlich nur seine Antwortzeilen an Queenie in den Briefkasten zu bringen, wird ein 87 Tage dauernder und 1000 km langer Pilgerweg quer durch England. Seine Motivation: „Ich werde laufen, und sie muss weiterleben.“
Wollen Leute solche Geschichten tatsächlich hören? Der Erfolg von Hape Kerkelings 2006 niedergeschriebener Jakobsweg-Selbstfindungsreise scheint dies zu bestätigen. Auch der Geschichte von Rachel Joyce, die mit ihrem literarischen Debüt den Tod ihres Vaters verarbeitet, wird mutmaßlich ein breites Lesepublikum beschienen sein. Und das nicht nur allein daher, dass der Roman weltweit in 30 Ländern erscheint. Nein: „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ ist ein berührendes, ein nachdenkliches Buch, das – leicht und flüssig lesbar – auf weiten Strecken sehr tiefsinnige Gedanken und Reflexionen offenbart. Während seines Marschs auf Straßen und Wegen, über Felder, Hügel und durch Täler spult vor Harolds innerem Auge sein vergangenes Leben ab. „Bilder und Gedanken, von denen nachts sein Kopf fast platzte, Bilder, die ihn wach hielten“, durchströmen ihn. Letztendlich ist der Weg von Kingsbridge nach Berwick auch und vor allem eine Reise zu ihm selbst, ins Innere von Harold Fry. „Er spielte Szenen aus seinem Leben noch einmal ab, als Zuschauer, der im Draußen gefangen blieb.“ Dadurch befreit er sich Schritt für Schritt aus dem Schraubstock der Vergangenheit.
Solange Harold allein auf weiter Flur läuft, gelingt es Rachel Joyce den Spannungsbogen zu halten bzw. stetig aufzubauen. Sie positioniert ihren Protagonisten gekonnt in zwei Ebenen. Vieles, was sich vor seinen Augen ausbreitet, bekommt gleichermaßen eine introspektive, als auch eine auktoriale Erzählperspektive, die eines Passanten. Doch scheint nach der Hälfte der Strecke nicht nur die Kraft des Pilgers zu schwinden. Ebenso wird die Erzählstruktur zunehmend konturloser und fasert aus. Der immer mehr publicity-wirksame Pilgerweg Harold Frys verflacht das literarische Niveau des Romans. Zu vorhersehbare und mit Klischees beladene Szenen lösen die gedankenreichen und gehaltvollen Passagen der ersten zwei Drittel der Erzählung ab. Harold selbst scheint das Malheur seines Plots auf Seite 332 auszusprechen: „Wie hatte er sich einbilden können, dass diese banalen Dinge zusammengenommen etwas Größeres ergäben als die Summe ihrer Teile?“ Schade.
Eines übermittelt die Lektüre trotz allem unmissverständlich: „Wir haben alle eine Vergangenheit. Wünschen uns, wir hätten so manches getan oder gelassen.“ Aber an „der Vergangenheit ließ sich nicht rütteln, man konnte seinen Anfängen nicht entrinnen. Nicht einmal mit Krawatte.“
Rachel Joyce
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Aus dem Englischen von Maria Andreas
Krüger Verlag, Frankfurt am Main (Mai 2012)
384 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3810510793
ISBN-13: 978-3810510792
Preis: 18,99 EURO
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