Wer BAS-Aktivisten mit mordenden leninistischen Rotbrigadisten und anarcho-marxistischen Gesinnungsgenossen gleichsetzt, betreibt Geschichtsklitterung

Terror

Kurz vor Weihnachten 2018 richteten die Kinder Heinrich Oberleiters, eines in Nordbayern lebenden Südtiroler Freiheitskämpfers der 1960 Jahre, über einen Anwalt ein Gnadengesuch für ihren Vater an den italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella.  Oberleiter ist 77 Jahre alt und einer der „Pusterer Buben“ (im Dialekt „Puschtra Buim“). Die Selbstbezeichnung der Gruppe steht für vier legendäre Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), der in Wort und Tat für die den Landesbewohnern 1918/19 sowie 1945/46 verweigerte Selbstbestimmung eintrat. Oberleiter gehört, wie Sepp Forer und Siegfried Steger, die, wie ihr bereits verstorbener Kamerad Heinrich Oberlechner, nach der berühmten „Feuernacht“ 1961 nach Österreich entkommen konnten, als der BAS, um die Weltöffentlichkeit auf das Südtirol-Problem aufmerksam zu machen, rund um Bozen zahlreiche Strommasten gesprengt hatte. In Italien wurden sie, wie die meisten ihrer mehr als 100 festgenommenen BAS-Kameraden, in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und gelten – nicht nur dort –  nach wie vor als Terroristen.

Dies zeigte sich jüngst daran, dass  nach Überstellung des einstigen Kopfes der linksextremistischen Organisation „Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus“ (Proletari Armati per il Comunismo, PAC)  Cesare Battisti von Bolivien nach Italien der Abgeordnete Luca De Carlo an Mattarella appellierte, er möge die Begnadigung verweigern und stattdessen „Druck auf die Regierung in Wien zur Auslieferung all jener ehemaligen Südtiroler Terroristen ausüben, die sich für Verbrechen verantwortlich gemacht und in Österreich Zuflucht gefunden“ hätten. De Carlo gehört, wie 16 Kammerabgeordnete und 7 Senatoren, den „Brüdern Italiens“ (Fratelli d’Italia; FdI) an, einer neo-faschistischen Partei,  die sich in der Hervorkehrung ihrer an Mussolini gemahnenden Propaganda von der „ewigen Italianità“ (Südtirols) vielleicht nur noch von der im Bozner Kommunalparlament vertretenen „Casa Pound“-Partei übertreffen lässt. In beide Parlamentskammern konnten  FdI-Mandatsträger im März 2018 einziehen, da ihre Partei Teil des Mitte-rechts-Wahlbündnisses um Silvio Berlusconis Forza Italia (FI) und Matteo Salvinis Lega Nord (LN) war.

Salvinis Bozner Statthalter Massimo Bessone hat zwar sogleich klargelegt, dass sich die LN – im Landtag ist sie seit Januar 2019 Koalitionspartner der Südtiroler Volkspartei (SVP) – keinesfalls das Verlangen der FdI zueigen machen werde. Dennoch muss man bis zum Beweis des Gegenteils festhalten, dass sich, egal wer in Rom regiert(e), Italiens Betrachtungsweise um keinen Deut verändert(e), wonach es sich bei BAS-Kämpfern wie bei den anarcho-marxistischen Gruppierungen und linksextremistischen Organisationen  – PAC, Lotta Continua („Der Kampf geht weiter“), Potere Operaio („Arbeiter-Macht“), Nuclei Armati Proletari (NAP; „Bewaffnete Proletarische Zellen“) sowie den streng marxistisch-leninistischen Brigate Rosse („Roten Brigaden“, BR) und zahlreichen Splittergruppen ebenso um Terroristen handele wie bei der rechtsextremistischen Ordine Nuovo (ON; „Neue Ordnung) und der Avanguardia Nazionale („Nationalen Avantgarde) mitsamt Ablegern wie etwa den Nuclei Armati Rivoluzionari („Bewaffneten Revolutionären Zellen“).

Gleichmacherische Betrachtungsweise

Die gleichmacherische Betrachtungsweise beschränkt sich leider nicht auf Italien. Doch wer sie betreibt oder ihr unhinterfragt folgt, übersieht oder negiert die prinzipiellen Unterschiede nach Zielsetzung, Gewaltpotential und -ausmaß. Während sich sowohl die genannten links-, als auch die rechtsextremistischen Gruppen die Beseitigung der demokratischen Ordnung in Italien mittels bewaffneten Kampfes  bzw. Putschens und deren Ersatz durch eine Diktatur des Proletariats bzw. ein autoritäres (Militär-)Regime zum Ziel setzten, strebte der BAS nie den gesellschaftlichen Umsturz oder anti-demokratische Verhältnisse an. Der BAS verlangte vielmehr die zweimal verweigerte Selbstbestimmung der Südtiroler, zumindest aber die Einlösung der von Italien 1946 vertraglich zugesicherten, aber verwässerten Autonomie. Und kämpfte in Wort und Tat gegen Entrechtung und Entnationalisierung, d.h. gegen die auch vom „demokratischen“ Italien praktizierte Zurücksetzung ihrer Landsleute sowie die massive Ansiedlung von Italienern zum Zwecke der Umstülpung der ethnisch-kulturellen Verhältnisse. Die der existentiellen Notlage ihrer von Italien wie ein Kolonialvolk gehaltenen Landsleute geschuldeten Gewalttaten, zunächst das Sprengen von Strommasten wie in der legendären „Feuernacht“ 1961, richteten die BAS-Aktivisten ausschließlich gegen Sachen, nicht gegen Menschen. Hingegen machten links- wie rechtsextremistische Gruppen dabei keine Unterschiede. So gingen beispielsweise allein auf das Konto der Rotbrigadisten 73 Mordanschläge und zahlreiche Entführungen sowie Banküberfälle. Der Bombenanschlag von Rechtsextremisten auf der Piazza Fontana in Mailand forderte 14 Todesopfer, und bei jenem  auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980 waren 85 Personen getötet und mehr als doppelt so viele verletzt worden.

„Inneritalienische Manipulation“

Die meisten der nach der „Feuernacht“ verhafteten  BAS-Kämpfer haben, sofern sie Folter und Haft überlebten, ihre Strafen verbüßt. Die entkommenen, wie die „Pusterer Buben“, können  seit gut 50 Jahren wegen der (in Abwesenheit von italienischen Gerichten)  gegen sie ergangenen Urteile nicht wieder in ihre Südtiroler Heimat zurück. Es ist menschlich allzu verständlich, dass Oberleiters Kinder um Begnadigung für ihren Vater bitten, der 2016 indes mit den Worten zitiert worden war, „ein Gnadengesuch bei Italiens Staatspräsident kommt für mich nicht infrage, da ich mich nicht im Unrecht sehe und der Meinung bin und schon immer war, dass man mit Aufrechtgehen weiter kommt als mit Kriechen.“ Ebenso verständlich ist aber auch, dass Sepp Forer und Siegfried Steger ein Gnadengesuch  für sich mit der Begründung ausschließen, damit  sei eine – von ihnen strikt abgelehnte – Schuldanerkenntnis verbunden. Und absolut nachvollziehbar ist die vom Sprecher der „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“ eingenommene Position:  Univ.-Prof. i.R. Dr. med. Erhard Hartung lehnt für sich und seinen Fall einen derartigen Schritt  mit der ebenso stichhaltigen Begründung ab, er habe die ihm – er war damals junger Arzt – im Zusammenhang mit dem  „Attentat auf der Porzescharte“ (1967) zur Last gelegte Tat  ebensowenig begangen wie seine Mitstreiter Egon Kufner – damals Unteroffizier des österreichischen Bundesheeres – und (der 2015 verstorbene, damalige Elektriker) Peter Kienesberger.

 Der (Militär-)Historiker Oberst Dr. Hubert Speckner hat in seiner auf gründlichster Auswertung bisher verschlossener oder unbeachtet gebliebener Akten fußenden voluminösen Publikation „Zwischen Porze und Roßkarspitz… Der ,Vorfall‘ vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten. Mit einem Beitrag von Reinhard Olt und einem Vorwort von Michael Gehler“, Wien (Verlag Gra&Wis) 2013, schlüssig nachgewiesen, dass sich der Vorfall in der Nacht vom 24. / 25. Juni 1967 an besagtem (Grenz-)Übergang von Osttirol zur italienischen Provinz Belluno keinesfalls so ereignete wie ihn Italien darstellte (und Österreich politisch – nicht juristisch – schluckte). Vielmehr konnte sich dort nur abgespielt haben,  was der damalige österreichische Justizminister Hans Richard Klecatsky seinerzeit schon eine „rein inneritalienische Manipulation“ genannt hatte. Was aber Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) weder in der Substanz noch in der Konsequenz aufgriff, sondern wider besseres Wissen ignorierte und aus (mutmaßlich vorgeblichem) „Staats-Interesse“ negierte.

So ist erwiesen, dass unmittelbar nach den von italienischen Stellen verbreiteten „Attentats“-Meldungen der Osttiroler Bezirkshauptmann Dr. Othmar Doblander sowie der ihn begleitende Bezirksgendarmeriekommandant Josef Scherer am Ort des angeblichen Geschehens waren. Doblander hielt in seinem Bericht an Hofrat Dr. Max Stocker, den Tiroler Sicherheitsdirektor, fest, dass er „mit Sicherheit auf der Porzescharte keine Minenfallen vorgefunden“ habe, die

italienische Soldaten getötet haben sollten. Dies teilte Stocker am 28. Juni auch dem Ministerialrat Dr. Franz Häusler vom staatspolizeilichen Dienst im Wiener Innenministerium mit. Die erst neun Tage nach dem Geschehen auf der Porzescharte zur Inspizierung eingesetzte gemischte italienisch-österreichische Untersuchungskommission fand indes den somit mehr als eine Woche ungesicherten „Tatort“  gänzlich anders vor als von Doblander beschrieben, woraus kein anderer Schluss zulässig sein kann, als dass er in der Zwischenzeit manipulativ verändert worden sein musste.

Spreng(stoff)technische Expertisen untermauern historische Forschungsergebnisse

Hartung ist es verständlicherweise um seine völlige Rehabilitation zu tun.  Nach Jahrzehnten des gegen ihn ergangenen (Fehl-)Urteils und demzufolge auch der Fernhaltung von  Wurzeln und Wirkungsstätte medizinisch-homöopathisch bedeutender familiärer Vorfahren – diese betrieben in Riva am (vor dem Ersten Weltkrieg österreichischen) Gardasee ein von der Crème der  Gesellschaft sowie den Größen der europäischen Literatur gerühmtes Sanatorium ( http://www.tirolerland.tv/das-sanatorium-dr-von-hartungen-in-riva-am-gardasee/ )  – wollte er  Speckners grundstürzenden (militär)historische Forschungserträge zusätzlich von  Spreng(stoff)experten abgesichert wissen. Die drei der von Hartungs eingeschalteter Wiener Kanzlei Grama Schwaighofer Vondrak Rechtsanwälte GmbH  unabhängig voneinander beauftragten Sachverständigen untermauern denn auch in ihren Privatgutachten mittels naturwissenschaftlich-technischer Expertisen Speckners Untersuchungsergebnisse:

  • So kam der international anerkannte deutsche Gutachter Dr.-Ing. Rainer Melzer (öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Einsturzverhalten, Erschütterungen und Schäden beim Abbruch von Bauwerken; Dresden)  2015 zu dem unumstößlichen Befund, dass an dem in der Causa infrage stehende Strom-Mast Nr. 119 auf der Porzescharte am 25.06.1967 zwei Sprengungen vorgenommen worden seien. Bei Betrachtung aller vorliegenden Daten und Sachverhalte sei eine Täterschaft Hartungs, Kienesbergers und Kufners infolgedessen auszuschließen.
  • Der gerichtlich zertifizierte österreichische Sprengstoff-Fachmann Mag. Maximilian Ruspeckhofer, der den angeblichen Tatort mehrmals untersuchte, hielt in seiner sprengtechnischen Analyse  zweifelsfrei fest, dass die Genannten unmöglich die Täter gewesen sein konnten. So heißt es in seinem umfangreichen Gutachten abschließend:  „Es besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Mast in zwei Etappen gesprengt wurde. Und das schließt die Täterschaft der damals beschuldigten Personen aus. Es besteht darüber hinaus der dringende Verdacht, dass eineursprünglich nicht detonierte Ladung erst am nächsten Tag bzw. in dennächsten Tagen entfernt oder gezündet wurde. (Das Wesentliche ist auf Ruspeckhofers WebSite     https://www.ruspeckhofer.at/fachwissen/cold_case_porzescharte-8 enthalten.)
  • Und die Kernaussage in dem vom dritten hinzugezogenen Experten 2018 erstellten (mit 120 Seiten umfangreichsten) Gutachten lautet: „Im Rahmen der Gutachtenerstellung und aufgrund der sehr umfangreichen Befundaufnahme, der Rekonstruktion sowie Detailanalysen der einzelnen Sachverhalte zu den aktenkundigen Angaben der Ereignisse vom 25. Juni 1967 auf der Porzescharte, kann durch den gerichtlich beeideten und zertifizierten Sachverständigen Ing. Harald Hasler BSc MSc mit an SICHERHEIT GRENZENDER WAHRSCHEINLICHKEIT gesagt werden, dass sich die Ereignisse so NICHT ereignet haben können.“

Welche Schlüsse sind aus alldem zu ziehen? Das Unrechtsurteil von Florenz (1971) ist zu annullieren. Mit den Untersuchungsergebnissen Speckners sowie den vorliegenden Gutachten dürften genügend neue Beweismittel vorliegen, um gegebenenfalls sogar eine dazu erforderliche Verfahrenswiederaufnahme zu begründen. Und nicht zuletzt sind die trotz  Freispruchs in Österreich bis zur Stunde mit dem Makel der Porze-Täterschaft behafteten Personen höchstamtlich und überdies öffentlichkeitsvernehmlich zu rehabilitieren.

Schluss mit der Diskreditierung des Freiheitskampfs

Speckner hatte in einer weiteren opulenten Publikation „Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, Wien (Verlag Gra&Wis) 2016  insgesamt 48andere „Attentate“ bzw. „Anschläge“ einer gründlichen Analyse unterzogen. Dabei erwies sich, dass die meisten entweder überhaupt nicht (so) stattfanden (wie von Italien dargestellt) oder unter „falscher Flagge“ verübt wurden, um den BAS dafür verantwortlich zu machen, seine Aktivisten als Terroristen zu verunglimpfen und damit den Südtiroler Freiheitskampf insgesamt zu diskreditieren. Andere Vorfälle dieser Art erwiesen sich schlicht als Unfälle.

Es ist daher dringend und zwingend geboten, die zentralen amtlichen italienischen Darstellungen zum damaligen Geschehen als das zu begreifen, was sie sind, nämlich Manipulationen und als solche Geschichtsfälschung. Italien, das dafür die Hauptverantwortung trägt, hat in den letzten Jahren unzählige Schwerverbrecher und linke wie rechte ideologisch-terroristische Gesinnungstäter begnadigt. Seinem jetzigen Staatsoberhaupt Sergio Mattarella stünde es daher gut an, nicht allein die Begnadigung Heinrich Oberleiters als Akt der Menschlichkeit zu verfügen. Sondern es wäre längst an der Zeit, dass der 12. Präsident der Republik Italien hinsichtlich all jener verbliebenen BAS-Leute, die schon seit mehr als 50 Jahren  außerhalb ihrer Heimat zubringen müssen,  fortgeschrittenen Alters sind und für niemanden eine Gefahr darstellen,  einen sauberen Schlussstrich zieht.  

Über Reinhardt Olt 33 Artikel
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war seit 1. November 1985 politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren politischer Korrespondent für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruflichen Wirkens zugebracht; daneben nahm er Lehraufträge an deutschen und österreichischen Hochschulen sowie in Budapest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen. 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundespräsident verlieh ihm im gleichen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster von diesem mit dem "Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt"; ebenfalls 2004 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern im Odenwald. Sein Abitur bestand er 1971 in Michelstadt. Nach Ableistung des Wehrdienstes studierte er Germanistik, Volkskunde, osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Freiburg und Gießen bis zur Promotion 1980. Es folgte an der Universität Gießen eine Assistententätigkeit. Dann begann 1985 seine Zeit in der FAZ.