ch finde mich wieder in einem Hausim obersten Stock, über einer sehr belebten, lauten, bunten Straße mit unzähligen kleinen Geschäften im Kairor Stadtteil Maadi. Eine alltägliche Situation beim Fischverkäufer :”Auf welchen Namen darf ich den Fisch preparieren?” – “Muhammed Mursi.” scherzt ein Kunde und es wird gelacht.”Nein, nein. Dann bekommst du von mir keinen Fisch gebraten.”
Kurze Zeit später schimpft der Taxifahrer nur kopfschüttelnd “Mursi…”, wenn der Verkehr stockt durch die vielen ‘tok-toks’ (eine Art motorisierte Rikscha), die angeblich von der Regierung finanziell gefördert werden und den Verkehr aufhalten.
Ich erlebe dieses solidarische, kritische miteinander Scherzen und Lachen der ÄgypterInnen in vielen Situationen.
Wenn auch die Missstände unter Mursi alles andere als zum Lachen sind, ist er – Mursi – fester Bestandteil des ägyptischen Humors geworden.In gewisser Weise ein Zynismus, der sich breit macht angesichts der sozialen und politischen Herausforderungen des Landes.
Abgesehen von der großen Gastfreundschaft und Herzlichkeit meiner Freunde und den tausenden Sinneseindrücken fällt mir vor allen Dingen die politische Zuversicht, verbunden mit einem unbeugsamen Geist auf.Im Auto erzählt mir Mustapha, dass Mursis Unfähigkeit, das Land wirtschaftlich auf einen guten Kurs zu bringen, wie ein Geschenk für Ägypten sei. “Er enttäuscht ganz Ägypten an Leib und Seele, nicht nur seine Gegner.” Seine Hoffnung ist, dass Mursi seine AnhängerInnen stetig verliert.
Wenig später lerne ich auch andere, konträre Ansichten kennen, die sagen, dass große Gruppen der Bevölkerung, vor allem UnterstützerInnen der radikal-islamischen Richtung, der Muslimbruderschaft, immer hinter Mursi stehen und “blind” sein werden für sein Versagen. Die miserable wirtschaftliche und individuelle Situation würden sie – ganz der Regierungspropaganda folgend – auf die Demonstranten schieben, auf die Protestbewegung, die das Land ruiniere.
“Alles, was du über Menschenrechte glaubst zu wissen, vergiss es, wenn du nach Ägypten kommst.” Das ist das erste, was Muhammed zu mir sagt, als ich ihm begegne. Bezeichnend für alles, was er mir nachfolgend erzählte, brannte sich mir dieser Satz ins Bewusstsein ein.
“Niemand interessieren hier Menschenrechte. Nur Machtmissbrauch, persönliche Bereicherung und Korruption.” Der 23-jährige Student Muhammad spricht aus Erfahrung. Mehrmals wurde er unter beiden Regimen festgenommen, misshandelt, sein Arm wurde gebrochen, er wurde mehrmals angeschossen– von der Polizei.
“Früher”, sagt Zahra, “war die Stimmung liberaler, wenn du als Frau ohne Kopftuch über die Straße gingst.” Durch die Politisierung und die Lagerbildung , auf der einen Seite die Anhänger Mursis und der Muslimbruderschaft, auf der anderen Seite die Mursi-Gegner, scheine es, als radikalisierten sich konservativ- muslimische Menschen, die vorher vielleicht dezent in eine andere Richtung geguckt hätten.
Nun käme es öfter vor, dass Männer Frauen ohne Kopftuch und Burkas auf der Straße in manchen Gegenden beschimpfen oder verfluchen. Radikalisiert sich die nun größtenteils politisierte Gesellschaft?
Ohne Frage werden die Menschen Ägyptens seit Beginn der Revolution immer politisierter, getragen durch die gefühlte, verzweifelte Verantwortung, die Zukunft des Landes selbst erkämpfen zu müssen.
Insbesondere die Jugend Ägyptens leidet unter den miserablen Verhältnissen, die hohe Arbeitslosigkeit führt zur Perspektivlosigkeit, gerade deswegen machen junge Menschen bis ca. 28 Jahren den größten Teil der DemonstrantInnen aus. Dass sich die jugendlichen Kräfte Ägyptens mobilisieren und für die drei Grundforderungen der Revolution – Brot, Freiheit und gesellschaftliche Gleichstellung – und vor allem für Demokratie auf die Straße geht, hat sich nicht geändert.
An vielen Ecken sieht man Menschen politisch diskutieren, hitzig, teils handgreiflich, was normal ist, da die Polizei nicht in ihrer Art vorhanden ist, wie es in manchen Ländern Europas als selbstverständlich gilt.Früher diskutierte man über Fußball auf der Straße, nun beeindruckt man mit politischen Ideen und Wissen.
Ich lernte in Kairo viele verzweifelt, einige optimistische Menschen kennen. Alle waren sie der Zukunft Ägyptens sorgenvoll zugewandt und bemüht, die Stärke der Hauptstadt Ägyptens beizubehalten (Kairo = arabisch “die Starke”) undnicht einzuknicken in scheinbarer Ausweglosigkeit.
Die Zukunft der ägyptischen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, ist vor allem eines : ungewiss. Dieses Gefühl von Unsicherheit, der mit aller Revolutionskraft versucht wird entgegenzuwirken – habe ich oft gespürt.
Was in mir immer bleiben wird, ist Hochachtung für das Volk, das ohne demokratische Vorerfahrungen im Kleinen wie im Großen, unermüdlich gegen soziale Ungerechtigkeit und für Freiheit auf die Straße geht, fernab von aller Bequemlichkeit , die wir so oft hier im Westen erleben. Nach jedem größeren Protest säubern die Ägypter am nächsten morgen den Tahrir-platz (Tahire = rein, sauber) von Müll und Dreck – ihren “Square”, der sie vereint, den sie verehren und dem sie ihre Lieder widmen – dem Ausgangspunkt der ägyptischen Revolution.
Interview
Bei meinem Kairo-Aufenthalt habe ich viele Menschen kennengelernt , deren Stimme es verdient, gehört zu werden. Mit dem Aktivisten Mohammad F. konnte ich ein inspirierendes Interview führen über seine Hoffnungen, die Rolle der Polizei, die muslimisch-christlichen Konflikte in Ägyptenund vieles mehr.
Nora: Ihr habt in der Schule keinen Politikunterricht, weder in der Gesellschaft noch in eurem Bildungssystem werdet ihr zur Demokratie erzogen, um euch ein Fundament für die Kritik am System zu geben.
Wie hast du und viele Andere begonnen, das System zu hinterfragen?
Mohammad: Wir sahen die Korruption im Alltag. Einen Polizisten kannst du beispielsweise immer bestechen, wenn du etwas falsch gemacht hast, damit er dir kein Strafschein gibt.
Wir wurden groß in einer Gesellschaft, in der jedes gute Konzept von Korruption überschattet wird.
Wenn du in eine Einbahnstraße fährst und wirst von der Polizei erwischt, kannst du diese immer bestechen. Dieses Vorgehen kannst du auf alle anderen Bereiche der Regierung übertragen.
Nicht viele Ägypter haben das Privileg wie ich in andere Länder reisen zu können (wie Libanon oder die Schweiz) und die dortigen politischen Systeme kennenzulernen – und hier kommt das Internet ins Spiel. Denn als alle Ägypter Zugang zum Internet bekamen, und dadurch Zugang zu anderen Ländern und Kulturen, dachten sie sich im Vergleich, “wir sind so hintenan, wir sind so isoliert”. Wenn du dich über die Lebensumstände in anderen Ländern und Kulturen informierst, siehst du, dass du garnicht lebst wie andere Menschen es tun. Du merkst, dass es dir an Würde fehlt, an menschlicher Würde. Du fühlst dich, als seist du eine minderwertige Spezies.
N: Du brauchst keine politische Bildung, um politische Unterdrückung zu spüren.
M: Genau. Du siehst die Unterdrückung. Du fühlst – wenn dich ein Polizist oder ein Regierungsangestellter anbrüllt, weil du deine Rechte einforderst – das ist Unterdrückung. Du brauchst keinerlei Bildung, um dies zu spüren.
Sie wollen nicht, dass du gebildet bist. Denn wenn du gebildet bist, bist du für sie gefährlicher und sie können dich nicht so leicht kontrollieren.
Jedenfalls habe ich gemerkt, dass es nicht ok und nicht normal ist, unterdrückt zu werden und darüber zu schweigen. An diesem Punkt haben wir uns über die anderen Ideologien und Lösungen informiert, um zu sehen, was man verändern kann.
N: Wann hast du das erste mal die Dringlichkeit zu demonstrieren gespürt?
M: Das war weit vor dem 25. Januar 2011. Im Jahre 2006 nahm ich an einer kleinen Demonstration gegen Mubarak teil, in der wir ein besseres Schul- und Bildungssystem forderten. Die Polizei behandelte uns, als seien wir Nichts, sie standen rum und taten nichts, außer uns davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen. Die Polizei wollte nicht, dass wir gehört werden, denn sie hatte Angst, dass sich immer mehr Menschen uns anschließen und wir uns gegen das Regime vereinen. Deshalb fingen wir an, dem Regime zu misstrauen, wir waren der Überzeugung, dass das Regime nichts für uns tun würde und wir es selbst in die Hand nehmen müssten. Was noch hinzu kam: wir wurden wegen kriminellen Verhaltens angeklagt, obwohl wir nichts verbrochen hatten. Wir lernten damals, dass das Gericht mit dem Regime zusammenarbeitete – wir lernten, es gibt keinen Ausweg. Deine einzige Möglichkeit ist es, dich auf dich selbst zu verlassen, um richtig zu leben.
N: Was ist für dich “ein revolutionärer Geist”? Was unterscheidet freies Denken von unfreiem Denken?
M: Der revolutionäre Geist wird nicht ruhig sein, bis das erreicht ist, was er für richtig hält. Der revolutionäre Geist wird auch Umstände hinterfragen: Warum ist es so, und nicht anders?
Der revolutionäre Geist sollte immer aktiv sein. Nicht nach dem Motto, “wir haben erreicht, was wir wollten, Mubarak ist zurückgetreten, gehen wir nach Hause”. Nein, der revolutionäre Geist sollte seinen Weg verfolgen, bis alle Ziele erreicht sind.
Der Unterschied zwischen freiem und unfreiem Denken… Hier ist das Problem, dass unfreies Denken immer Angst vor neuen Erfahrungen, vor neuen Systemen, Angst vor Veränderung haben wird. Während der ersten vier Tage der Revolution war die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung gegen uns. Sie wollte nicht, dass Mubarak geht, denn sie hatte Angst vor Veränderung. Sie wusste, er war kriminell, jedoch kannten sie niemanden, der ihn ersetzen könnte, und wollten auch niemand Neuen. Sie hatten Angst vor Veränderung und lehnten Veränderung ab, selbst dann, wenn sie zu einem besseren Ägypten führen konnte.
Der freie Geist fehlt uns hier. Einen wirklich freien Menschen triffst du hier selten. Ägypter werden dir sagen, sie seien frei, jedoch sind sie dies nicht. Sie denken, frei bedeutet: Du kannst sagen, was du willst – aber ich werde meine Überzeugungen unter allen Umständen beibehalten. Vielleicht diskutieren wir, jedoch am Ende werde ich meine Überzeugung beibehalten. Ich werde meine Meinung nie ändern – und das ist ein unfreier Geist.
Du kannst das sogar an den Politikern sehen – die meisten von ihnen lösen die Probleme mit der Mentalität des alten Regimes; ihre Strategien haben sich seit den sechziger Jahre kaum entwickelt.
N: Als Mubarak am 11.2.2011 zurücktrat, feiertest du mit den Massen auf dem Tahrir-Platz und verteiltest zur Feier des Tages Süßigkeiten an alle. Dachtest du, dass die Revolution gesiegt hätte und der Kampf beendet sei?
M: Ich dachte tatsächlich so. Ich dachte, wir hätten Freiheit bekommen und könnten nun ein neue Ägypten erbauen, es war ein Rausch der Gefühle. Ich dachte, es sei vorbei. An diesem Tag sah ich den “Vater der Revolution” und gab ihm eine Süßigkeit, um mit ihm zu feiern. Er sagte zu mir ” Warum feierst du? Glaubst du etwa, es ist vorbei?”. Ich versicherte ihm “Ja, Mubarak ist zurückgetreten, was wollen wir mehr!” Er erwiderte ” Nein, mein Sohn. Es hat grade erst begonnen.” Zu diesem Zeitpunkt waren wir noch nicht weise genug, um dies zu erkennen. Was wir nach der Revolution erlebten und noch erleben, ist schlimmer. Damit meine ich nicht, dass Mubarak gut war. Aber wenn wir wollen, dass diese Revolution erfolgreich ist, müssen wir weitermachen und viel hartnäckiger werden. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben und nie vergessen, wofür wir auf die Straße gehen.
Das Regime der Muslimbruderschaft… sie werden ihr Zeit haben, und sie werden wieder gehen. Sie werden nie unser neues Regime sein, sie werden uns nie zurückdrängen, sie werden nie unseren Geist brechen.
N: Du rebellierst und begibst dich in riskante Situationen – unter dem Regime Mubaraks, wie auch unter dem Regime der Muslimbruderschaft. Welche Rolle spielt die Polizei nach deiner Erfahrung?
M: lacht Es hat sich wirklich nichts verändert. Die Polizei denkt, sie würde dieses Land besitzen. Dass sie das Recht haben, auf dich zu schießen, dich einzusperren. Nach ihrer Einstellung sind sie die Herren und wir die Sklaven. Das ist die Mentalität der Polizei und die hat sich leider kein bisschen verändert. Die Muslimbruderschaft hilft der Polizei auch nach der Revolution den Status zu behalten, den sie hat, denn sie braucht die Polizei, wie sie ist. Die Polizei ist ein Werkzeug der Muslimbruderschaft, die Opposition zu unterdrücken. Und die Muslimbruderschaft braucht dieses Werkzeug, um jede aufmüpfige Stimme zu unterdrücken.
Unter Mubarak haben sie das Volk unterdrückt. Zur dieser Zeit existierte ein Notstandsgesetz, was ihnen gesetzlich das Recht gab, uns jederzeit einzusperren. Jetzt gibt es dieses Notstandsgesetz nicht mehr, trotzdem können sie uns immer noch und jederzeit einsperren. Warum? Weil die Muslimbruderschaft eine Verfassung geschaffen hat, die der Polizei dieses Recht gibt. Sie gibt der Polizei das Recht, dich grundlos 12 Stunden einzusperren. Das ist ein Geschenk von der Muslimbruderschaft an die Polizei.
N: Die ursprüngliche Verantwortung der Polizei ist es, den Menschen zu helfen, was ist daraus geworden? Wenn du auf der Straße angegriffen wirst, wen kannst du um Hilfe rufen, wenn nicht die Polizei? Unabhängig davon, Machtmissbrauch kommt natürlich auch in den westlichen Ländern vor.
M: Dass es Machtmissbrauch auch in den westlichen Ländern gibt, ist in normal, solange es nur einzelne Vorkommnisse gibt; manche Polizisten sind kriminell und sollten dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Aber der Unterschied zwischen der Polizei in den westlichen Länder und hier ist: es ist nicht bloß Machtmissbrauch, es ist nackte Gewalt. Ein Beispiel – die Occupy-Wallstreet-Bewegung in New York: Die Polizei kontrollierte die Demonstranten mit „force“ (Übersetzung etwa „entschiedener Druck“) Sie nennen es “force” , nicht “violence” (Gewalt) . Wir haben hier „violence“. Das ist der Unterschied. “Force” heißt, die Polizei versucht dich zum Beispiel mit etwas wie Pfefferspray zu paralysieren. In Ägypten haben sie so etwas nicht – sie haben Geschosse, sie haben Tränengaß, sie haben harte Stöcke, mit denen sie dich schlagen werden. Und sie schlagen dich in einer rachsüchtigen Art und Weise, als würden sie an dir Vergeltung üben. Wenn sie dich verhaften wollen, werden sie dich vorher verprügeln oder anschießen. Die Polizei in der USA würde vielleicht versuchen, dich auf humanere Weise zu verhaften, nicht auf diese geschmacklose Weise, die dir das Gefühl gibt, du wärest ein Tier.
Das ist der Unterschied zwischen “violence” und “force” und der Polizei hier und dort.
N: Ist etwas übrig von der Verantwortung, die die Polizei für die Zivilsten haben sollte? Können die Menschen die Polizei rufen, wenn ihnen Ungerechtigkeit zustößt?
M: Du kannst sie rufen und sie wird schätzungsweise zwei Stunden später auftauchen. Wenn du also einen Mord oder andere Verbrechen auf der Straße siehst und die Polizei rufst, wird sie die Meldung erst einmal eine Stunde lang ignorieren, dann wird sie abwägen, ob sie es überhaupt als nötig erachten, dort aufzukreuzen. Sie nimmt keinerlei Verantwortung wahr für dein Leben und den Frieden auf der Straße.
N: Was kannst du also tun, wenn dir Ungerechtigkeit zustößt?
M: Du kannst es selbst in die Hand nehmen. lacht
N: Du riskierst dein Leben, indem du dich zwischen die Fronten stellst, du wurdest brutal zusammengeschlagen, angeschossen und mehrmals eingesperrt. Warum riskierst du dein Leben? Ist es die Entscheidung, alles für eine Idee zu riskieren?
M: Ja, natürlich…ganz und gar. Denn ich denke, das ist kein Leben. Wenn der Preis mein Leben ist, damit andere in Freiheit leben – dann sei es so. Wenn der Preis mein Leben ist, damit meine Kinder in Freiheit leben – dann sei es so. Ich sterbe lieber auf meinen Füßen, als auf meinen Knien zu leben. Auch sterbe ich lieber auf meinen Füßen, als auf meinen Knien zu sterben. Oder auf meinem Rücken. Wenn ich keine Freiheit habe, keine Bildung, kein Gesundheitswesen, keine Entscheidungsfreiheit, keine Gedankenfreiheit, keine Lebensfreiheit – warum lebe ich dann?
N: Fühlst du es als eine Pflicht?
M: Als eine Pflicht…auf eine bestimmte Art und Weise, ja. Jedoch nicht wie es die Pflicht eines Soldaten sein mag, für sein Land zu kämpfen. Ich muss es nicht tun, aber es bleibt mir keine andere Wahl. Es ist meine Entscheidung, niemand zwingt mich, keine Idee zwingt mich, nichts in meinem Kopf zwingt mich dazu. Ich entscheide mich dazu.
N: Wer legt die Grenzen fest?
M: Das ist nicht leicht zu beantworten, aber ich denke an eine Kombination des Regimes, der religiösen Menschen – ob der Kirche, oder jeglicher anderer Religion – und der Gesellschaft. Jedes dieser drei Bestandteile möchte die Menschen aus eigenem Interesse kontrollieren. Die religiösen Menschen zum Beispiel wollen deinem Geist Grenzen setzen, um sicherzustellen, dass du Religion nicht hinterfragst und sie so frei und ohne zu fragen walten können. Das gleiche gilt für die Politiker – denn wenn du frei denkst oder geistige Grenzen überschreitest, könnten sie ihre Position verlieren. Mubarak hat beispielsweise vor der Revolution Themen kreiert und Grenzen gesetzt, um uns von seinen Machenschaften abzulenken. Die Regierung beschloss eine Zensur für bestimmte Webseiten, was eigentlich nicht wichtig war – diese Webseiten hatten keinerlei politischen oder pornographischen Inhalt; er wollte bloß die Gedanken der Menschen besetzen, damit er freie Bahn hatte. Ein anderes Beispiel ist das Fußballspiel zwischen Ägypten und Algerien. Die Medien verbreiteten das Gerücht, dass Algerien ohne Rücksicht gewinnen wolle, damit es zur Weltmeisterschaft fahren könne. Tatsächlich waren die Menschen gehorsame, folgsame Schafe dieser Propaganda und bemerkten nicht, wie Mubarak zu dieser Zeit zwei große Dinge plante: Erstens legte er die gesetzliche Basis für sein Vorhaben, seinen Sohn zu seinem Nachfolger zu machen. Zweitens ging es um Atommüll, der in Ägypten gelagert werden sollte (dieser Fall ist noch immer vor Gericht). Er versuchte, unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken, sodass er machen konnte, was er wollte. Grenzen werden also von der Politik, den religiösen Menschen und der Gesellschaft festgelegt… Um auf die Gesellschaft zu sprechen zu kommen – auch in der Gesellschaft werden auf vielerlei Art Grenzen gesetzt. Zum Beispiel die Beschneidung – sie ist nirgends vorgeschrieben – nicht im Islam, nicht im Christentum. Sie ist eine gesellschaftliche Konvention. Man will verhindern, dass Mädchen haben. Warum? Um diese Restriktionen, die von der Gesellschaft festgelegt werden, bin ich besorgt. Denn viele der gesellschaftlichen Restriktionen sind verbunden mit religiösen Rechtfertigungen, um sie glaubhafter und rechtmäßig klingen zu lassen. “Nicht ich, sondern Gott hat es so gesagt.”
N: (…) Wie berichten die Medien über die Vorkommnisse? Die lokalen und die ausländischen Medien.
M: Ich habe studiert in der Richtung. Ich war geschockt, als ich in der Schule lernte, dass Medien nicht objektiv sind und auch nie sein werden. Jegliche Art von Medien. Kurz gesagt: In den Medien heiligt der Zweck die Mittel. Wenn du möchtest, dass die Christen schlecht dastehen, berichtest du über Vorfälle so, dass die Christen schlecht dastehen. Genauso tust du es, wenn du möchtest, dass die Muslime schlecht dastehen. Zuerst legst du deine Ziele fest, dann denkst du darüber nach, wie du berichtest. Wenn du eine bestimmte Gruppe schlecht dar stehen lassen willst, wirst du einen Weg finden, dies zu tun. So wird es überall gemacht. Ich sage nicht, dass alle Medien schlecht sind, aber so habe ich es gelernt.
Was die ausländischen Medien betrifft – es gibt Berichte, die nicht objektiv sind, wenn es um Muslime geht. Aber das liegt nicht nur an den ausländischen Medien – sie finden, wonach sie suchen. Eine große Verantwortung kommt den Muslimen selber zu. Nehmen wir zum Beispiel die offensiven Muhammed-Karikaturen: Nur mal angenommen, der Zeichner wollte damit aussagen, dass Muslime und der Prophet Muhammed Terroristen seien. Nur einmal angenommen. Hätten die Muslime gewaltfrei reagiert, wären die Karikaturen bedeutungslos geworden, man hätte allen das Gegenteil bewiesen. Was sie jedoch stattdessen taten, ist wie ein Beweis für die Aussage der Karikatur. Sie sagten der Welt: “Ja, wir sind Terroristen, ja, wir töten den lybischen Botschafter und wir attackieren die amerikanische Botschaft in Kairo und ja, wir töten jeden, der Witze über uns macht. Ja, wir sind Terroristen.” So geben die Muslime also selbst das Bild ab, Terroristen zu sein. Also liegt die Verantwortung zu allererst bei den Muslimen selbst. Sie müssen sich fragen:” Warum stellt uns der Zeichner so dar? Warum haben sie das Bild von uns, wir seien Terroristen? Lasst uns darüber nachdenken und dieses Bild ändern. Warum helfen wir ihnen nicht, ihre Meinung über uns zu ändern und den Islam und die Muslime zu verstehen?”
Also: ja, es fehlt an Objektivität in der Berichterstattung. Aber die Verantwortung tragen die Muslime selbst.
N: Was denkst du über die Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen?
M: Ich kann nicht sagen, dass es nur von der Regierung gesteuert wurde. Es wurde von der Regierung gesteuert, aber nicht nur. Die Christen sind eine Minderheit in diesem Land und zur gleichen Zeit die ursprünglichen Einwohner dieses Landes. Zuerst waren die Christen hier und dann kamen die Muslime und wurden die Mehrheit. Die Christen fühlen sich nun wie Menschen zweiter Klasse und mit weniger Rechten. Sie könnten beispielsweise nie Präsident werden – nicht, weil es verboten ist, sondern weil es von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden würde. Wenn ein Christ kandidieren würde, würde er ein grausamen Krieg der Islamisten gegen sich erleben, weil diese sagen würden, dass man nicht einen Christen wählen dürfe. Auch wenn dieser besser wäre, dürfe man ihn nicht wählen, weil er eben ein Christ sei. Auch wenn Christen es schaffen würden, in hohen Positionen – wie z.B. Premierminister – zu kommen, würden sie einen grausamen Krieg gegen sich erleben. Momentan haben wir unter der Muslimbruderschaft 34 muslimische und 2 christliche Minister, dadurch fühlen sich Christen ungerecht behandelt. Sie leben damit – “wir haben keine Gouverneure, die uns vertreten, keine hohen Positionen in der Armee, bei der Polizei, wir können keine Zeitung herausgeben, wir dürfen keine christliche Partei haben – und gleichzeitig gibt es ganz viele politische Parteien, die den Islam vertreten.”
Zudem fordert die christliche Bevölkerung seit zwei Jahrzehnten ein, bestimmte Rechte zu bekommen. Ein Recht, dass sie verlangen, ist das Recht, Kirchen zu bauen. Sie können zwar Kirchen erbauen, jedoch wird immer versucht, im Nachhinein eine Moschee vor oder in die Nähe dieser Kirche zu setzen.
N: In Deutschland kommt dies auch vor – nur umgekehrt: In Köln beispielsweise stellten sich viele BürgerInnen gegen das Projekt, eine große Moschee zu erbauen – eine Moschee sollte nicht größer sein, als die meisten Kirchen. Man könne eine “Islamisierung” Kölns nicht erdulden.
M: Eigentlich ein sehr engstirniges Verhalten, eine größere Moschee zu bauen als die Kirchen rundum, nur um zu zeigen: Wir sind besser, wir sind größer und stärker, wir sind mehr – ihr seit unterlegen.
Das komische daran ist – vor 80 Jahren gab es ein Gesetz in Ägypten, dass den Bau von Kirchen erlaubte. Ein Artikel dieses Gesetzes besagte, dass dort, wo eine Moschee steht, keine Kirche erbaut, und dort wo eine Kirche steht, keine Mosche erbaut werden darf – damit Moschee und Kirche ihre Privatsphäre erhalten. Dieser Artikel wurde entfernt. Alleine das gibt mir das Gefühl, dass wir Rückschritte machen und keine Fortschritte.
N: Fühlst du, dass die Jugend eine Einheit bildet, wenn du demonstrierst?
M: Natürlich. Aber… diese Frage ist auch mit der letzten Frage verknüpft zu betrachten. Die Einheit der ägyptischen Jugend ist nicht zu erschüttern. Wenn man es sich die Geschichte anguckt – in der letzten Zeit von Präsident Saddad verschärfte dieser den Konflikt zwischen Christen und Muslimen. Anschließend wurde er ermordet. Auch Mubarak zettelte einen Monat vor der Revolution einen Anschlag auf eine Kirche an , um den Konflikt anzuheizen. Jeder, der die Christen ungerecht behandelt oder den Konflikt einheizt, will damit nur sein eigenes Versagen vertuschen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf diesen Konflikt lenken, damit sein Versagen nicht bemerkt wird.
Immer, wenn sich ein solcher Konflikt verstärkt, rückt die Jugend Ägyptens enger zusammen. Wir werden gemeinsam noch widerständiger. Wir lassen unsere Einheit nicht erschüttern, bloß weil da ein erfolgloser Präsident ist.
Während der Revolution gab es einen starken Zusammenhalt. Auf dem Tahrir-Platz ist es nicht aufgefallen, ob du Muslim oder Christ, ob du liberal oder sozialistisch warst. Wir hatten alle nur ein gemeinsames Ziel.
Wenn Muslime während der Demonstrationen beteten, bildeten die Christen um einen Kreis um sie herum, um sie zu schützen. Und andersherum – wenn Christen beteten, bildeten die Muslime einen Kreis um sie, um sie zu schützen. Und so läuft es in unserem alltäglichen Leben ab. Ich habe nie darauf geachtet, ob du Christ bist, oder anders aussiehst. Ich sehe sie nur als Menschen – und alle wahren Ägypter tuen das auch. Du bist Ägypter, nur das ist wichtig. Vielleicht bist du mein Nachbar, mein Freund, mein Boss, oder vielleicht bin ich dein Boss. Das ist alles unbedeutend.
Die Konflikte dieser Art sind fungiert und neu für uns – seit dem Beginn des Regimes der Muslimbruderschaft. Du weißt, dass die Muslimbruderschaft der Ursprung der Al-Kaida ist. Und nach 30 Jahren ist sie extremer geworden, es haben sich Subgruppen gebildet, die sich in eigene Richtungen entwickeln, zu denen die extremsten islamischen Bewegungen gehören. Al-Kaida, Jihadisten, Taliban – alle sind aus der Muslimbruderschaft entstanden. Das ist beängstigend, denn alles begann in Ägypten und die Muslimbruderschaft ist der Ursprung des Extremismus im Islam. Das ist beschämend.
N: Mursi floh aus dem Gefängnis, bevor er Präsident wurde. Glaubst du es gibt eine Chance für Gerechtigkeit in der Politik?
M: Nein. Sie werden diese ganze Illusion von Stabilität nicht aufs Spiel setzen, nur damit alles etwas fairer wirkt. Das Gericht wird ihn freisprechen. Wenn sie ihn für schuldig erklären – was ich bezweifle – wird die Muslimbruderschaft das schlichtweg nicht akzeptieren. Das würde zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und dem übrigen Ägypten führen. Dabei ist es für Islamisten wie eine Belohnung zu sterben. Sie glauben, dass sie dann im Namen Gottes sterben, ins Paradies kommen und dort 70 Jungfrauen auf sie warten. Sie würden es also begrüßen, im Namen Gottes zu sterben. Das wäre wirklich grausam und blutig für beide Seiten. An den Auseinandersetzungen würden nur wenige Zivilisten teilnehmen, hauptsächlich würden sie zwischen Islamisten und der Armee stattfinden, denn diese steht hinter dem Gericht würde und das Gerichtsurteil vertreten. Die Islamisten würden sich wie Opfer fühlen, als hätte man sich gegen sie verschwört. Sie werden für ihren Präsident kämpfen im Namen Gottes.
N: Der sogenannte “Vater der Revolution” sagte im Interview “Wir müssen das alte Ägypten wiederfinden. Ägypten ist verloren.” Teilst du diese Ansicht?
M: Ja, ich teile diese Ansicht sehr. Ägypten ist nicht mehr dasselbe. Ägypten hat eine Art Krankheit. Als ich vor zehn Jahren hierher zog, war es ganz anders. Es war schöner, organisierter, wertvoller. Jetzt will die Muslimbruderschaft Ägypten zu einem islamistischen Staat machen. Einen Staat ohne Geschmack, ohne Farben, ohne Freude. Ägypten war ein Land ohne Extremismus. Ich glaube nicht zu übertreiben, aber es war freier vom Islam selbst. Islam ist nichts schlechtes, ich will damit sagen, Ägypten war nicht geprägt vom Islam, sondern von seiner eigenen, einmaligen Kultur. Die Muslimbruderschaft möchte aus Ägypten ein strengeres Land ohne Freiheit machen und – auch wenn es lächerlich klingt – sie wollten dem Land ein bestimmtes Aussehen geben: Alle Frauen verhüllt, alle Männer mit Bart. Ich habe nichts gegen verhüllte Frauen oder Männer mit Bart, aber ich möchte die Freiheit haben, dies selbst zu entscheiden. Ich möchte Entscheidungsfreiheit haben. Es ist meine Freiheit, nicht deine, über mich zu bestimmen.
Ägypten hat seinen Weg verloren. Die Verantwortlichen dafür wissen selbst nicht, wohin sie gehen. Sie haben keine Ahnung, wohin sie uns führen. Sie katapultieren und kehren zurück in dunkle Zeiten.
N: Das Lied “Ya el Midan” (= “Oh Platz”) der bekannten ägyptischen Band Kairokee ist dem Tahrir-Platz gewidmet. In den Lyrics heißt es: “Manchmal habe ich Angst, dass aus dir nur eine Erinnerung wird. Dass wir dich verlassen und das die Idee verblassen wird. Dass wir alles vergessen, was passiert ist. Dass aus dir nur eine Geschichte wird.” Teilst du diese Angst?
M: sichtlich gerührt Ja, so sehr! Ich habe unglaublich große Angst, dass wir die Idee vergessen! Nicht, dass wir die Idee vergessen, sondern, dass wir die Idee aufgeben. Kurz nach der Revolution gingst du sofort auf die Straße, wenn du hörtest, dass ein einzelner Zivilist festgenommen wurde. Du hättest die Straßen voller Menschen gesehen, die diese einzelne Person verteidigen. Jetzt fangen die Menschen an aufzugeben, nach dem Motto :”Macht doch, was ihr wollt. Es schert mich nicht mehr.” Die Idee fängt an, den Menschen egal zu werden und das bringt mich um.
N: Du glaubst, die Menschen fangen an aufzugeben?
M: Leider ja. Nicht alle, aber viele. Es gibt viele Menschen, die nun sagen, dass Mubarak gut war, weil sie jetzt unter Mursi leiden, der viel schlimmer ist als Mubarak. Aber das heißt doch nicht, dass Mubarak gut war.
N: Geben sich die Menschen mit immer weniger zufrieden?
M: Ja. Wenn du erlebst, wie jemand dein Leben immer schlechter und schlechter macht, fängst du an, zu glauben, dass Mubarak gut war. Er war kriminell, aber zumindest konnten wir in Frieden und Sicherheit leben. Das ist so deprimierend, denn nach einer Revolution erwartest du so etwas nicht. Und warum das alles? Weil wir dieses dumme Regime haben, dass uns mehr und mehr kontrollieren möchte – nur, um eigene Ziele zu erreichen: Das Regime der Muslimbruderschaft.
N: Was vermutest du als junger, ambitionierter Demonstrant, was in den nächsten Monaten geschehen könnte?
M: Ich hoffe, dass wir ohne Extremismus und ohne die Muslimbruderschaft leben können. Das ist meine Hoffnung. Aber ich vermute, dass ich wahrscheinlich getötet werde oder ins Gefängnis komme. Ich kann keine Erwartungen hegen, denn alles, was wir von der Realität, in der wir leben, erwarten können ist, entweder getötet oder eingesperrt zu werden.
Keine Aussicht auf ein freies Leben, wie ich es kenne.
N: Was ist dein Traum?
M: Mein persönlicher Traum? Ich träume davon, die Geschichte zu verändern. Nicht im wörtlichen Sinne. Ich träume davon, dass wir eines Tages ohne Grenzen als eine Nation leben. Ich träume davon, dass wir in Frieden leben. Ich kann es nicht begreifen, dass wir uns nach all diesen technischen Fortschritten immer noch bekämpfen. Dass wir wegen Ressourcen, wegen Land, wegen Rasse, wegen Religion Kriege führen.
Ich träume davon, dass wir diese Geschichte vergessen. Ich träume davon, dass wir uns eines Tages an diese Zeit erinnern, lachen werden und sagen: “Wie dumm wir doch waren, uns damals zu bekämpfen.”
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