Wenn einer eine Reise tut…

„… ja, ich werde euch von vielen Inseln erzählen, die, wo wir momentan sind, im Ozean und im Land der aufgehenden Sonne zu finden sind.“ schrieb Marco Polo 1298/99 in „Il Milione. Die Wunder der Welt“. Japan – auch heute noch ein Land der Gegensätze. Nirgendwo sonst führen unterschiedlichste moderne und traditionelle Elemente in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu einem so fruchtbaren Wechselverhältnis wie hier. Und immer noch schwankt es zwischen einem aggressiven Ausbreitungsdrang wie in der imperialen Kolonialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhundert und der Selbstisolierung der Tokugawa-Ära. In diesem als Edo-Zeit bezeichneten Abschnitt zwischen 1603 und 1868 schirmte sich Japan hermetisch von der übrigen Welt ab. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte die erneute „Entdeckung“ seiner Geografie und seiner vielfältigenTraditionen.
Als Wiederentdecker wurde vor allem der Fotograf Felice Beato bekannt. In den zwanzig Jahren, die er ab 1868 in Japan blieb, beeinflusste der gebürtige Venezianer, der später in England eingebürgert wurde, alle ihm folgenden Fotografen. Sein Werk hinterließ eine tiefgehende Spur, der sich viele westliche Künstler – so auch Claude Monet – nicht entzogen. Er öffnete dem Abendland die damals noch stark feudalistisch geprägte Gesellschaft. Staunen, Verblüffen, Verwunderung waren die Gefühle, die auch heute noch beim Betrachten der handkolorierten Monochrome-Fotografien auf Albuminpapier vorherrschen. „Auf sowohl anthropologische als auch soziale Weise setzte man an, die japanische Kultur ihren doch so unterschiedlichen Erscheinungsformen, die in vielen fotografischen Darstellungen von Bräuchen und Berufen gegenwärtig sind, aufzudecken und zu würdigen. Aber ebenso versuchte man, sie in den urbanen und natürlichen Landschaftsformen zu entdecken, in denen vor allem das ästhetische Prinzip der Natur in den Gärten, Wäldern, Wasserfällen und Blumenarrangements vorherrscht.“, erläutert Monica Maffioli in ihrem Vorwort. Die in diesem Prachtband enthaltenen, fast ausschließlich aus dem Eigentum der Raccolte Museali Fratelli Alinari (RMFA) Florenz stammenden Fotografien von Beato, aber auch zahlreichen unbekannten Künstlern, zeigen auf eindrucksvolle Art „das Streben nach Veredelung durch das Zusammenwirken von Form und Farbe in ihrer ganz kostbaren Schönheit.“
Das riesige Format von fast 50 cm in der Vertikalen und 33 cm in der Breite kumuliert dieses Empfinden um ein Weiteres und versetzt den Betrachter in ein scheinbares Märchenreich. Durchgängig zweisprachig (Englisch und Deutsch) bleibt der Text sparsam in Hintergrund. Nur auf wenigen Seiten sind kurze Sequenzen aus Büchern, Essays oder Notizen verschiedener Persönlichkeiten (u. a. Italo Calvino, Prinzessin Nukata oder Yamamoto Tsunetomo) eingeflochten. Ansonsten beherrscht das Bild die Szenerie. Gegliedert in vier Abschnitte (Orte und Landschaften / Das Universum der Frau / Das Universum des Mannes / Die Arbeit) wird ein eindringlicher Eindruck der Fremdartigkeit und Schönheit dieser fernentrückten Zeit vermittelt. Egal ob ein Straßenabschnitt mit Holzhäusern, in dem gerade Mandelbäume in voller Blüte stehen, eine Rikscha mit zwei Frauen in traditionellen Kleidern, der goldene Pavillon-Tempel in Kyoto oder ein Gefangener in Handschellen mit seinem Gefängniswärter, alle Fotografien strahlen eine unglaublich intensive Aura des Entrückten und Märchenhaften aus. Kaum zu glauben, dass dieses Land heute zu einer der wirtschaftsstärksten und modernsten Nationen der Welt zählt. Vor allem die exotisch anmutenden Frauen in ihren Kimonos mit traditionellem Make-up verstärken diese Perzeption. Doch auch die vielfach tätowierten Männer, Samurais oder Krieger im traditionellen Gewand stehen der Wahrnemung des Geheimnisvollen nicht nach.
Seite für Seite öffnet sich ein scheinbar weltentrücktes, aber unglaublich faszinierendes Panorama eines Landes und seiner Bewohner. „Japanese Dream“ gibt einen wohl einzigartigen Einblick in das Alltagsleben und die Kultur des vormodernen Japans, das in der mehr als 250 Jahre vom Fürstenhaus Tokugawa regierten Epoche eine wahrscheinlich weltweit einmalige Blütezeit des Städebaus, reicher Kaufleute und Handwerker sowie florierender Bürgerkultur erlebte. Noch unser heutiges Bild Japans ist zu erheblichen Teilen von ihr geprägt. In dem vorliegenden außergewöhnlichen Bildband mit seinem seidig schimmernden Leineneinband erhält diese Ära eine unvergleichliche XXL-Würdigung und Wertschätzung par excellence.
Der Hauch des Bambus fegt über die Treppen
aber der Staub bleibt.
Der Mond spiegelt sich auf dem Grund des Teiches,
aber das Wasser berührt er nicht.
– Anonym –

Japanese Dream
Mit einem Vorwort von Monica Maffioli
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern (Juli 2012)
132 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3775734376
ISBN-13: 978-3775734370
Preis: 98,00 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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