Wenn einer auf die Hölle pfeift – Erheiternd und berührend: Gounods Welterfolg „Faust“ bei den Salzburger Festspielen 2016

Von der Tragödie der jungen Frau könne man, bei aller Liebe zur großartigen, herzzerreißenden Musik, ja doch wohl nicht absehen. So versuchte ein Salzburger Kollege auf den sozialkritischen Kern der diesen Sommer erstmals in Salzburg „fest“-gespielten Oper „Faust“ von Charles Gounod hinzuweisen. Also auf das tragische Ende der Marguerite, Goethes „Gretchen“. Dank des Paktes mit Méphistophélès zum leckeren Lover gewandelt, machte Faust, nun nicht mehr alter Glatzkopf, der sich auf seinem Lehrstuhlpult verschraubte, großen Eindruck auf das junge Mädchen. Es endet freilich elend. Tod im Kerker. Von Orgelklängen aus spitz nach unten zulaufenden Pfeifen messerscharf begleitet. In den Himmel kommen dann eh alle …

Auf der Breitwandbühne des Großen Salzburger Festspielhauses stirbt Marguerite nicht einfach so. Auch nicht im finsteren Verlies. Sie wird grausam und zynisch verlacht zu Tode gehetzt und gedrückt. Vom „Chor“. Der übernimmt die Rolle des Mörders. Kollektiv statt Einzeltäter. So wollte es der 58-jährige Salzburger Festspiel-Debütant Reinhard von der Thannen. Er bedingte es sich aus, gepriesen als Ausstatter von Neuenfels` Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ 2011, seinen ersten „Faust“ nicht nur zu bebildern, sondern auch zu in Szene zu setzen. Sein raffiniertes, kühles, vier Epochen der „Faust“-Historie einfangendes Konzept entwickelte er mit seiner Gattin. Hohen Anteil an der verteufelt überzeugenden, karnevalesk heiter und zugleich todtraurig stimmenden Präsentation der Gounod`schen Opernromanze mit Engelssang und Teufelshohngelächter hat Giorgio Madia als Choreograf und Koregisseur. Akrobatisch das Tanz-Völkchen in stilisierten Clown-Overalls, bald mit Zylinder, bald mit Faschingsspitzhut. Lemuren gleich kriecht es am Boden oder ringelt sich um das mit Siébels Margeriten bestückte Gestühl.

Die für konventionell Eingestellte konsternierend zu nennende Inszenierung geht als unerwarteter „Dreh“ in die Geschichte der Salzburger Festspiele ein. Da bleibt die musikalische Finesse, die durchaus zu hören war, im Hintertreffen – zu unrecht. Verantwortet hatte sie der inzwischen versierte Alejo Pérez, den sich immerhin ein Placido Domingo im Vorjahr für den Salzburger konzertanten „Werther“ gewünscht (und gesichert) hatte. Der 42-Jährige Argentinier kam mit den sehr selbstständig zu Werke gehenden Wiener Philharmonikern gut zurecht. Er ließ den französischen, katholisch geprägten Gounod oft oszillieren. Eingesprengt in das von einem ovalen Mittel-Auge dominierte, von Kreuzgang, Liebesbett-Stübchen (mit Marthe Schwerdtlein drauf) und einem dicken Zauber-Kühlschrank bereicherte, stetig taghell designte Bühnenbild: neckisches Kinderspielzeug mit Kirche, Kirmes, Kugeln, Kämmerlein. Auf die Hölle pfiff von der Thannen, auch aufs geisterhafte Treiben zur Walpurgisnacht – all dies überließ er dem Mann am Pult.

Thannen kreierte eine musikalisch finster glühende Gegenwelt zum rauschhaft lichten optischen Diesseits – und zwar in Gestalt des höllischen Impresarios namens Mephisto. Ihm lieh Ildar Abdrazakov, Baschkire des Jahrgangs 1976, brutal-groteske Gestalt in Attitüde und Wohllautstimme. Als manipulativer, geschwänzter Manager der Unterwelt gelang es ihm pfiffig, den nach Jugendlichkeit lechzenden Altglatzkopf Faust an sich zu ketten. Beide glichen sich im Verlauf von 5 Akten immer mehr.

Den blendend aussehenden Bürgerstochter-Verführer gab, ohne Tricks, dafür mit Charme und Schmelz, der polnische Ausnahme-Tenor Piotr Beczala. Eine Glanzleistung. Das Lyrische der zwar nicht heiklen, aber Geschmack verlangenden Partie brachte er ebenso zum Leuchten wie das Dramatische, das „dahinter“ steckt. Top-Töne steuerte Beczala so sicher an wie er sie hielt, zum Niederknien. Bar jeglicher tenoraler Künstlichkeitspose.

Neben diesem Ideal-„Faust“nahm sich die verhalten-kraftvolle, eher ländlich gutmütig wirkende, mehr Heilige als Hure verkörpernde Marguerite der Italienerin Maria Agresta beglückend aus. Angenehm in ihrer Mädchenhaftigkeit. Aber nie Unschuldslamm, immer sich ihrer glühenden Leidenschaft, verständlicherweise nicht für Siébel, bewusst. Dass sie die „Juwelen-Arie“ auch bei fehlenden Juwelen, die Thannen durch einen Glitzer-Fummel ersetzte, dennoch glitzern ließ, war ein Überraschungs-Geschenk an das stimmenverwöhnte Salzburger Publikum.

Die Marthe der Marie-Ange Todorovitch kam witzig, der Schwestern-Beschützer Valentin (Alexey Markov) wegen Hustenanfällen noch gut über die Runden, Paolo Rumetz als Wagner zu aufgeblasen daher und das irische Münchner Sopran-Goldstück Tara Erraught als Siébel bestens an, was die angenehme Kehle, weniger das Outfit anbetraf.

Über so manche optische Peinlichkeit dieser originellen „Faust“-Version (was sollte das über dem Chor baumelnde Riesenskelett?) sei gnädig hinweggesehen, mit einem klaren „Rien“, dem ersten Wort des an Goethe angelehnten Librettos von Barbier/Carré. Es sei hier, wie bei Thannen (s. Foto vom Schlussapplaus) auch das letzte.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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