Wenn der Wächter schläft, sind die Gedanken frei

„Was ist das? Der Mensch wünscht es sich herbei, und wenn er es endlich hat, lernt er es nicht kennen.“ Mit diesem Rätsel brachte bereits Leonardo da Vinci das Paradoxe und Geheimnisvolle dieser menschlichen Notwendigkeit auf den Punkt. Der Schlaf ist ein faszinierendes Phänomen. Man meint, ohne Schlaf nicht leben zu können. Für Körper, Geist und Seele scheint er unentbehrlich. Aber niemand weiß, was er tut, wenn er schläft, und warum er es tut. „Wir verbringen den ganzen Tag bei klarem Bewusstsein, dann legen wir uns ins Bett, knipsen das Licht aus und – was? Knipst sich das Gehirn auch aus? Wird es ausgeknipst? Was passiert mit all den Ideen darin? Erstarren sie? Laufen sie langsam weiter?“ Diese und weitere Fragen stellt sich der studierte Philosoph und Mathematiker Tobias Hürter, der als freier Autor und Wissenschaftsjournalist arbeitet, in seinem unterhaltsamen und lehrreichen Buch. Erstaunlicherweise geschieht sogar sehr viel wenn wir schlafen. „Da werden Erinnerungen sortiert, Gefühle geklärt, Urteile geschärft.“, so Hürter. Und Allan Hobson von der Harvard-Universität behauptet gar, ohne Schlaf wäre Bewusstsein, wie wir es tagsüber haben, nicht möglich. „Es ist wie beim Kochen, im Wachen holen wir uns die Zutaten, im Schlaf kochen wir die Suppe daraus.“, stellt der kalifornische Schlafforscher Matthew Walker fest. Offensichtlich vollenden wir in der Abgeschiedenheit der Nacht, was wir am Tag begonnen haben.
Tobias Hürter nimmt den Leser auf eine spannende Reise durch die Nacht mit. Eingeteilt in 17 Kapitel, beginnend um 21:00 bis morgens um 7:30, tastet er sich in die rätselhafte Welt des Schlafes vor und vermittelt die von der Wissenschaft mehr und mehr entschlüsselte „fein choreografierte Folge von Zuständen, die wir Nacht für Nacht durchleben.“ Mit diesem Buch kann die normalerweise im wahrsten Sinne des Wortes verschlafene oder „verborgene Dramaturgie der Nacht“ im Wachen durchlebt werden. So durchwabern zum Beispiel um 21:20 Alphawellen unser Gehirn oder man versinkt gegen 23:00 im Reich der hypnagogen Fantasie. Der Verstand wird abgeschaltet und wir geben die Kontrolle über den Körper und das Geschehen im eigenen Kopf vollkommen ab. Ganz schön mutig! Allerdings ist bereits um 0:30 Schluss mit Entspannung. Dann kommt mit dem REM-Schlaf Unruhe in die Hirnstromkurven und der erste Lärm stellt sich ein. Lärm? Allan Hobson, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, hält Träume für den „Lärm, den das Gehirn macht, während es seine Hausaufgaben erledigt.“ Tobias Hürter ergänzt: „Im Traum verknüpft unser Gehirn die Bruchstücke der Erinnerung zu einem sinnvollen Ganzen. (…) Der REM-Schlaf ist die Spielphase des Gehirns nach dem Großreinemachen im Leicht- und Tiefschlaf.“ Den physiologischen Tiefpunkt erreicht der Schläfer allerdings erst 4 Uhr. Eine gut wärmende Bettdecke wäre jetzt angebracht, denn der Körper fällt auf seine Minimaltemperatur. Und wenn man um 7:30 meint, endlich wach zu sein, hat man sich schon wieder getäuscht. Denn eigentlich träumen wir weiter…. Tobias Hürter hat mit „Du bist, was du schläfst“ ein Sachbuch mit philosophischem Grundtenor geschrieben. Denn wenn wir einschlafen, geschieht etwas Besonderes: unser Bewusstsein, dieser Synchronisierer des „milliardenstimmigen Neuronengeplappers zu einem einheitlichen Ganzen“, scheint sich im Nichts zu verlieren. Dieser Moment ist für das Bewusstsein nicht zu erhaschen, denn es entschlummert selbst. Vielleicht liegt gerade da ein Schlüssel zu dessen Rätsel.
Im Schlaf, so Tobias Hürter, werden wir zu Kindern, Künstlern, Psychotikern, manchmal zu Zombies, manchmal zu Affen und dann zu Menschen. Eines ist jedoch mittlerweile klar: Wir schlafen nicht für unseren Körper, sondern für das Gehirn! „Wir schlafen, um unser Gefühl für uns selbst zu erhalten.“, fasst der Autor zusammen und dazu „brauchen wir regelmäßig Ruhe vor uns selbst. (…) Das Bett ist somit mehr als eine Ruhestätte, es ist ein Bewusstseinslabor.“

Tobias Hürter Du bist, was du schläfst.
Was zwischen Wachen und Träumen alles geschieht
Piper Verlag, München (September 2011)
272 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3492054544
ISBN-13: 978-3492054546

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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