Fällt der Name Carl Orff, denkt jeder an seine wohl unsterblichen „Carmina Burana“, aber kaum einer mehr an seine großartigen Antiken-Dramen, eher noch an die „Agnes Bernauer“ oder den „Mond“ oder „Die Kluge“. München als Orff-Stadt? Weit gefehlt! Dort sitzt zwar eine Orff-Stiftung, aber in den Theatern ist Orff rar. 2022 ist Orff 40 Jahre tot. Hat München das gefeiert? Anders: Salzburg. Die Festspiele besannen sich der Uraufführung Herbert von Karajans von 1973 und stiegen mit Orffs letztem Bühnenwerk „De temporum fine comoedia“, dem „Spiel vom Ende der Zeiten“ in den Sommer ein. Bravo zu Werkwahl und Werk-Realisation.
Der Titel verweist auf Dante
Der Titel verweist auf Dante, der mit seiner 700 Jahre alten „Göttlichen Komödie“ eine „düstere Reise von einem Höllenkreis zum nächsten durch das Fegefeuer ins transzendente Licht mit höchster Kunstfertigkeit beschrieb“, wie Christian Arseni formulierte. Orffs Mysterienspiel, dessen ultimative Fassung 1981 gelang, stuft Thomas Rösch, Direktor des Münchner Orff-Zentrums als das „gedankentiefste und am weitesten in die musikalische Avantgarde vorstoßende Werk“ des Komponisten, der in Andechs begraben liegt, ein. Für sein Libretto verwendete Orff Texte aus den Sibyllinischen Weissagungen und den Orphischen Hymnen. Anstrengend also. Und gespickt mit lateinischen und altgriechischen Textpassagen.
Und inszeniert von einem Philosophen, dem Theatermacher Romeo Castellucci. Der darauf versessen war, die „Comoedia“ auf die Bühne zu bringen – als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner und Lichtdesigner in einer Person, zusammen mit dem nicht unumstrittenen, gleichwohl am „gedankentiefsten“ arbeitenden und seine Musiker (in dem Fall: Gustav Mahler-Jugendorchester, musicAeterna Choir und Bachchor Salzburg) bis zum Äußersten treibenden griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis. Beiden Spitzenkünstlern ist ein durch Intensität des Spiels und Gesangs, Sinnlichkeit der Konkretisierung, theologisch profunde Auslotung, auditive wie optische Raffinesse faszinierender (Halb-)Abend gelungen, der vielleicht, vor allem im 3. Teil, zu ausufernd und damit für so manchen Zuschauer belastend geriet, so dass mancher das Weite suchte.
Bewunderung verdienen die großartigen Interpreten dieser „Oratorienoper“
Gerade dieser 3. Teil bringt mit der Theologie des Origines – Teil 1 mit seiner Untergangsstimmung, Teil 2 mit seinem Nihilismus sind überwunden – die Erlösung der Menschen zur Sprache. Sie sind nicht ewig verdammt, werden vielmehr umgewandelt. Aus dem Bösen wird das Gute. Ermöglicht durch die Erlösungstat Christi: „Alles ist Geist!“ Schwer zu verstehen, aber befreiend und Hoffnung gebend. Unser düsteres Dasein wird hell! Bewunderung verdienen die großartigen Interpreten dieser „Oratorienoper“, Nadezhda Pavlova an der Spitze der neun Sibyllen, Gero Nievelstein als Solo-Sprecher und Christian Reiner als Lucifer – die zahlreichen Mitwirkenden inklusive, sowohl auf als unter und hinter der Riesenbühne der leider architektonisch ungenutzt bleibenden Felsenreitschul-Bühne. Diese war am Ende „erfüllt“ von einer Unmenge als nackt empfundener, „armselig kriechender“ Endzeit-Wesen, die die Reue des gefallenen Engels „Pater, peccavi“ (Vater, ich habe gesündigt) mittrugen – in der Aussicht auf Vergebung.
Dem Orff ging ein (musikalisch stark anrührender) Bartok voraus, seine einzige Oper „Herzog Blaubarts Burg“ von 1911. Führte der düster gehaltene, menschenvolle Orff eindeutig vom Dunkel ins Helle, brachte der intime Bartok es kaum fertig, sich aus der Finsternis zu lösen. Die allzu starke Reduktion der Geschichte vom brutalen Frauenmörder und seiner neuen Burg-Dame, die dem Egomanen mit Haut und Haar verfallen ist, der Verzicht, wenigstens die Metapher der verschlossenen Türen augenfällig zu machen, stattdessen pyromanische Wunder in Kreis-, Kreuz- und „ICH“-Form bestaunen zu lassen – der erste Halb-Abend entließ den Festspiel-Besucher albtraumhaft in die (zu lange) Pause.
Blaubart und Judith konnten mit Mika Kares und Ausrine Stundyte rollendeckender nicht besetzt sein
Kein Zweifel: Blaubart und Judith konnten mit Mika Kares und Ausrine Stundyte rollendeckender nicht besetzt sein. Beide überzeugten voll und ganz. Kares` rauer Bass, seine transparente Diktion des Ungarischen, sein insgesamt herbes, aber nie unangenehm lüsternes Porträt eines krankhaften Frauenhelden sind nicht weniger zu würdigen als die bewegende Verkörperung eines verhuscht im Dunkeln untergehenden, liebeskranken, verhärmten, fehlgeleiteten und enttäuschten jungen Mädchens durch die derzeit zu Recht gefeierte Ausrine Stundyte.