Wendung nach innen

„Expressionismus sollte konkurrieren mit der Entdeckung der Psychoanalyse von Siegmund Freud und mit der Entdeckung der Quantentheorie von Max Planck.“ Der österreichische Maler Oskar Kokoschka prägte diese Worte. Beginnend mit Klimt und seinen Schützlingen, zu den neben Kokoschka auch Egon Schiele gehörte, erwies sich die Malerei der österreichischen Moderne dem kreativen Schreiben und der Psychoanalyse in ihrer Fähigkeit, aus der damals vorherrschenden restriktiven Haltung gegenüber Sexualität und Aggression aufzubrechen und das wahre Innere der Menschen zu enthüllen, als ebenbürtig. Kokoschka hätte auch sagen können: „Wir alle sind Freudianer, wir alle sind Vertreter der Moderne; wir alle wollen tief unter die sichtbare Oberfläche vordringen.“ Eine Wendung nach innen begann um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts, einhergehend mit dem Versuch, in Kunst, Architektur, Psychologie, Literatur und Musik neue Ausdrucksformen zu erforschen.
Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel, 1929 in Wien geboren, 1939 mit seiner jüdischen Familie in die USA emigriert, hat mit dem vorliegenden Werk ein wahrhaft monumentales Buch über die intellektuelle Entwicklung Wiens am Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die österreichische Kunst der Moderne, Psychoanalyse und Kunstgeschichte geschrieben. Verknüpft mit Erkenntnissen aus seinem professionellen Wirken in der Gehirnforschung ist ein faszinierender, hochinteressanter und zudem ungemein gut lesbarer und verständiger Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst, dessen Wurzeln im Wiener Fin de Siècle liegen und von ihm in drei Phasen eingeteilt wird, entstanden. „Die erste Phase begann als ein Austausch von Erkenntnissen über unbewusste geistige Prozesse zwischen den Künstlern der Moderne und Vertretern der Wiener Medizinischen Schule. Die zweite Phase wurde in den 1930er-Jahren von der Wiener Schule der Kunstgeschichte angestoßen und führte den Dialog als Interaktion zwischen Kunst und einer Kognitionspsychologie der der Kunst fort. In der dritten Phase, die vor 20 Jahren begann, legte der Austausch zwischen dieser Kognitionspsychologie und der Biologie den Grundstein für eine emotionale Neuroästhetik, die versucht, unsere perzeptuellen, emotionalen und empathischen Reaktionen auf Kunstwerke zu ergründen.“, erläutert der Autor.
In „Das Zeitalter der Erkenntnis“ richtet Eric Kandel sein Augenmerk hauptsächlich auf die frühesten Verflechtungen der neuen Wissenschaft des Geistes mit der Kunst. Dabei konzentriert er sich bewusst auf die Porträtmalerei der Moderne im Wien des frühen 20. Jahrhunderts, weil diese Kunstform und diese Epoche für ihn von einer Reihe bahnbrechender Versuche gekennzeichnet waren, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verknüpfen. Auf Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele richtet er dabei sein besonderes Augenmerk. Diese drei Künstler und eine umfangreiche Auswahl und Präsentation ihrer Werke begleiten den Leser über den Großteil aller Seiten. Zahlreiche Querverbindungen zu anderen Wissenschaftlern, Autoren und Künstlern wie Siegmund Freud, Arthur Schnitzler, Vincent van Gogh, Franz Xaver Messerschmidt und seine Charakterköpfe, den Pathologen Carl von Rokitansky u. v. m. erweitern und ergänzen auf beeindruckende Art und Weise das Betrachtungsspektrum. Immer wieder zieht Kandel Verbindungen zur heutigen Hirnforschung, zu kognitionspsychologischen und neurobiologischen Grundlagen von Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl, Empathie und Kreativität und zeigt auf, wie Menschen Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren.
Entstanden ist ein gewichtiges Werk – Kandels Opus Magnum – für ein allgemeines Lesepublikum, aber auch für Interessenten oder Studenten von Kunst und Geistesgeschichte. Neben dem zum Teil biografischen, dann wieder wissenschaftlich erläuternden, zuweilen sehr persönlich-emotionalen, in 32 Kapitel gegliederten Text, wartet der Inhalt mit 219 zum größten Teil farbige Abbildungen auf. Eric Kandel gelingt es eindrucksvoll und spannend aufzuzeigen, wie Wissenschaft und Kunst einander in der Vergangenheit beeinflusst haben und wie diese Einflüsse in Zukunft unsere Kenntnisse und unsere Freude über die Wissenschaft wie auch über die Kunst bereichern können. Ein beeindruckendes Buch!
„Hässlich ist in der Kunst das, was keinen Charakter, das heißt weder eine äußere noch eine innere Wahrheit besitzt.“ (Auguste Rodin)

Eric Kandel
Das Zeitalter der Erkenntnis
Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute
Aus dem amerikanischen Englisch von Martina Wiese
Titel der Originalausgabe: The Age of Insight
Siedler Verlag, (Oktober 2012)
704 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3886809455
ISBN-13: 978-3886809455
Preis: 39,99 EURO

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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