Nach der Feuilletonschlacht und dem IM-Vorwurf war es lange Zeit ruhig um Christa Wolf. Sie hatte Zeit, sich neu zu Wort zu melden. Dies geschieht nun mit ihrem Roman „Medea. Stimmen“. Schon vor seinem Erscheinen stand die Frage im Raum, ob damit der deutsch-deutsche Literaturstreit, der ein Streit deutsch-deutscher Intellektueller war, erneut aufflammen würde. Ein Blick auf die Rezensionen zu „Medea“ im westlich geprägten „Spiegel“ und in der „Zeit“ sowie im östlich verwurzelten „Freitag“, in der „Wochenpost“ und im „ndl“ scheint die Vermutung zu bestätigen: Lob oder Schonung hier, Verriß dort. Man wußte es ja. Aber so einfach ist das nicht. Die Karten sind neu gemischt; es geht nicht mehr darum, Christa Wolfs Rolle in der DDR zu kommentieren, sondern ihre erste literarische Veröffentlichung im „Gesamtdeutschland“ zu beleuchten.
Das Konzept des Buches besteht in einer neuen Sicht auf den antiken Mythus. Man erinnert sich: Medea ist die Kolcherin, die dem Korinther Jason hilft, den Kolchern das „Goldene Vlies“ zu stehlen, die dem Geliebten nach Korinth folgt und dort, als Jason sie seiner Ambitionen auf den Thron wegen verläßt, dessen Braut Glauke, König Kreon sowie Jasons und ihre Kinder tötet. Der Kindsmord ist Zutat von Euripides. Aber auch ohne ihn bliebe das Bild einer Frau, die der Schmerz zur Mörderin aus Haß und Liebe werden läßt. Der Tenor der literarischen Bearbeitungen: vor einer solchen „Rasenden“ (und stand sie nicht für alle Frauen?) sollte man sich in Acht nehmen. Es war nicht anders zu erwarten gewesen, wenn Männer (es waren immer Männer) den Stoff aufgreifen. Die Neuschreibung der Geschichte aus weiblicher Sicht stand also auch hier an. Christa Wolf hat sie auf sich genommen.
In Christa Wolfs Roman nun bringt Glauke, die depressive Königstochter und Halbfreundin Medeas, sich selbst um, als die Korinther das Verbannungsurteil über Medea aussprechen. Die Kinder, die Medea sich erbittet, aber nicht bekommt, werden vom aufgebrachten Mob gesteinigt. Noch etwas: der Staat Korinth gründet auf einem Verbrechen, über das keiner spricht – die Opferung (sprich: Tötung) der kleinen Königstochter Iphinoe, um den Wechsel der Krone in weibliche Hände zu vermeiden. Diese unbewältigte Vergangenheit ist deswegen so skandalös, weil das reiche Korinth sich kultiviert und zivilisiert gibt, Kolchos aber als das zurückgebliebene Land der Barbaren, wo man zudem noch vagen Utopien von einer gerechten Gesellschaftsordnung der Eintracht und Besitzgleichheit nachhängt, disqualifiziert. Wenn dann andererseits Kolchos von einem senilen Alten regiert wird und ebenfalls seine (Kinder-)Leiche im Keller hat, weiß man, worum es in diesem Text auch geht. Ein Deutschlandroman also im Gewand der Geschichte. Das erstaunt keineswegs – der ehemalige Leser der DDR weiß, daß das Wort „Gegenwartsroman“ ein Pleonasmus ist, wie Volker Braun einmal formulierte. Wenn klar ist, woher der Wind durch den Mythus weht, liest man anders. Der Text wird zur Allegorie, zum Schlüsselroman, zum Selbstfindungsangebot. Daß dieses Angebot seine ostdeutsche und weibliche Herkunft keineswegs verschweigt, kann man der Autorin nicht zum Vorwurf machen. Der subjektive Blick macht ja den Reiz von Literatur aus und markiert die Authentizität eines Textes. Und trotzdem besteht darin auch das Problem dieses Buches.
Christa Wolf nennt ihren Roman im Zweittitel „Stimmen“. Damit verdeutlicht sie, daß hier nicht ein auktorialer Erzähler spricht, der aus einer über den Dingen stehenden Position das Geschehen sichtet und dem Leser neutral darstellt. Diese Erzählhaltung würde aufgrund ihrer externen Stellung implizite einen Wahrheitsanspruch postulieren, der heute unaufgeklärt wirkte. Zumindest wäre das so, wenn der auktoriale Erzähler keiner gegensteuernden Ironisierung unterläge. Ironie aber ist nicht Christa Wolfs Sache, man weiß, sie setzt auf eine besinnliche, geradezu `verernstete' Sprache. Andererseits erhebt sie durchaus Anspruch auf Wahrheit, denn sie will, wie sie im Vorwort sagt, von einer Lüge befreien: „Falsche Fragen verunsichern die Gestalt, die sich aus dem Dunkel der Verkennung lösen will. Wir müssen sie warnen. Unsere Verkennung bildet ein geschlossenes System, nichts kann sie widerlegen.“ Das zielt auf „unser“ offizielles, männliches Geschichtsbild, vor dem Medea gewarnt, gerettet werden muß, indem nun die richtigen Fragen gestellt werden. Aber ist damit das geschlossene System der Verkennung zu durchbrechen? Antwortet ein Gegenstand nicht immer nur auf die Fragen, die man ihm stellt?! Der hermeneutische Zirkel wird gesprengt, indem man/frau nicht fragt, sondern zuhört. Und so endet das Vorwort mit dem Satz: „Jetzt hören wir Stimmen.“
Die erzähltechnische Konsequenz ist das Auftreten verschiedener Personen, die, als Beteiligte des Geschehens, dieses in mehr oder weniger langen Monologen schildern und kommentieren. Im Gesamt der unverhohlenen Subjektivität dieser Figuren kann der Text dann wieder eine gewisse Objektivität beanspruchen: schließlich kommen alle, auch Medeas Feinde, zu Wort. Ein demokratisches Verfahren der Meinungsbildung also – und wenn es auch die Wahrheit nicht geben kann, so gibt es sie in einer Demokratie doch eher als in der Diktatur, welche mittels Zensur und anderer Maßnahmen unliebsame Stimmen zum Verstummen bringt. Die Crux der im Roman zusammengeführten Stimmen ist freilich, daß sie alle von Christa Wolf ausgehen. Das liegt in der Sache, ist kaum zu vermeiden. Man fragt sich also, wie viele verschiedene, gegensätzliche Herzen und Seelen die Autorin in sich auszuhalten und zu nähren vermag, man fragt sich, wie es ihr gelingt, jeder ihrer Figuren tatsächlich eine eigene Stimme zu geben.
Betrachtet man die einzelnen Figuren, scheint ihrer Subjektivität zunächst durchaus Gerechtigkeit zu widerfahren. Hört man genauer zu, bleibt statt der eigenen Stimme bloß der eigene Sprachstil. Alle Figuren erweisen sich schließlich als Anwälte Medeas; ihre Sätze dienen nur dazu, deren Gutsein hervorzuheben. Auch wenn sie über sich sprechen, sprechen sie niemals für sich. So sind Medeas Feinde mit einer erstaunlichen Lust an der Sebstdenunziation ausgestattet. Das geschieht scheinbar ganz folgerichtig und nebenbei im Reflektieren über ihr Denken und Tun; das Böse (respektive die Wahrheit) spricht sich eben von alleine aus. Aber es wirkt auch, als habe jemand sie hypnotisiert, vor allem gegen sich auszusagen. Das tun sie dann mitunter so eifrig, daß sie sich selbst widersprechen. Agameda etwa (bereits in Medeas Monolog eindeutig als Wendehals typisiert) schildert sich als charakterlose Konvertitin, die nur eines will: im neuen System Karriere machen. Klar, daß sie sich also an der Verschwörung gegen ihre frühere Lehrerin beteiligt. Als sie später ahnt, welchen Brocken sie mit ihrem Handeln auf Medea gewälzt hat, fragt sie sich nur kurz, ob sie auch mit diesem Wissen so gehandelt hätte. Die Antwort ist Ja und offenbart die ganze Kaltblütigkeit dieser Frau. Wenn Agameda jedoch anschließt: „Und sogar dann, wenn dieser Brocken mich erschlagen würde“ (S. 83), zerbricht die Logik der Figur zugunsten der Darstellung einer doppelten Schlechtigkeit. An die Stelle des Kalküls tritt nun blinder Haß, und gedacht war es vielleicht so, daß der Leser beides addiert. Aber es schließt sich gegenseitig aus, denn ein Wendehals besitzt nicht in Ansätzen jene Leidenschaft eines Kamikaze. (Wenn Jason später von Agameda sagt, sie sei Medeas überzeugendste Anklägerin, weil sie „sich hütete, ein einziges Wort der Verdächtigung oder gar Bezichtigung gegen die Todfeindin fallenzulassen“ [S. 216], gleich darauf aber hinzufügt, Agameda habe „Medeas Sorge um Glauke ein besonders perfides Mittel [genannt], an ihr Ziel zu gelangen“ [S. 217], will die Addition beider Aussagen erneut nicht gelingen.)
Zugegeben, das sind Details, die man überlesen könnte. Aber in diesen Details verrät sich der Text. Sie lassen die Parteilichkeit der Richterin erkennen und vermitteln dem Leser den Eindruck, Zeuge eines Schauprozesses zu sein. Dieser Eindruck wird durch anderer stilistische Mittel gestärkt, etwa wenn Turon (der Yuppi, dessen Skrupellosigkeit selbst Akamas, den Fädenzieher in Korinth, anwidert) als Mensch mit „langen knochigen Fingern und einem klebrigen Blick“ und mit dem „Geruch nach fauligem Schweiß“ (S. 139) geschildert wird, der sein Gegenüber aus „engbeieinanderstehenden Augen“ „anglumert“ (S. 158), mit einer „Grimasse, die er für ein Lächeln hält“ (S. 160). Auch das ist etwas zuviel des Guten. Weniger Ekelattribute hätten den Lesers vielleicht nicht so leicht auf den Gedanken gebracht, diese Art, gegen eine Figur einzunehmen, möge nicht ganz lauter sein.
Weniger wäre jeweils mehr gewesen. So aber spürt man zu stark ein bestimmtes Interesse der Autorin im Blick auf die Geschichte. Christa Wolf hat nicht wirklich jede ihrer Figuren sprechen lassen. Sie hat sie zu Marionetten gemacht, die das gewünschte Bild der Geschichte stützen. Statt ihnen zuzuhören, wie im Vorwort versprochen, hat sie ihnen ihre Wörter diktiert. Das ist der Betrug, auf dem das Buch gründet. Gut und Böse sind dadurch so sauber getrennt worden, daß Wertungen (nun von der anderen Seite her) leicht fallen. Auch Jason, eine halbwegs ambivalent gezeichnete Figur, erhält noch seinen Stempel, als er im Roman schließlich Medea vergewaltigt. An dieser Schwarz-weiß-Malerei ändert auch nichts, daß Leukon sagt, er finde „keine einzige der Untaten der letzten Zeit, deren Zeuge ich war, bei der ich nicht beide Seiten verstanden hätte.“ Denn er fügt hinzu: „Nicht entschuldigt, das nicht, aber verstanden. Die Menschen in ihrer Verblendung.“ (S. 224) – und damit hat es wieder seine Richtigkeit: hier das Recht, dort die Verblendung. Medea aber, so Leukon weiter, ist das „unschuldige Opfer, frei […] von innerem Zwiespalt“ (S. 224). Sie ist nicht einmal insofern problematisch, als sie aus unüberwindlicher Liebe zu einem Fremden diesem gegen ihr eigenes Vater- und Mutterland zum Goldenen Vlies verholfen hätte – Christa Wolfs Medea verläßt, da der König ihren Bruder, den Thronnachfolger, töten ließ, mit gutem Grund ihre Heimat.
Die Reinwaschung Medeas zum makellosen Opfer wurde in verschiedenen Rezensionen Christa Wolf zum Vorwurf gemacht. Völlig zu recht, denn sie bedeutet einen Rückfall hinter den inzwischen erreichten Diskussionsstand bezüglich Verblendung und Verkennung. Sie ist im Grunde (feministische) Ideologiekritik, die selbst nicht der Kritik unterzogen wird. Mit anderen Worten: aus dem Mythus ist ein Märchen geworden.
Märchen sind gefallene Mythen, sagte Franz Fühmann in den 70er Jahren und wandte sich mit dieser Unterscheidung gegen die groben Denkmuster realsozialistischer Demagogen. Während der Mythus durch die Widersprüche seiner Figuren gekennzeichnet ist (Angst und Verlangen, gerecht und ungerecht, teuflisch und rein), sind diese im Märchen gelöscht, indem „ihre Einheit ins Gegeneinanderstehen von zwei autonomen und in sich homogenen Gestalten auseinanderdrieselt: der gute Prinz da, der böse Zauberer dort“ (Fühmann, Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock 1986, S. 94). Dieser Gegensatz bedeutet nicht mehr Widerspruch, denn die Akteure sind ganz mit sich im Reinen, und wenn der Gute gewonnen hat, hat auch schon das Gute gesiegt. Im Märchen gibt es immer eine Lösung ohne Rest; es vermittelt nicht die Wahrheit des Lebens, sondern dessen Wunschvorstellungen, man kann auch sagen: Utopien. Im vorliegenden Fall provoziert das die These, die Rückkehr zum Märchen deute auf einen nicht überwundenen Verlust der marxistischen Ideologie hin. Von der Demontage der alten Ideale in eine beängstigende Orientierungslosigkeit entlassen, wird der Versuch unternommen, eine neue Wahrheit zu finden – Medea als reines Opfer bietet die Projektionsfläche dafür. Das ist nicht etwas, das man nicht verstehen könnte. Man bedauert es trotzdem, denn an die Stelle der alten Verkennung und Selbstverkennung tritt damit nur eine neue.
Das Buch, das durch seine sprachliche Eleganz, seinen flüssigen Erzählstil sowie die in vielen Nebensätzen ausgewiesene Beobachtungsschärfe und Lebenserfahrung der Autorin besticht, enttäuscht zugleich, weil es im Umgang mit dem Stoff die billigere Lösung wählt und die abgründige Medea zur lieben Frau entschärft. Dies enttäuscht umsomehr, als Christa Wolf zu DDR-Zeiten (auf der Basis einer `kritischen Identifikation') gerade gegen solcherart Reduktionismus vielfach dem Sowohl-als-Auch zum Ausdruck verhalf. Man mag Christa Wolfs Text angriffslustig nennen und in Medea die „Alice Schwarzer von Korinth“ (Volker Hage im „Spiegel“) sehen. Die Entscheidung für das Märchen ist andererseits Zeichen der Schwäche: sie bedeutet Flucht vor den gesellschaftlichen und individuellen Widersprüchen, die im Zeitalter postmoderner Skepsis gegen simple Antworten gerade den Mythus zum Modell des Seins werden lassen.
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