Kein Platz könnte sich besser eignen, um Geschichte wahrnehmbar, fühlbar zu machen, als das Grundstück Ecke Brienner-Arcisstrasse, wo am 1. Mai das NS-DOKUMENTATIONSZENTRUM seine Tore für das Publikum geöffnet hat. Eingefügt zwischen den zwei NS-Zwillingsbauten an der Arcisstrasse Nr.12 und Katharina-von-Bora-Straße 10 -, respektive heutiger Sitz der Hochschule für Theater und Musik und des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke -, ragt nun ein strahlend weißer Kubus heraus, der sich mit seinen klaren Konturen asymmetrisch und hochmodern unter den klassizistischen Bauten von Ludwigs I. „Isar- Athen“ behauptet und unübersehbar den tragischen Bruch mit Münchens Geschichte symbolisiert, der genau an dieser Stelle vollzogen wurde. Einen „idealen Ort“ nennt ihn Theo Waigel, der der Bitte des seit Jahren im Kampf gegen das Vergessen bemühten KZ-Überlebenden Max Mannheimer nachkam, zusammen mit ihm Mitglied des Kuratoriums zu werden. Ideal, weil der neue Bau genau auf dem Grundstück der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP errichtet wurde, vom so genannten „Braunen Haus“, das in dem weißen Würfel nun kontrapunktisch ihr Gegenstück findet. Zwölf Jahre lang waren etwa 6.000 Parteifunktionäre von dort aus für die Verwaltung des Grauens verantwortlich. In ganz Deutschland und im besetzten Europa. Von großer symbolischer Tragweite auch das schicksalhafte Datum 30.April, das für den hochkarätig besuchten Festakt bewusst gewählt wurde: Am30. April feierte Hitler seinen Geburtstag. Am 30. April 1945- vor exakt 70 Jahren -befreite die amerikanische Rainbow-Division München von der NS-Herrschaft. Gegensätze und Fügungen, die Geschichte auf andere Weise erlebbar werden lassen.
„Das NS-Dokumentationszentrum lässt uns nachvollziehen“ – so Bundesstaatsministerin für Kultur und Medien Prof. Monika Gütters – „ wie sich eine weltoffene Kulturmetropole zu einem Sammelbecken antisemitischer und nationalistischer Kräfte entwickeln konnte…“.
Offenkundig wird auf einmal ein verheerender Bruch, der – wie Ministerpräsident Horst Seehofer in seiner Ansprache erinnerte -selbst Mitglieder der die über Bayern über mehr als 7 Jahrhunderte herrschendeWittelsbacher-Familie nicht verschonte und ins KZ- brachte.
„Zivilisationsbruch“ ist auch das wiederkehrende Wort in allen offiziellen Reden der Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik,die sich im benachbarten Amerika-Haus eintrafen, um – so OB Dieter Reiter – „eine über viele Jahrzehnte klaffende Lücke in der Münchner Erinnerungslandschaft zu schließen“. Groß sind die Erwartungen an das Zentrum, das die Topografie des Terrors eines brutalen Unrechtsregimes durch eine Flut von Bildern und einer weit umfassenden Dokumentation in deutscher und englischer Sprache an Tafeln, in Filmprojektionen und Medienstationen zeichnet. Um so größer, weil seine Verwirklichung so lange auf sich warten ließ. So lange – ist man versucht zu glauben – bis die Generation der Täter zum Erlöschen kam.
Über mehrere Stockwerke erstreckt sich die Dauerausstellung, die auf rund 1.000 qm den Aufstieg der NS-Partei in der von Hitler selbst ernannten „Hauptstadt der Bewegung“ verfolgt. Dies beginnend im 4. Obergeschoss mit der Katastrophe vom I. Weltkrieg über die Novemberrevolution 1918 bis zum Hitler-Putsch-Versuch 1923 und schließlich zur Machtergreifung 1933. Mitmachen und Ausgrenzen als zentrale Elemente der NS-Diktatur stehen im Fokus der Darstellung im 2. und 3. Obergeschoss wie auch die stetige Radikalisierung der vermeintlichen „Ideologie“, die zur systematischen Verfolgung und schließlich zur Ermordung von Millionen von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und politischen Gegnern aller Ausrichtungen und Herkunfthinführte. Im 2. und 1. Obergeschoss wird die Rolle Münchens als Zentrum der Rüstungsindustrie und der massenhaften Zwangsarbeit beleuchtet. Gleichzeitig wird auf die Formen der Auflehnung gegen den Terror hingewiesen. Da sich das Zentrum an einem „Täterort“ befindet, rückt die Auseinandersetzung mit Tätern und Vollstreckern in den Mittelpunkt. Ihre Biografien werden in Zusammenhang mit den begangenen Verbrechen betrachtet und die Nachkriegskarrieren verfolgt und rekonstruiert. Die Zeit nach 1945 bis heute, von der Kapitulation bis hin zum NSU-Prozess werden ausführlich behandelt. Fokussiert werden das Wiederaufleben vom NS-Gedankengut
aber auch die zahlreichen Initiativen gegen das Vergessen .Ein Lernforum im I. Untergeschoss mit Seminarräumen, einem Auditorium, Recherchestationen und Medientischen dient zur weiteren historischen Wissensvermittlung für Einzelpersonen und Gruppen.
Eine Bibliothek, in der auch eine repräsentative Auswahl „Verbrannter Bücher“ präsentiert wird, ergänzt das mediale Angebot. Dort sind als besonders wertvolles Exponat und einziges Original die „Mohabiter Sonette“ des in Berlin ermordeten Münchner Widerstandskämpfers Albert Haushoferals Schenkung dessen Familie ausgestellt.
In einer speziellen „Galerie“ sind die „Gesichter des anderen München“ aneinandergereiht, unter ihnen Thomas Wimmer, Karl Vossler, Fritz Gerlich und allen voran Thomas Mann, der in seinem Exil für sich und andere deutsche Andersdenkende das Wort „Anderes Deutschland“ für jede edle Form der geistigen Opposition geprägt hatte.
Thomas Manns Worte – betonte der engagierte Architekturhistoriker und Gründungsdirektor Prof. Winfried Nerdinger, der sich für die Realisierung des Zentrums vehement eingesetzt hat – begleiten den Besucher an vielen Stellen der Schau, die mit großformatigen LED-beleuchteten Tafeln Augen und Sinne in ihren Bann zieht. In seiner ergreifenden Rede zitierte der aus einer Widerständler-Familie stammende Professor, aus einer Tagebucheintragung des großen Emigranten, in der er 1949 anlässlich seines ersten Besuchs an die Isar auf Münchens „zerlumpte Vergangenheit“ anspielte. „Die zerlumpte Vergangenheit wurde verdrängt“ – war vom ihm zu hören – „Ein Zustand, der in München besonders lange dauerte. Weltstadt mit Herz stellt sich heute ihrer zerlumpten Geschichte. Ich glaube, für diese Stadt könnte Thomas Mann wieder ein Herz haben“.
München und der NationalsozialismusKatalog des NS-Dokumentationszentrum München
Pünktlich zur Ausstellungseröffnung ist der Katalog des NS-Dokumentationszentrum München im C.H. Beck Verlag erschienen. Der Katalog umfasst auf 624 Seiten die Texte der Dauerausstellung mit850 teils farbigen Abbildungen. Begleitend dazu 23 Aufsätze renommierter Historiker, die den aktuellen Stand der NS-Forschung wiedergeben. Im Brennpunkt der Publikation steht die Stadt München und ihre herausragende Rolle insbesondere nach Eröffnung der Konzentrationslagers Dachau als „Hauptstadt der Bewegung“.
Herausgeber des Bandes ist Winfried Nerdinger in Verbindung mit Hans-Günther Hockerts,Marika Krauss und Peter Longerich.Seit 2012 ist Nerdinger Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrumsund Seele des Ganzen. Der Architekt und Kunsthistoriker ist emeritierter Professor für Geschichte der Architektur und Baukonstruktion an der TU München. Von 1989 bis 2012 leitete er das Architekturmuseum der TU München sowie das Architekturmuseum Schwaben und realisierte ca. 150 Ausstellungen zur Architektur- Kunst- und Kulturgeschichte. Verfasser von etwa 300 Publikationen ist er für seine besonderen wissenschaftlichen Leistungen zum TUM Emeritus of Excellence ernannt worden.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.