Das Gedächtnis, so meinte Oliver Storz, ein vielfach ausgezeichneter Filmregisseur, der im Juli 2011 starb, komme im Alter in Lawinen – die Lawine will lange nicht kommen, aber dann nimmt sie urplötzlich Fahrt auf und wird riesig…
Diese Lawine hat Dominik Graf in nur zwei Monaten, von April bis Juni 2011, versucht aufzufangen. Seine auf der Berlinale 2012 gezeigte Dokumentation „Lawinen der Erinnerung“, eine gefilmte Liebeserklärung an seinen Kollegen, ist ein Bild- und Klangkunstwerk, „ein Lehrstück des respektvollen Porträts und ein Musterbeispiel dafür, was eine Fernsehproduktion erreichen kann.“, wie die F.A.Z. zutreffend feststellte. Dieser Film zeigt einmal mehr, wie kostbar Erinnerungen eines Zeitzeugen sind. Das vorliegende Buch ist gleichfalls eine Erinnerung. Es enthält neben den schönsten Erzählungen aus dem Nachlass von Oliver Storz, die Romanfragmente aus seinem unvollendeten Roman, mit dem er an sein Buch „Die Freibadclique“ anknüpfen wollte. Erneut wird seine unverwechselbare Melange sichtbar: eine feinsinnig-elegante, zeitweilig jugendlich ungestüme und mit Ironie garnierte Lesekost, durchsetzt mit vielen lebendigen Dialogen und voller Nachdenklichkeit. Storz erzählt von einer Jungenfreundschaft zwischen den Welten, zwischen Krieg und Nachkrieg, zwischen Kindheit und Erwachsensein, mitten im Chaos zwischen Untergang und Aufbruch. Dabei offenbart er dieses besondere Understatement, „dieses leidenschaftliche Bloß-nicht-Übertreiben und dieses Bloß-nicht-so-tun-als-ob-man-Bescheid-wüsste. Und trotzdem toben allüberall in seinem Werk die großen Empfindungen herum. Lebenswut. Arbeitswut. Sehnsucht.“, stellt Dominik Graf im Vorwort treffend fest.
Auch wenn der Roman unvollständig blieb und sein Ende allzu abrupt abbricht, so ist trotz alledem der Duktus von Oliver Storz spürbar: dieses Tastende, wunderbar Unsichere und „Erinnerungsforschende“, das zuweilen von ganz harmlos erscheinenden Gesten oder Momenten ausgelöst wird. Von Bildern, die scheinbar in keinem Zusammenhang stehen und trotzdem ein Ewigkeitsmoment gemeinsam haben. Storz' Sätze klagen nicht an, übertreiben nicht, aber ihnen wohnt stets ein ganz spezieller Atem des Zweifelns und des Fragens inne – eine Weltsicht im privaten Erleben. Denn wie äußerte sich der 16-jährige Ich-Erzähler so treffend: „Wir alle waren ja Sturzgeburten des Chaos. (…) [Aber] niemandes Jugend wollten wir sein. Nie mehr. (…) Wir waren nur so da, frei, zu nichts berufen, nutzlos, jedoch durchaus tauglich für die Erfordernisse der Stunde…“
Der nuancierte, sensitive Schreibstil von Oliver Storz zeigte sich bereits uneingeschränkt in seinem, dem Band als Epilog, mit Faksimile des Originals, beigefügten frühen Text „Das grüne Band“, den er als 19-Jähriger verfasste und der zutiefst berührt: Ein kleiner Zigeunerjunge wird zum lächerlichen, ja, beschämenden Bild des Opportunismus. Gleichsam bezeichnend für die Erzählungen des Autors sind die stete Nähe von Sehnsucht und Grauen, von Friedfertigkeit und Schrecken, von Eros und Thanatos. Da mündet der beschauliche Weg durch die Wälder seiner Heimat, an der Seite der angebeteten Inge, in den ersten Kuss, nachdem beide zuvor in den Ästen eines Baumes der Hinrichtung eines jungen Polens, eines „Schädlings und Verräters des deutschen Wirtsvolkes“, hinter den Mauern des Hofes einer Gewerbeschule beigewohnt hatten. Storz verwebt den sinnlichen mit dem kühl registrierenden Blick.
Letztendlich bleiben seine Protagonisten immer „enthüllt“ zurück, ohne Namen, Rang und Zweck, „hingegeben ans reine Sein, das sich einen glückhaften Moment lang unverborgen zeigte (sich 'entbarg', hätte Heidegger gesagt). (…) Und mir wurde wunderbar leicht. 'Ja', hätte ich sagen können. Ja zu allem, nicht anders als Molly Bloom am Schluss des Ulysses: 'Ja.'“
Oliver Storz
Als wir Gangster waren
Graf Verlag, München (März 2012)
185 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3862200205
ISBN-13: 978-3862200207
Preis: 18,00 EURO
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.