Weit über eine Milliarde Menschen werden künftig einen rationalen Migrationsgrund haben

Im Flugzeug, Foto: Stefan Groß

Rede anlässlich der Veranstaltungsreihe „Zur Zukunft der internationalen Ordnung“ der Hanns-Seidel-Stiftung am 13. November 2017

Meine Damen und Herren,

selten war die internationale Sicherheitslage so komplex und schwierig zu bewerten wie heute. Allein während der letzten vier Jahre haben wir den Konflikt in der Ostukraine, die Besetzung der Krim durch Russland, dessen Intervention in den Syrien-Konflikt und ein sich zeitweise stark ausdehnendes Schlachtfeld auf dem Gebiet des „Islamischen Staates“ erleben müssen. Die dem Dauerstreit zwischen Iran und Saudi-Arabien und ihren Proxis geschuldete Instabilität in der Region droht nun selbst den Libanon zu ergreifen.

In Europa kam es zu einer regelrechten Serie von Terroranschlägen. Weit über eine Million Flüchtlinge und Migranten sind nach Deutschland gelangt. Großbritannien hat den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen. Nordkorea hat erneut Kernwaffen und noch mehr ballistische Trägersysteme getestet. China wiederum hat Inseln im Südchinesischen Meer aufgeschüttet und wird diese künftig auch militärisch nutzen. Und die NATO hat erstmals in dieser Form vier Bataillone in das Baltikum und nach Polen entsandt, um die Abschreckungsfähigkeit der Allianz an ihrer Ostflanke zu demonstrieren.

Diese Liste ließe sich leicht erweitern, zeigt aber auch in dieser Form schon deutlich: Die internationale Sicherheitslage ist gegenwärtig komplex, multipolar und äußerst dynamisch. Umso wichtiger ist es daher, sie möglichst strukturiert und unter Bildung von begründeten Schwerpunkten zu analysieren. Nur so ist zu erfassen, welche Konflikte aus welchen Gründen für Deutschland relevant sind – und was dies sicherheitspolitisch bedeutet.

Ankerpunkt für solche Schwerpunktbildungen sind die prioritären Interessen Deutschlands, deren Formulierung natürlich der Bundesregierung und nicht dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes obliegt. Im Prinzip würde sich auch das Auftragsprofil eignen, das der BND von der Bundesregierung bekommt. Dieses ist jedoch als „geheim“ eingestuft.

Besser geeignet für diese Diskussion, weil für jedermann einsehbar, ist das sicherheitspolitische Weißbuch zur Zukunft der Bundeswehr, das auch Ausführungen zu den nationalen Interessen Deutschlands enthält. Hervorheben möchte ich hier den „Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität unseres Landes“ und den „Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel“. In vergleichbaren amerikanischen Dokumenten werden diese beiden Punkte zu den „vitalen Interessen“ der USA gezählt; sie bilden den Nukleus jeder nationaler Interessen.

Dazu gehören der Schutz des physischen Überlebens von Volk und Staat, die Verteidigung der gewählten politischen Lebensform, aber auch die Absicherung ökonomischer wie ökologischer Lebensgrundlagen. Dies gilt sicherlich für alle Staaten, aber es gibt doch Besonderheiten. Aus der Mittellage Deutschlands folgt, dass uns Entwicklungen in Osteuropa direkt betreffen – im Gegensatz etwa zu Portugal. Selbiges gilt für den Bereich der Wirtschaft: Ein Land mit einer hohen Außenhandelsquote und erwiesener Rohstoffarmut ist in erheblichem Maße auf stabile Exporträume und offene Seewege angewiesen.

Die Interessen Deutschlands können immer nur im Verbund mit befreundeten und verbündeten Staaten umgesetzt werden. Alleingänge sind in einer komplexen Umwelt unmöglich, ja kontraproduktiv. Dennoch ist es sinnvoll zu reflektieren, was genau Deutschland in der internationalen Politik überhaupt will, um dann seine Position in europäische und internationale Institutionen einzubringen.

Aus meiner Sicht ergibt sich zunächst die Frage, welche treibenden Kräfte hinter den zahlreichen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Bedrohungen stehen – und was dies für die internationale Sicherheitslage bedeutet. Ich glaube, dass es insgesamt drei solcher treibenden Kräfte gibt, die alle anderen Entwicklungen mehr oder weniger stark beeinflussen.

(1) An erster Stelle stehen sicherlich kontinuierliche Machtverschiebungen zwischen den Staaten. Die Wissenschaft spricht diesbezüglich vom „Gesetz des ungleichen Wachstums“. Es besagt, dass nationale Ökonomien nicht gleichmäßig wachsen. Mindestens ein Staat wird immer stärkere relative Gewinne auf seiner Seite verbuchen können als ein anderer. Selbst wenn also mehrere Staaten miteinander Handel betreiben und dabei Gewinne einfahren, ist absehbar, dass eine Seite mehr als alle anderen profitiert und dadurch auch militärisch stärker werden kann als die Partnerstaaten. Im Ergebnis kommt es zu Machtverschiebungen, die anfangs kaum Beachtung finden, irgendwann aber sehr offensichtlich sind. In einer solchen Situation kann eine neue Großmacht dann dazu übergehen, eine existente Friedensordnung in Frage zu stellen, um eigene Ambitionen zu verfolgen.

Mit anderen Worten: Gemäß dem Gesetz des ungleichen Wachstums wird früher oder später immer wieder eine revisionistische Macht entstehen, die eine bestehende Ordnung – den Status quo – in Frage zu stellen versucht. Sie strebt eine neue Ordnung an, in der sie ihre nationalen Interessen besser umsetzen kann. Diese Zusammenhänge haben etwas frustrierendes: Bereits im Frieden betreiben die Staaten unwissentlich eine Politik, die darauf hinausläuft, früher oder später den nächsten Konflikt zu provozieren, weil sie durch ihr Verhalten zu einer Neuverteilung von Machtpotentialen beitragen. Diese Einschätzungen sind historisch breit bestätigt und auch wissenschaftlich nachgezeichnet worden, u.a. in Paul Kennedys „Aufstieg und Fall der großen Mächte“.

(2) Eine zweite treibende Kraft ist der demographische Wandel. Über 7,5 Milliarden Menschen leben heute auf der Erde. Seit dem Ende des Ost-West- Konflikts hat die Weltbevölkerung um mehr als 2 Milliarden Menschen zugenommen. Besonders dramatisch ist die Lage in Afrika. Dort hat sich die Bevölkerung seit 1990 verdoppelt – auf 1,26 Milliarden Menschen.

Diese Entwicklung hat Konsequenzen. Sie trägt – neben anderen Phänomenen wie bad governance – zur Entstehung schwacher Staaten bei, die anfällig für Bürgerkriege sind und Terroristen als Rückzugs- bzw. Operationsgebiet dienen können. Fragile Staaten bieten ihren Bürgern keine Lebensperspektive, was ein ganz maßgeblicher Push-Faktor bei der Erklärung der Ursachen der internationalen Migration ist. Innerhalb fragiler Staaten kann der Regierungsapparat nur begrenzt Macht ausüben.

So entsteht ein Vakuum, das von organisierten Kriminellen, Piraten und Drogenbaronen ohne größeres Risiko genutzt werden kann. Besteht ein solcher Zustand über längere Zeit, werden substaatliche Gewaltakteure wie Warlords die Machtlücke auszufüllen versuchen, wie man es in Somalia oder im Sudan sehen konnte.

Der „Fragile States Index 2016“ liefert in diesem Zusammenhang aus deutscher Sicht ein wenig ermunterndes Bild. Dort werden Bosnien-Herzegowina, Albanien, Serbien, Mazedonien, Weißrussland, Moldawien, die Ukraine und Russland in die Kategorien „Warning“ bis „High Warning“ eingeordnet. Das bedeutet nicht, dass in diesen Ländern die Staatlichkeit zusammengebrochen ist. Aber sie entspricht dann offenbar doch nicht jenen Standards, die in West- und Mitteleuropa herrschen – und die vom „Fragile States Index 2016“ mit „Sustainable“ bis „Stable“ bewertet werden.

(3) Die dritte treibende Kraft ist der technologische Wandel. Die Produkte der Rüstungsindustrie haben zwischenstaatliche Auseinandersetzungen, aber auch den Kalten Krieg und seine Ergebnisse ganz maßgeblich beeinflusst. Die Erfindung des Maschinengewehrs, flexibel einsetzbare Panzer, Kampfflugzeuge und Flugzeugträgers sind nur die sinnfälligsten Beispiele. Weitreichende Interkontinentalraketen und die Atombombe haben im Ost-West-Konflikt dazu beigetragen, ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen den USA und der Sowjetunion aufrechtzuerhalten; der Friede zwischen Washington und Moskau wurde gewahrt, obwohl beide ideologisch miteinander verfeindet waren.

Heute haben die Großmächte durch die Militarisierung des Weltraums oder den Einsatz weitreichender Kampfdrohnen neue Möglichkeiten der Kriegführung erhalten. Auch der digitale Raum spielt eine immer größer werdende Rolle. Der 2009/2010 erfolgte Einsatz des Computerwurms „Stuxnet“ gegen die iranischen Nuklearanlagen ist das öffentlich wohl bekannteste Beispiel. Von einer Einmischung Moskaus mit Cyber-Mitteln in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 kann ausgegangen werden; Russland verfügt in diesem Segment über erhebliche Kompetenzen.

Um Angriffe gegen die kritische Infrastruktur zu vermeiden, hat Deutschland diverse Maßnahmen ergriffen. Zu ihnen gehört das 2011 errichtete Nationale Cyber-Abwehrzentrum. Die Bundeswehr hat im April 2017 das Kommando Cyber- und Informationsraum aufgestellt.

Der digitale Raum ist zudem zu einem sehr wichtigen Instrument substaatlicher Gruppen geworden. Der „Islamische Staat“ hat auf diesem Wege mehrere Terroranschläge in Europa gesteuert. Nach Rückschlägen in Syrien und im Irak ist dazu übergegangen, ein „Cyber-Kalifat“ zu gründen, das Sympathisanten online radikalisiert und zu neuen Terroranschlägen anstiftet.

Alle sicherheitspolitischen Herausforderungen und Bedrohungen können auf die eine oder andere Weise mit mindestens einer dieser drei treibenden Kräften der internationalen Beziehungen in Verbindung gebracht werden.

Ich möchte dazu fünf Beispiele nennen:

(1) Die Rivalität zwischen Washington und Peking ist ein klassischer Hegemonialkonflikt um die regionale Führungsrolle im Fernen Osten. China agiert als revisionistische Macht, die durch die Globalisierung einen enormen ökonomischen Schub erlebt hat. Peking stellt den von Washington in Ostasien geschaffenen Status quo in Frage, weil es dazu immer mehr in der Lage ist.

(2) Russland kann mit seinem asiatischen Nachbarn im Bereich der Wirtschaft zwar nicht mithalten. Aber es zählt zu den führenden Rüstungsherstellern. Moskau hat seine militärisch-technologischen Möglichkeiten über die Jahre aufrechterhalten und stark ausgebaut. Dadurch verfügt es über die notwendigen praktischen Fähigkeiten, zumindest punktuell über größere Strecken Macht zu projizieren.

(3) Im substaatlichen Raum ist die Boko Haram in Nigeria auch deshalb so erfolgreich, weil dieses Land hochgradig fragil ist; die Staatsmacht hat über große Gebiete keine Kontrolle. Wenn sich in einem Land wie Nigeria die Bevölkerung in nicht einmal 30 Jahren auf heute über 190 Millionen Menschen verdoppelt, dann hat die dortige Regierung gar nicht die Möglichkeit gehabt, diesen Zuwachs durch den Aufbau funktionierende staatlicher Strukturen abzufangen.

(4) Der „Islamische Staat“ wiederum hat nicht nur von den schwachen Staatsstrukturen in Syrien und dem Irak profitiert. Ohne die Technologie der sozialen Medien, ohne das Internet, wäre es ihm auch nicht gelungen, Tausende „Foreign Fighters“ aus aller Welt anzuziehen.

(5) Die Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015/2016 hat viele Ursachen, aber sie wäre vermutlich ohne die sozialen Medien so nicht zustande gekommen. Sehr viele Menschen in Afrika, auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Zentralasien haben Zugang zum Internet.

An dieser Stelle bieten sich nun einige Worte zu der Frage an, welche Faktoren zur Stabilität der internationalen Politik beitragen. Wie können die genannten Herausforderungen und Bedrohungen bewältigt werden?

Zunächst ist zu klären, was „Ordnung“ überhaupt ausmacht. Aus sicherheitspolitischer Sicht umfasst eine Ordnung einen Zustand, der Herausforderungen und Bedrohungen im Idealfall neutralisiert, sie zumindest aber in Schach hält. Die Ergebnisse einer erfolgreichen internationalen Ordnung liegen zwischen Stabilität und nachhaltigem Frieden – alle übrigen Zustände fallen in die Kategorie der internationalen Unordnung. Welche Akteure, Prozesse und auch Strukturen sind nun in der Lage, Ordnung zu schaffen?

Mir ist bewusst, dass es dazu in der Wissenschaft eine ganze Reihe von Diskussionen gibt. Ich möchte mich auf einige ganz offensichtliche Aspekte beschränken.

Ordnung kann letztlich nur derjenige schaffen, der über Macht verfügt. Dies wird noch für sehr lange Zeit der Staat bleiben, entweder als einzelner, wenn er sehr groß ist, oder als Zusammenschluss oder Bündnis mehrerer Staaten, wie im Fall von EU oder NATO. Natürlich existiert er heute in Konkurrenz zu vielen anderen Akteuren der internationalen Politik, etwa zu internationalen Organisationen. Auch sie üben konstruktive Macht aus.

Auch die UNO und die OSZE haben ihre Beiträge zur Stabilisierung zwischenstaatlicher Beziehungen geleistet. Hinzu kommen viele internationale Nichtregierungsorganisationen, die z.B. im Bereich der Menschenrechte oder der Umweltpolitik eine wichtige Rolle einnehmen. Zu nennen sind aber auch solche Akteure, die ausschließlich destruktive Macht einsetzen – etwa Terroristen, organisierte Kriminelle oder schwer in herkömmliche Kategorien zu fassende Verbände wie der „Islamische Staat“. Das Spektrum gewaltsamer Auseinandersetzungen hat sich mit der Zunahme nicht-staatlicher Gewaltakteure natürlich ebenfalls verbreitert.

Das Ende des Westfälischen Zeitalters ist dennoch nicht in Sicht. Es sind Staaten, die den „Islamischen Staat“ sowohl im Irak als auch in Syrien erheblich zurückgedrängt haben. Und nach dem 11. September 2001 war nicht die amerikanische Regierung auf der Flucht, sondern Osama Bin Laden. Nur Staaten oder Staatenverbünde verfügen in größerem Umfang über die Möglichkeit, über ihr Staatsvolk Einnahmen in Form von Steuern zu generieren, die sie dann u.a. in militärische Machtprojektionsfähigkeiten investieren können.

Nur Staaten oder Bündnisse können sich Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe finanziell leisten – Terroristen und Insurgenten bleiben zwingend auf kostengünstigere asymmetrische Formen der Kriegführung angewiesen.

Der Staat ist somit der wichtigste Akteur der Weltpolitik, und er ist erwiesener Maßen sowohl zum Einsatz konstruktiver wie auch destruktiver Macht fähig. Staaten haben in der Vergangenheit Kriege vorbereitet und auch versucht, Kriege zu beenden. Der Staat ist also nicht nur der Anker der Ordnung, er kann auch der Auslöser von Unordnung sein.

In Europa haben vor diesem Hintergrund drei Prozesse ganz erheblich dazu beigetragen, dass der Kontinent eine ungewöhnlich lange Periode des Friedens erleben durfte. Sie haben geholfen, die Staaten zu zähmen – sie sozusagen im Sinne einer Affektkontrolle konstruktiv zu „erziehen“. Zu diesen Prozessen zählen die Demokratisierung, der Aufbau von Abhängigkeiten durch die Ausbreitung des Freihandels und die zwischenstaatliche Integration.

Alle deutschen Bundesregierungen haben die dadurch bewirkten friedlichen Entwicklungen kontinuierlich unterstützt. Die Erkenntnisse der Wissenschaft zeichnen dies nach: Das Theorem des „demokratischen Friedens“ besagt, dass demokratisch verfasste Staaten in der Regel keine Kriege gegeneinander führen. Aus dieser Sicht hat die Erweiterung der NATO und der EU zur Stabilisierung des Kontinents beigetragen.

Lassen sich Staaten auf Formen der Interdependenz ein, etwa durch intensive Wirtschaftsbeziehungen, so sind sie in gewisser Weise aneinander gebunden. Wer aus einer Freihandelszone austreten möchte, für den entstehen Kosten. Wir sehen dies gerade bei der Vorbereitung des Austritts Großbritanniens aus der EU. Die Bereitschaft der Staaten, ihre Zusammenarbeit fortzusetzen, steigt, wenn dadurch Kosten einer Trennung vermieden werden können. Genau deshalb hat sich seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1957 bislang auch nur ein einziger Staat entschieden, die EU wieder zu verlassen.

Institutionen sorgen wiederum dafür, dass die Mitglieder einer solchen multilateralen Abmachung miteinander in Kontakt stehen. Sie können sich über ihre Absichten austauschen – und hegen so die Auswirkungen des Sicherheitsdilemmas ein. Solange man miteinander redet, führt man keinen Krieg.

Lassen Sie mich diesen Punkt zusammenfassen. Ich sehe nicht die eine Ordnung, in der sich Staaten bewegen. Formen der Ordnung wie auch der Unordnung in der internationalen Politik bestehen bisweilen direkt nebeneinander. In Europa dagegen existieren mehrere Ordnungen gleichzeitig, sie ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Dazu gehören Formen des „demokratischen Friedens“, zahlreiche wirtschaftliche Beziehungen sowie ein Geflecht aus zwischenstaatlichen Institutionen, das dazu beiträgt, das Sicherheitsdilemma abzuschwächen. Wir leben in Europa aufgrund dieser sich überlappenden Ordnungsstrukturen im Frieden – aber eben nicht unter Bedingungen eines dauerhaft garantierten Friedens.

Wäre dem so, dann könnten die europäischen Staaten dazu übergehen, ihre Verteidigungshaushalte massiv abzubauen, um eine Friedensdividende zu schaffen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Europäer modernisieren ihre militärische Ausrüstung. Soweit sie Mitglied der NATO sind, werden zumindest einige von ihnen versuchen, wie vereinbart die Verteidigungsausgaben solange zu erhöhen, bis sie 2 Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts entsprechen. Wie ist diese Situation zu erklären?

Die Gründe dafür, dass der „ewige Frieden“ des Immanuel Kant eine Utopie bleibt, liegen auf der Hand. Der demokratische Friede kann europaweit nicht funktionieren, solange eine zentrale Macht – Russland – daran kein Interesse hat. Fraglich ist zudem, ob die Zahl der Demokratien in Europa langfristig zu- oder abnehmen wird.

Gibt es das, was Samuel P. Huntington die „Gegenwelle“ im globalen Prozess der Demokratisierung nennt? Einige Entwicklungen in Osteuropa sowie auf dem Balkan sind mit Sorge zu betrachten.

Können wir also wirklich langfristig damit rechnen, dass der „demokratische Friede“ auch in den Randgebieten Europas hält bzw. dort überhaupt Fuß fassen kann? Festzuhalten ist zudem, dass es mit Blick auf das nördliche Afrika oder den Nahen Osten keine „positive Ansteckung“ gibt: Die Staaten sind in ihrer großen Mehrheit nicht dazu übergegangen, dem demokratischen Vorbild der Mitglieder der EU zu folgen.

Die Brüsseler Institutionen haben großen Anteil an der Stabilisierung Europas. Es ist heute undenkbar, dass z.B. Deutschland und Frankreich gegeneinander Krieg führen. Das haben die Bilder am Wochenende vom Hartmannsweilerkopf, wo die Präsidenten Deutschlands und Frankreichs die erste deutsch-französische Gedenkstätte zum Ersten Weltkrieg eingeweiht haben, eindrucksvoll gezeigt. Aus historischer Sicht ist diese Einigkeit ein gar nicht hoch genug einzuschätzendes, kostbares Gut.

Indem sich Berlin und Paris nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf unterschiedliche Formen institutioneller Vernetzung eingelassen haben, ist der Umfang der Kommunikation zwischen ihnen gestiegen. Gerade dadurch wurden Feindbilder abgebaut, Vertrauen konnte wachsen. Dies ist der eigentliche Sinn der EU und ihr wesentlicher Verdienst.

Die globalen ökonomischen Interdependenzen wiederum tragen zweifellos zur Stabilisierung internationaler Politik bei; dies gilt vor allem für die Lage in Europa. Der wirtschaftliche Austausch hat aber eine oft ignorierte Kehrseite. Kommt es zum Wachstum einer Volkswirtschaft, so nimmt meistens auch das Volumen des Verteidigungsetats zu. Die Staaten können dann ihre Streitkräfte ausbauen und werden gerade dadurch befähigt, machtpolitischen Ambitionen auch militärisch Nachdruck zu verleihen.

Der intensive Handelsaustausch des Westens, auch Deutschlands, mit China hat somit dazu beigetragen, den militärischen Aufstieg dieses Landes erst möglich zu machen. Es verfügt heute nach den USA über den zweitgrößten Verteidigungshaushalt – und verfolgt seine offiziell deklarierten „Kerninteressen“ nun mit großem Selbstbewusstsein. Wer also den Handel fördert, der fördert sicherlich kurz und mittelfristig auch den zwischenstaatlichen Frieden. Langfristig kann es dabei jedoch zur Umverteilung von Machtgewichten kommen, die zumindest für eine Seite problematisch sind.

Dies bringt mich zu meinem letzten und auch wichtigsten Punkt bei der Betrachtung der europäischen Ordnung. Demokratisierung, ökonomische Interdependenzen und zwischenstaatliche Integration sind drei Säulen, die sozusagen das Dach des Friedens in Europa tragen.

Um im Bild zu bleiben: Die Säulen benötigen, um tragen zu können, ein Fundament.
Es geht hier also um die Frage, welcher Faktor als Grundlage der Sicherheit unseres Kontinents bezeichnet werden kann. Die Antwort ist einfach: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellen die USA dieses Fundament dar.

Im Kalten Krieg haben sie den mit Abstand größten Sicherheitsbeitrag zur NATO geleistet, um den von der Sowjetunion angeführten Warschauer Pakt abzuschrecken.
1990 gehörte Präsident George H. W. Bush zu den wichtigsten Fürsprechern der deutschen Wiedervereinigung. Während der Balkankriege in den 1990er Jahren waren es erneut die USA, die mehr als alle anderen Staaten dazu beigetragen haben, die Südostflanke Europas zu stabilisieren.

Die Entwicklung in der Ukraine hat uns zudem an einen ganz nüchternen Zusammenhang erinnert: Nur mit den USA wird Europa in den nächsten Jahren in der Lage sein, an der Ostflanke Europas ein glaubwürdiges Gegengewicht zu Russland zu bilden. Das Lied vom Ende der amerikanischen Vorherrschaft ist nach dem Vietnamkrieg in den 1970er Jahren immer wieder angestimmt worden. Bislang haben sich sämtliche Abgesänge nicht bewahrheitet.

Dies liegt nicht nur an den überlegenen militärischen Fähigkeiten der USA, sondern auch an deren außergewöhnlicher Innovationsfähigkeit. Der ökonomische wie auch der militärische Vorsprung ist beeindruckend: 24,5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts wurden 2016 von den USA erwirtschaftet; Russland und China kamen zusammen auf 16,5 Prozent; Deutschland, Frankreich und Großbritannien zeichneten zusammen für 11,3 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts verantwortlich. Die Anteile an den globalen Verteidigungsausgaben 2016 sind noch aussagekräftiger: Die USA hielten 40,2 Prozent, China 9,6 Prozent und Russland 3,1 Prozent. Die Staaten Europas kamen ohne Russland und Eurasien insgesamt auf 16,5 Prozent.

Eine ganz besonders beeindruckende Zahl sei noch erlaubt: Wenn wir die Verteidigungsausgaben aller Staaten Asiens – also inklusive Indiens, Chinas und Japans – addieren und dann auch noch den Etat Russlands hinzufügen, dann entspricht dies 68,5 Prozent der Verteidigungsausgaben der USA.

Dieser ökonomische und militärische Vorsprung der Amerikaner wurde in einzigartige globale Machtprojektionsfähigkeiten umgesetzt. Die USA haben als einziger Staat an den drei großen geostrategischen Fronten des Weltgeschehens – in Europa, am Persischen Golf und in Ostasien – Truppen stationiert. Sie verfügen über zehn Flugzeugträger, die sie in kürzester Zeit zu internationalen Konfliktzonen beordern können (wenn sie funktionieren und nicht gerade kollidieren). In dieser Hinsicht sind die USA derzeit konkurrenzlos. Für Deutschland ist es von großem Vorteil, eine solche Macht auf der eigenen Seite zu wissen.

Über 34.000 amerikanische Soldaten, die derzeit in der Bundesrepublik stationiert sind, zeigen, wie eng das sicherheitspolitische Band zwischen Berlin und Washington immer noch ist. Hinzu kommt der nukleare Schutzschirm, den die USA über Europa gespannt haben.

Als Präsident des Bundesnachrichtendienstes darf ich Ihnen zudem ganz offen sagen, dass die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Nachrichtendiensten für uns von großer Bedeutung ist.

Ich weiß, dass einige von Ihnen die USA auch kritisch sehen. Es ist ja auch kaum zu bestreiten, dass amerikanische Regierungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges militärische Interventionen durchgeführt haben, die das Gegenteil von dem erreicht haben, was ursprünglich bezweckt worden war.

Unter Demokraten muss Kritik jederzeit möglich sein und Demokratien haben den Vorteil, Fehlern lernen und sich korrigieren zu können. Wir sollten zwischen Meinungsverschiedenheiten auf der einen Seite und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite unterscheiden. Die USA zählen neben Frankreich, Großbritannien und Israel weiterhin zu den wichtigsten Bündnispartnern Deutschlands. Sie sind es, die ganz maßgeblich dazu beitragen, Europa zu stabilisieren. Russland oder gar China sind in dieser Hinsicht keine Alternativen. Wir können die USA mögen oder auch nicht, sicherheitspolitisch sind sie unverzichtbar.

Wie wird sich nun die internationale Sicherheitslage weiterentwickeln? Meine ehrliche Antwort lautet: Auch ich weiß es natürlich nicht. Dem Blick in die Kristallkugel haftet stets etwas Unseriöses an. Diese Aussage darf gleichwohl nicht dazu führen, sie als Ausrede zu verwenden, um Prognosen zu verweigern. Ein Auslandsnachrichtendienst muss sich selbstverständlich darüber Gedanken machen, wie sich die internationale Sicherheitslage in den kommenden Jahren entwickeln wird – und was dies für Deutschland bedeutet.

Ich möchte zumindest einige mögliche Entwicklungen benennen und Fragen aufwerfen, die sicherlich bis zum Jahr 2030 nicht an Bedeutung verlieren werden – und die wir im Auge behalten müssen. Ich werde mich auf fünf Punkte, die für Deutschland besonders relevant sind, konzentrieren:

(1) Die absehbaren Nachfolger des „Islamischen Staates“. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus gehört seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu den wichtigsten Themen westlicher Sicherheitspolitik. Erschreckend ist, dass die Protagonisten des Terrors in der Lage sind, ihre Taten immer weiter zu steigern. Wer nach den Anschlägen von New York und Washington D.C. am 11. September 2001 glaubte, den Höhepunkt einer Eskalation vor Augen zu haben, der konnte sich das, was der „Islamische Staat“ in Syrien und dem Irak angerichtet hat, natürlich noch nicht vorstellen.

Die Al Qaida hatte zwischenzeitlich zwar an Durchschlagskraft verloren. Der „Islamische Staat“ wurde dann aber ab spätestens 2014 zum dominierenden Akteur der gewaltbereiten, globalen Islamisten-Szene – und er wurde weitaus mächtiger als zuvor die Al Qaida. Inzwischen muss man auch dies wieder etwas differenzierter sehen, weil sich Al Qaida-Ableger bspw. in Syrien hartnäckig halten.

Vielleicht liefert die griechische Mythologie den besten Erklärungsansatz dafür, warum die Auseinandersetzung mit diesem Gewaltphänomen andauert: Herakles tat sich anfangs im Kampf mit dem mehr-köpfigen Schlangenungeheuer Hydra schwer, weil diesem immer dann zwei Köpfe nach-wuchsen, nachdem einer abgeschlagen war.

Heute müssen wir uns also erneut fragen: Auch wenn der „Islamische Staat“ 2017 erhebliche Gebietsverluste erleiden musste und noch weiter zurückgedrängt wird, was kommt danach? Eine Möglichkeit ist, dass viele „Foreign Fighters“ zurück in ihre Heimatländer kehren werden, was wir allerdings beim BND momentan noch nicht beobachten.

Bis Juli 2017 waren mehr als 940 deutsche Islamisten bzw. Islamisten aus Deutsch- land in die Kampfgebiete in Syrien und den Irak gezogen. Etwa ein Drittel dieser Personen ist bereits wieder in der Bundesrepublik. Und von einigen der Heimkehrer dürften massive Gefahren ausgehen, was nicht nur die Anschläge in Paris im November 2015 gezeigt haben. Wenn sich der „Islamische Staat“, der sowohl aus parastaatlichen als auch aufständischen Strukturen besteht, typologisch auf das Niveau einer reinen Terroristen-Formation zurückentwickelt, dann wird er auch den Schwerpunkt seiner Tätigkeiten verschieben.

Es ist zwar davon auszugehen, dass der Kern der Gruppe in seinem angestammten Gebiet verbleibt. Dennoch könnte es zu einer Steigerung von Anschlägen in Europa kommen, um die Handlungsfähigkeit des „Islamischen Staates“ nachzuweisen. Ein historisches Vorbild für eine solche Entwicklung gibt es: Nach dem Sieg über die sowjetische Besatzungsmacht Ende der 1980er Jahre sind die ausländischen Mudschaheddin zurück in ihre Heimatländer gezogen und haben dort, wie etwa auf den Philippinen oder in Indonesien, aufständische Gruppierungen sowie das Terrornetzwerk „Jemaah Islamiyah“ geprägt. Auch die Gründung der Al Qaida wurde ganz maßgeblich durch solche ehemaligen „Foreign Fighters“ beeinflusst.

(2) Die machtpolitischen Ambitionen Russlands. In Osteuropa hat Russland sehr deutlich gemacht, eine eigene Einflusssphäre zu beanspruchen. Beunruhigend sind die Truppendislozierungen und die weitere Modernisierung der Streitkräfte. In den russischen Militärbezirken West, Süd und Nord hat der Streitkräfteumfang neue Höchststände erreicht. Manöver sind in ihrer Intensität und Komplexität gesteigert worden. Zuletzt konnten wir bei der Übung „ZAPAD 2017“ erstaunliche Fortschritte bei Ausrüstung und Führungsfähigkeit beobachten.

Bis 2020 sollen 70 Prozent der Streitkräfte modernisiert werden, und, wie nicht zuletzt die große Militärübung mit Weißrussland gezeigt hat, sie sind auf diesem Weg dem Ziel schon sehr nahe gekommen. Russland versucht auf diesem Wege ganz offensichtlich, seine Führungsrolle auf dem europäischen Kontinent zurückzugewinnen. Dazu will es die EU schwächen, die USA zurückdrängen und einen Keil zwischen beide treiben.

Um es also deutlich zu sagen: Statt einem Partner für die europäische Sicherheit haben wir in Russland heute eine potentielle Gefahr. Ich verstehe jeden, dem die Sichtweise Wladimir Putins auf die internationale Politik missfällt. Sie ist aber nun einmal vorhanden und klar konturiert. Je weniger wir sie ändern können, desto mehr müssen wir sie in unsere Analyse einbeziehen. Jede andere Herangehensweise wäre unverantwortlich.

Konkret bedeutet dies, dass Georgien und die Ukraine solange keine Chance haben, Mitglied der NATO zu werden, wie Putins Weltsicht in Moskau dominiert. „Provoziert“ der Westen daher Russland in Osteuropa – auch wenn es sich objektiv gar nicht um Provokationen, sondern lediglich um die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker handelt – kann dies sehr schnell zu sicherheitspolitischen Komplikationen führen.

Außerdem: Putin hat den Aktionsradius der russischen Sicherheitspolitik erweitert, u.a. durch seine Intervention in den Syrien-Konflikt, auch durch Projektionen nach Libyen, Einflussnahmen in Ägypten, Saudi-Arabien und der Türkei. Moskau wird daher eine unbequeme Macht bleiben. Dies muss der Westen sehr realistisch sehen. Gerade deshalb ist es aber auch so wichtig, enge Bande zu Russland zu knüpfen – gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch. Das klingt paradox, ist aber bester Realismus – wie sich das bei Geheimdiensten eben gehört.

(3) Hält der Aufstieg Chinas an? Wer den Aufstieg Chinas in seiner ganzen Dimension erfassen möchte, der sollte einen Blick auf sein wirtschaftliches Wachstum werfen. Noch 1990 hatte dieses Land einen Anteil von 1,6 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukt; bereits 2016 lag China als zweit-größte Wirtschaftsmacht der Erde bei 14,8 Prozent.

Auch wenn sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt hat, war die Dynamik der letzten Jahre doch beachtlich. So entsprach allein die Zunahme des chinesischen Bruttoinlandsprodukts von 2011 bis 2016 mehr als dem kompletten deutschen Bruttoinlandsprodukt des letzten Jahres.

Die 2013 lancierte Seidenstraßen-Initiative ist das derzeit weltweit größte Projekt dieser Art. Es geht dabei weniger um Entwicklungspolitik und Infrastrukturhilfe als um die Sicherung wirtschaftlichen und politischen Einflusses über die Schaffung ökonomischer und finanzieller Abhängigkeiten. Mit der seit kurzem arbeitsfähigen Asian Infrastructure Investment Bank wird China versuchen, seine eigenen wirtschaftlichen Interessen unabhängiger von westlichen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank zu vertreten.

Zu Beginn der 1990er Jahre hatte sich China in sicherheitspolitischer Hinsicht noch sehr zurückgehalten – weil es schwach war. In der Taiwanstraßenkrise von 1995/1996 gab die Volksbefreiungsarmee sofort nach, als die USA zwei Flugzeugträgergruppen in das Konfliktgebiet entsandten. Dagegen setzte China ab Ende 2013 gegen jeden Widerspruch der Staaten Ostasiens und der internationalen Gerichtsbarkeit Inselaufschüttungen im Südchinesischen Meer durch. Diese werden künftig auch militärisch genutzt werden. Das Fiery Cross Reef, das Mischeef Reef sowie das Subi Reef verfügen bereits über professionelle Start- und Landebahnen für Kampfflugzeuge.

Im Juli dieses Jahres hat China zudem in Dschibuti seinen ersten militärisch nutzbaren Hafen eingeweiht. Offiziell soll er vor allem der Abstützung des Anti- Piraterie-Einsatzes am Horn von Afrika, humanitärer Einsätze oder der Evakuierung chinesischer Staatsbürger aus regionalen Krisenländern dienen. Tatsächlich ließe sich die Anlage aber auch für andere Zwecke verwenden.

Nachdenklich sollte uns stimmen, dass Peking auch die Reichweite seiner Seestreitkräfte mit dem Hafen von Dschibuti erheblich ausgebaut hat. Die Ambitionen Pekings enden nicht am Horn von Afrika. Ende Juli führten chinesische und russische Seestreitkräfte erstmals ein gemeinsames militärisches Manöver in der Ostsee durch.

Ob der Aufstieg Chinas gleichwohl unaufhaltsam ist, muss als offene Frage betrachtet werden. Die derzeitige ökonomische Situation lässt sich nicht einfach linear in die Zukunft projizieren. Zu viele Faktoren könnten die weitere Entwicklung des Landes in eine ganz andere Richtung lenken.

Studien gehen davon aus, dass heute etwa 1,6 Millionen Chinesen jedes Jahr aufgrund der Luftverschmutzung frühzeitig versterben. Wenn sich Peking dieses Themas offensiv annehmen sollte, könnten daraus Einbußen im Wirtschaftswachstum resultieren. Vorstellbar ist auch, dass die katastrophale Umweltlage wie auch die schlechten Arbeitsbedingungen in vielen Branchen zu weiteren Protesten in der Bevölkerung führen. Wir wissen aus den vergangenen Jahren, dass es zahlreiche solcher „Massenvorfälle“ gegeben hat – auch 2017!

Eine ganz besondere Herausforderung könnte zudem von den chinesischen Wanderarbeitern ausgehen, deren Zahl 2016 auf 281 Millionen angewachsen ist. Sollte es zu einer weiteren globalen Wirtschafts- und Finanzkrise kommen, würden viele dieser Menschen sofort ihre Arbeit verlieren. Aus einer solchen Situation kann sehr schnell ein erhebliches Protestpotential erwachsen – mit dem Potential einer Systemkrise.

Andererseits kann und darf verantwortliche Sicherheitspolitik darauf nicht setzen. Auch deshalb nicht, weil eine Systemkrise in China wiederum ganz neue sicherheitspolitische Herausforderungen nach sich ziehen würde. Und auch der letzte Parteitag war eine Demonstration von Zuversicht und Stärke in den Chinesischen Weg: Die Zeit der Bescheidenheit und Rücksichtnahmen scheint vorbei, China beansprucht den Rang einer außenpolitischen Großmacht.

(4) Massenvernichtungswaffen und das Problem der Proliferation. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die Zahl der Nuklearmächte nicht ab-, sondern zugenommen. Nordkorea hat mehrere Atomtests durchgeführt und könnte diese Serie aus dem Stand fortsetzen.

Bereits heute liegt die Bundesrepublik in Reichweite chinesischer Interkontinentalraketen – ein Umstand, der angesichts der europäischen Russland-Fixierung oft vergessen wird. Moskau wiederum könnte jederzeit die Sicherheit Deutschlands mit Atomwaffen bedrohen und über die Stationierung von Kurzstreckensystemen in der Oblast Kaliningrad zusätzlichen Druck ausüben.

Sollte zudem die jüngste Kooperation des Iran mit dem Westen scheitern und das Mullah-Regime seine Arbeiten am Nuklearwaffenprogramm wiederaufnehmen, droht auch von dieser Seite Ungemach. Die Distanz zwischen Deutschland und dem Iran ist weniger als 3.000 Kilometer Luftlinie. Die Shahab-3 hat eine Reichweite von bis zu 2.000 Kilometern und ist einsatzbereit. Es ist davon auszugehen, dass der Iran Kampf- und Reichweitensteigerungen seines ballistischen Trägerarsenals anstreben wird.

Sollte zudem Nordkorea in den nächsten Jahren weitere Fortschritte in der Raketentechnologie machen und bei der Miniaturisierung von Nuklearsprengköpfen erfolgreich sein, wird auch das Kim-Regime theoretisch in der Lage sein, das Zentrum Europas anzugreifen. Einige Beobachter gehen davon aus, dass dies bereits jetzt der Fall ist.

Die Folgen der Proliferation hätten dann direkte Konsequenzen für die Sicherheit Deutschlands. Während Russland und China seit Jahrzehnten über weitreichende Raketen verfügen, sind Nordkorea und der Iran erst durch die Weiterverbreitung ballistischer Trägertechnologie in den Stand versetzt worden, in die Liga der Raketenmächte aufzusteigen.

(5) Zunehmende Migration. Die Folgen des demographischen Wachstums werden uns auch in den nächsten Jahren beschäftigen. Im Jahr 2030 wird die Weltbevölkerung vermutlich um eine weitere Milliarde Menschen angestiegen sein, von heute 7,5 auf dann 8,5 Milliarden Menschen.

Die Bevölkerung Afrikas wächst derzeit um jährlich über 30 Millionen Menschen. Es ist sehr fraglich, ob die westlichen Bemühungen, Fluchtursachen zu bekämpfen, mit dieser Dynamik überhaupt Schritt halten können. Zumal ein Zusammenhang gerne übersehen wird: Selbst wenn es gelingen sollte, die wirtschaftliche Lage einzelner afrikanischer Staaten zu verbessern, wird dies vermutlich zunächst zu noch mehr Migration führen. Denn dann werden viele Personen selbst bei einem sehr begrenzten Wirtschaftswachstum zum ersten Mal überhaupt die Möglichkeit haben, die Reise nach Europa zu finanzieren.

Weit über eine Milliarde Menschen werden künftig einen rationalen Migrationsgrund haben.

Drei Kategorien sind bei Migranten zu unterscheiden: Die gewaltsam Vertriebenen haben 2016 mit einem Umfang von 65,6 Millionen vermutlich den geringsten Posten ausgemacht. Dramatisch zunehmen wird die Zahl der Umweltflüchtlinge, die perspektivisch durchaus im dreistelligen Millionenbereich liegen kann. 2016 galten zudem etwa 815 Millionen Menschen als unterernährt. Diese Menschen werden sich die Flucht vorerst nicht leisten können, aber vermutlich aufgrund ihrer persönlichen Lebenssituation in vielen Einzelfällen hinreichend Motive haben, das eigene Land zu verlassen.

Solche Zahlen deuten nicht nur künftige Migrations-, sondern auch ganz erhebliche Destabilisierungs-potentiale in den betroffenen Weltregionen an. Ganz abgesehen davon, dass Migration in vielen Teilen Afrikas der Normalzustand, Tradition, ein Menschenrecht ist.

Eine Prognose wird daher mit Sicherheit zutreffen: Der Migrationsdruck auf Europa wird zunehmen. Fraglich ist, ob es den europäischen Regierungen gelingt, Steuerungspotentiale aufrechtzuerhalten bzw. zu schaffen, um die Entwicklung zu beeinflussen.

Meine Damen und Herren,

die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes ist angesichts dieser Herausforderungen natürlich nicht leichter geworden. Der BND ist dabei, sich in der Terroraufklärung dank zusätzlicher Stellen neu aufzustellen. Wir beobachten natürlich auch die sicherheitspolitische Lage Russlands intensiv.

Um diese und andere Aufgaben auch zukünftig noch erfüllen zu können, investieren wir massiv in unsere Technik, wofür uns dankenswerter Weise die nötigen Mittel bewilligt worden sind. Neben diesen Mitteln hilft uns nach wie vor unser guter Ruf als Arbeitgeber, was sicherlich mit der hohen Bandbreite an interessanten Jobs zu tun hat. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet leider der Bereich Cyber, für den wir nicht so leicht Experten finden und entsprechend erfinderisch sein müssen. Beispielsweise arbeiten wir hier zusammen mit der Bundeswehr und der Hochschule der Bundeswehr an Lösungen.

Hierzu gehört aber auch, dass wir die interne Ausbildung verbessern, indem wir zukünftig die nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung von BND und BfV in Berlin bündeln. Zudem schaffen wir an der Hochschule des Bundes einen neuen Masterstudiengang „Intelligence and Security Studies“.

Ich komme damit zum Schluss meiner Bewertung der internationalen Sicherheitslage und ihrer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland. Es dürfte sehr deutlich geworden sein, dass das 1992 von Francis Fukuyama ausgerufene „Ende der Geschichte“ – also die globale Durchsetzung der Ideen des Liberalismus – nicht eingetreten ist. Es gibt heute keine Friedensdividende, die verteilt werden könnte, weil es schlicht nicht zu einer Auflösung der weltpolitischen Widersprüche gekommen ist.

Wir müssen daher wachsam bleiben und auch die Bereitschaft haben, in unsere Sicherheit zu investieren. Der Friede in Europa ist keine Selbstverständlichkeit, sondern er und die ihn tragende Ordnung müssen immer wieder neu errungen werden.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph S. Nye Jr. hat dies 1995 in einem Beitrag für die Foreign Affairs sehr bildhaft und auch sehr treffend formuliert: „Security is like oxygen – you tend not to notice it until you begin to lose it, but once that occurs there is nothing else that you will think about.“

Quelle: Hanns Seidel Stiftung und Bundesnachrichtendienst

 

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