1.Einleitung: Deutsche Abrüstungspolitik und Wehrpflicht nach 1990
2.Analyse zum Wehrdienst in Deutschland anhand von Michael Sandel
2.1.Militärdienst in Demokratien: Beispiel einer kontemporären Gerechtigkeitsproblematik
2.1.1.Michael Sandel und seine Relevanz in Debatten über Gerechtigkeit
2.1.2.Der Wehrdienst zwischen bezahlter Leistung und bürgerlicher Pflicht
2.1.3.Armeen, Soldaten – in Zukunft überflüssig?
2.2.Militärdienst in der Bundesrepublik Deutschland:
2.2.1.Aussetzung der Wehrpflicht 2011
2.2.2.Neue Anforderungen, neue Motive im Wehrdienst?
2.3.Synthese: Sandels Konzept am Beispiel der Bundeswehr
3.Schluss: Politische Philosophie und praktische Politik
1.Sicherheitspolitische Krisen ist man in Deutschland dieser Tage nicht mehr wirklich gewohnt. Nach dem Ende des Kalten Krieges vor rund 25 Jahren und der damit einhergehenden Entspannung innerhalb Europas warfen viele Bürger und Politiker den Blick in eine offenbar friedliche Zukunft. Diplomatie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abrüstung standen auf dem Programm, Militärausgaben wurden bald schon heruntergeschraubt. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die Aussetzung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik 2011 dar.
Von internationalen Partnern wurde die Kostenreduktionsstrategie der Bundesregierung(en) bzw. der Bundeswehr bisweilen kritisiert, ebenso wie die schon seit Jahren nur zurückhaltende Beteiligung Deutschlands an Kampfeinsätzen im Ausland.
Durch zahlreiche Ereignisse im Frühjahr und Sommer 2014 in der Ukraine einerseits, aber auch in Syrien und im Nordirak erlangt die Debatte nun neue Brisanz. Verfügt die Bundeswehr überhaupt über genügend Soldaten und Ausrüstung, um in einem Bündnisfall mit der NATO ein anderes Mitgliedsland oder gar sich selbst verteidigen zu können? Wie weit kann und sollte man die Beteiligung bei Auslandseinsätzen ausbauen? Diese Fragen hängen zu einem großen Teil davon ab, welche Vorstellung von staatsbürgerlichen Tugenden in einem Land vorherrscht.[1]
Der Militärdienst hat in Deutschland natürlich eine sehr spezielle Tradition und Vergangenheit, heute ist er stark umstritten. Dahinter verbirgt sich eine tiefer liegende Frage, die wiederum auch eine Gerechtigkeitsproblematik in sich trägt. Diesen Zusammenhang beschreibt Michael Sandel, Begründer der Kommunitarismusdebatte und Professor an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Seiner Analyse zufolge zeigt das Beispiel des Wehrdienstes die Verbindung von Märkten und Moral auf.[2] Im Folgenden soll betrachtet werden, worin nach Sandel eine mögliche Gerechtigkeitsproblematik der Wehrpflicht grundsätzlich besteht, und inwiefern sie auch im Fall der deutschen Bundeswehr zu beobachten ist.
2.1.1.Zunächst einige wichtige Hintergrundinformationen zur Person des Michael J. Sandel: Der US-Amerikaner ist „Anne T. and Robert M. Bass Professor of Government at Harvard University“ und unterrichtet dort seit 1980 politische Philosophie. In den Achtziger Jahren war er maßgeblich an der Entstehung der sogenannten Kommunitarismusdebatte, die sich in Reaktion auf die Theorie der Gerechtigkeit (1971) von John Rawls entwickelte, beteiligt. Sandels Werk „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982) kritisiert den Individualismus der liberalen Theorien und insbesondere das unencumbered self [3] von Rawls, das keine sinnvolle Grundlage für ein Konzept der Gerechtigkeit liefere. Zu sehr seien die Menschen durch ihre sozialen Kontexte bedingt, als dass man das rationale Individuum als Ausgangspunkt einer Gerechtigkeitstheorie sehen könnte. Die generellen Ideale bzw. Ziele der Theorie der Gerechtigkeit lehnt er nicht ab, vielmehr versucht er sich an einer alternativen Herleitung. Rawls reagierte ausführlich auf Sandel und seine anderen Kritiker, von denen viele der losen Theorierichtung des Kommunitarismus zugerechnet werden (etwa Sandels Lehrer Charles Taylor sowie Michael Walzer). [4]
Der Harvard-Professor Michael Sandel wird jedoch vor allem wegen einer bestimmten Lehrveranstaltung gefeiert: Justice. Angaben der Universität zufolge besuchten bislang über 15.000 Studenten diese Vorlesung. Seit 2009 existiert zudem eine Internetpräsenz des Kurses mit Videoaufnahmen und der Bestseller „Justice: What’s the Right Thing to Do“. Sandel ist damit heute einer der bekanntesten politischen Philosophen und wurde mehrfach für seine Lehrtätigkeit ausgezeichnet. Dies spielt vor allem deshalb eine Rolle für die folgende Analyse, weil er die Argumentationsstrategien aus seiner Vorlesung auch auf das Beispiel des Wehrdienstes anwendet. Er versucht daran exemplarisch zu verdeutlichen, in welcher Beziehung „Märkte und Moral“[5] stehen und inwiefern die verschiedenen Varianten der Rekrutierung als gerecht oder ungerecht gelten können:
„Am Anfang steht häufig eine konkrete Situation. Wie wir […] gesehen haben, ist eine öffentlich geführte Debatte ein guter Ausgangspunkt für moralische und politische Überlegungen.“ [6]
Sandel nennt sein Vorgehen „eine Reise durch die Gefilde der Moral und der politischen Reflexion“[7]. Dementsprechend muss auch seine Argumentation verstanden werden: Statt z.B. jedem utilitaristischen Argument seine eigenen Ansichten gegenüberzustellen, wägt er verschiedene Thesen und Einwände ab und tastet sich über (politische) Philosophen wie Mill, Kant und Rawls an ein Konzept der Gerechtigkeit heran.
2.1.2. Den Militärdienst in einer Demokratie betrachtet Sandel aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Er sieht ihn im Zwiespalt zwischen bezahlter Leistung und bürgerlicher Pflicht.
„Viele der hitzigsten Debatten über Gerechtigkeit betreffen die Rolle der Märkte. Ist der freie Markt fair? Gibt es bestimmte Güter, die man für Geld nicht kaufen kann (oder nicht kaufen sollte)? Wenn ja, welche Güter sind das? Und was ist falsch daran, sie zu kaufen und zu verkaufen?“[8] (S. 107)
Der militärische Dienst ist hier eines der fraglichen Güter. Zur Begründung zieht Sandel zwei verschiedene Modelle heran: Eine Armee, die sich aus Freiwilligen zusammensetzt, und eine, die auf der Wehrpflicht basiert. Erstere ist seiner Ansicht nach als „Freiwilligenarmee“ eher unpassend bezeichnet, da sie sich zum Beispiel von der Freiwilligen Feuerwehr grundlegend unterscheidet. Vielmehr ist sie eine Berufsarmee:
„‚Freiwillige’ sind die Soldaten nur in dem Sinn, in dem auch Beschäftigte in anderen Berufen Freiwillige sind. Niemand unterliegt einer Dienstpflicht, und die Tätigkeit wird von denen ausgeübt, die bereit sind, sie für Geld und andere Vorteile zu erledigen.“[9]
Zu diesen weiteren Vorteilen könnte zum Beispiel die Zusicherung medizinischer Behandlung sein. Für die gefährliche Aufgabe, die der Militärdienst häufig darstellt, wird also wie für jede andere „Dienstleistung“ eine Gegenleistung erbracht – das System des Marktes scheint als Rekrutierungsinstrument theoretisch gut zu funktionieren.
Mithilfe eines Blicks in die amerikanische Vergangenheit liefert Sandel aber schon ersten Anlass zum Zweifel: Während des Bürgerkriegs (1861-65) zwischen Nord- und Südstaaten wuchsen die Truppenstärken kontinuierlich an. Die zu Beginn zahlreichen Freiwilligenmeldungen mussten im Laufe der Zeit durch Rekrutierungen mittels einer Wehrpflicht ergänzt werden, weil sich der Konflikt in Dauer und Umfang steigerte.
„Eine Wehrpflicht widersprach dem Kern der individualistischen Tradition Amerikas, und die Union trug dieser Tradition bei der Einberufung auf überzeugende Weise Rechnung: Jeder Einberufene, der nicht dienen wollte, konnte einen anderen anheuern, der seinen Platz einnahm.“ [10]
Dieses System wurde zwar der Tradition gerecht, aber war es auch selbst gerecht? Die Angeheuerten erhielten für ihren Einsatz eine finanzielle Entschädigung und wurden unter anderem durch Zeitungsanzeigen angeworben. Wer den Kriegsdienst also nicht auf sich nehmen wollte konnte sich sozusagen freikaufen.
Nun muss dieser Fall natürlich als besonderer betrachtet werden, da er sich in einer Zeit der schwerwiegenden militärischen Konfrontation zwischen Nord- und Südstaaten zutrug. Nichtsdestotrotz lässt sich daraus eine allgemeine Problematik ableiten: Einen Ersatzmann zu bezahlen ist teuer, und einige Bürger haben lieber der Einberufung zugestimmt statt sich und ihrer Familie in horrende Unkosten zu stürzen – auch wenn sie damit ihr Leben im Krieg aufs Spiel setzen mussten. Doch der Vorteil vieler Reichen, für die der ‚Freikauf’ ein Taschengeld darstellte, erscheint gleich auf den ersten Blick als unfair, gar ungerecht. Sollte eine Armee, die zur Verteidigung aller Bürger berufen wird und für diese vehement eintritt, nicht auch aus Repräsentanten aller wirtschaftlichen und sozialen Gruppen (vorausgesetzt, diese sind im Krieg kampffähig) bestehen?
Sandel vergleicht diese Ungerechtigkeit dann auch mit der Rekrutierung der Berufsarmee, die ihrerseits ja aus einem ‚freien’ Marktsystem hervorgeht. Es „[…] gilt in beiden Fällen, dass diejenigen, die lieber nicht persönlich zu den Waffen greifen, andere anheuern, um in unsere Kriege zu ziehen und ihr Leben zu riskieren.“[11] Und „ist dann die Freiwilligenarmee nicht ebenso ungerecht?“[12] Schon sind wir bei der Teilfrage angelangt, die die vorliegende Arbeit bestimmt, nämlich jene nach der Gerechtigkeitsproblematik der Wehrpflicht. Für Sandel ist dieses Beispiel auch in seiner Vorlesung sehr hilfreich. Seit Jahren bringt er damit Studenten zum Räsonieren, ob die gegenwärtige Lösung der Militärrekrutierung in den USA denn wirklich gerecht sei (wovon die meisten grundsätzlich auszugehen scheinen[13]). Denn die etlichen außenpolitischen Konflikte, die die Vereinigten Staaten auch heute noch beschäftigen, sind häufig mit Militäreinsätzen verbunden. Allein der von Obamas Vorgänger George W. Bush proklamierte ‚War on Terror’ verursachte schon Auslandseinsätze mit großem finanziellen Aufwand, vielen Verlusten und mäßigem Erfolg.
Damit der Militärdienst in einer Berufsarmee (in einer Demokratie) eine attraktive Tätigkeit bleibt, müssen die Anreize entsprechend gestaltet werden, also etwa die Besoldung. So verlangt es natürlich auch die Logik des Arbeitsmarktes, doch der Beigeschmack des ‚Freikaufs’ bleibt erhalten. Eine Berufsarmee wird schließlich aus Staatsgeldern bezahlt. Bei einer Streitmacht vom amerikanischen Ausmaß kann dies ordentlich auf den Haushalt schlagen, wie der wachsende Schuldenberg der letzten Jahrzehnte gezeigt hat.
Die Problematik der Finanzierung ist darüber hinaus direkt mit der gesellschaftlichen Repräsentation verbunden: „Only if people are similarly situated to begin with can it be said that the choice to serve for pay reflects people’s preferences, rather than their limited alternatives.“[14]Wenn sich Menschen nur für den Dienst in der ‚Freiwilligenarmee’ entscheiden, weil sie andernfalls nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügen, ist die Rekrutierung mittels des Marktes wohl kaum gerecht.
Nach Sandel kommt für Vertreter des libertarianism eine Wehrpflicht aber nicht in Frage. Sie stelle eine Verletzung der Freiheitsrechte der Bürger dar, weil sie einen Zwang ausübe und somit „eine Form der Sklaverei“[15] sei.Auch aus utilitaristischer Sicht ist die Wehrpflicht zu kritisieren: Sie schränkt die Entscheidungsfreiheit der Bürger ein, vermindert das Glück insgesamt und richtet so gesellschaftlich mehr Schaden an als die Berufsarmee. Generell sind Zwangsmaßnahmen von dieser Warte aus verpönt.[16]
Sandel bringt zwei Einwände vor: Erstens werde in einer von (wirtschaftlicher) Ungleichheit geprägten Gesellschaft der Militärdienst zu einer Art Zwang, gerade weil er finanziell gesehen attraktiv ist. Und zweitens könne der Wehrdienst auch als staatsbürgerliche Tugend betrachtet werden. Demnach „ist es falsch, Soldaten zu bezahlen, damit sie für uns in den Krieg ziehen – nicht, weil das den Armen gegenüber unfair wäre, sondern weil es und ermöglicht, eine Bürgerpflicht zu umgehen.“ [17] Als Alternative erwähnt Sandel ausgerechnet den deutschen Zivildienst, der im Folgenden noch Erwähnung findet.
Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Roland Kirstein betrachtet die Frage aus ökonomischer Sicht:
„Eine Freiwilligenarmee aus staatlichen Angestellten würde dem Charakter der Landesverteidigung als öffentlichem Gut auch gerecht werden. Auch wenn Theodor Heuss die Wehrpflicht als „legitimes Kind der Demokratie“ bezeichnet hat, dürften die volkswirtschaftlichen Kosten einer Berufsarmee trotz der damit verbundenen höheren fiskalischen Ausgaben geringer sein.“[18]
Dies zeigt einen anderen, liberalen Blickwinkel auf den Militärdienst, bei dem die Komponente einer gerechten Repräsentation keine Erwähnung findet. Dadurch wird deutlich, was im Zentrum des Liberalismus steht und viele andere Einstellungen überschattet: „Der Bürger muss sicher davor sein können, dass staatliches Handeln ohne guten Grund bzw. ohne Aussicht auf den gewünschten Erfolg in seine Freiheitsrechte eingreift.“[19]
2.1.3. Doch bevor der Fokus weiter auf die Bundesrepublik Deutschland gelegt wird, sei noch ein langfristigerer, älterer Vorschlag erwähnt: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“[20] Er stammt von niemand geringerem als Immanuel Kant, der sich in seiner Schrift Zum ewigen Frieden auch mit dem Militärdienst auseinandersetzt. Zu Kants Lebzeiten war Europa noch ein Kontinent der Kriege, und auch in den beiden folgenden Jahrhunderten wurden die politischen Geschicke der Region durch militärische Konfrontationen bestimmt. Doch nach den Schrecken der Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges verbreitete sich die Hoffnung, man könne nun auf eine Zeit des globalen Friedens zusteuern. Das Vertrauen in die Ideen der liberalen Demokratie und des freien Marktes waren immens. So immens, dass es Francis Fukuyama zu seiner berühmt-berüchtigten These vom Ende der Geschichte veranlasste:
„As mankind approaches the end of the millennium, the twin crises of authoritarianism and socialist central planning have left only one competitor standing in the ring as an ideology of potential universal validity: liberal democracy, the doctrine of individual freedom and popular sovereignty.” [21]
Während Fukuyama mit seiner an Hegel angelehnten These offenbar Unrecht hatte, ist Kants Traum einer Zukunft ohne Kriege in vielen Demokratien erhalten geblieben. Bis dahin ist der Weg zwar weit, aber es gäbe eine Gerechtigkeitsproblematik weniger.
Keine Nation verkörperte die Rolle des liberaldemokratischen Propheten in den letzten Jahrzehnten so vehement wie die USA. Der Export der ‚westlichen Werte’ (bisweilen unter Einsatz von militärischer Gewalt) geriet jedoch ins Stocken. Neue Konflikte kamen auf, alte verschärften sich wieder. Die besten Beispiele hierfür sind einerseits der ‚Islamische Staat (IS)’ in Irak und Syrien und andererseits die Konfrontation von Russland und Ukraine, ehemals Bestandteile der Sowjetunion.
2.2.1.Beide Fälle liefern auch in Deutschland die Grundlage zu öffentlichen Diskussionen. Welche Rolle wird die Bundeswehr in solchen Krisen spielen? Dass es ein wichtiges Thema ist, steht wohl außer Frage, denn: „Der Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 1990 zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie im Bereich des veränderten Aufgabenprofils und Tätigkeitsbereichs ihrer Streitkräfte.“[22] Nun ist es gerade einmal drei Jahre her, dass der Bundestag die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen und damit das Personal der Bundeswehr deutlich reduziert hat. Der Hauptgrund für den damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière war nach Angaben des Bundestages, dass die Wehrpflicht „sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen“[23] sei.
Dieser Logik zufolge war aber die einzig sinnvolle Konsequenz, die Wehrpflicht nicht abzuschaffen, sondern nur auszusetzen:
„Die Aussetzung der Wehrpflicht ist Teil der angestrebten Streitkräftereform, mit der die Bundeswehr von derzeit rund 255.000 Soldaten auf bis zu 185.000 verkleinert werden soll. Das Ende der Dienstpflicht gilt jedoch ausschließlich in Friedenszeiten, im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder aktiviert werden. Deshalb bleibt Artikel 12a des Grundgesetztes, nachdem jeder männliche deutsche Staatsbürger „vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“ kann, unangetastet.“[24]
Entsprechend umstritten war diese Änderung natürlich, denn einen friedfertigen Geist verkörpert sie nur zum Teil: Sie diente vor allem einer Kürzung des Budgets. „Das Argument der Wehrgerechtigkeit wird auch weiterhin herangezogen, wenn es gilt, das Ende der Wehrpflicht zu rechtfertigen.“[25] Von dieser Feststellung bis zu Michael Sandel ist es nicht mehr weit – stellen wir die Armee aus unterschiedlichsten Bürgern zusammen, um deren Sinn für Gemeinschaft, Demokratieund Tugend zu stärken? Oder geht es lediglich um die notwendige Verteidigung im Ernstfall, die auch noch möglich günstig gehalten werden soll?
In der Bundesrepublik jedenfalls wurde eine Berufsarmee nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst vermieden:
„One of the ‚lessons of the past’ concerning civil-military relations in the Federal Republic seemed to be the necessity for general conscription as an organizational device to counteract anti-democratic political ambitions of the officer corps of the armed forces […] The Bundeswehr should become a military organization with all the ideological features of armed forces of citizen soldiers. General conscription and conscientious objection were therefore regarded as complementary, both of them together demonstrating the new eagerness of the Germans to comply with the norms of Western democracy.“[26]
Die Wehrpflicht der Bundeswehr diente also auch dazu, die Demokratie zu stärken und das Land nah an den westlichen Werten zu halten. Während des Kalten Krieges und den ständigen ideologischen Konflikten des Westens mit der Sowjetunion erscheint dieser Ansatz durchaus sinnvoll. Er erinnert fast ein wenig an Jean-Jacques Rousseau:
„In einem wahrhaft freien Lande tun die Bürger alles mit ihren Armen und nichts mit dem Gelde; weit entfernt, sich von ihren Pflichten freizumachen, würden sie noch dafür bezahlen, sie persönlich zu erfüllen.“[27]
Die staatlichen Pflichten sind dem Bürger demnach eine Ehre; sie für Geld einem anderen zu übertragen wäre aus dieser Sicht egoistisch und verwerflich.
2.2.2. Die Stimmungen und die politische Situation der Bundesrepublik haben sich geändert, aber auch die Anforderungen an eine moderne Armee sind heute höher. Schon in den frühen Neunzigern stellte Wilfried von Bredow fest, dass Streitkräfte mittlerweile einer anderen Ausbildung bedürfen als zuvor. Sie sollten über „highly developed technical and managerial skills“[28] verfügen und sich auch ansonsten klar von den ‚normalen’ Wehrdienstleistenden abheben (etwa durch besondere mentale und körperliche Fitness).[29]
Die Bundeswehr veröffentlichte nach der Aussetzung der Wehrpflicht ebenfalls ein Statement, das unter anderem auf dieses Argument zurückgreift.
„Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich verändert, deutsche Streitkräfte nehmen an friedensschaffenden Auslandseinsätzen teil. Weltweite Einsätze stellen andere Anforderungen als die unmittelbare Verteidigung Deutschlands.“[30]
An die Stelle der Wehrpflicht trat deshalb 2011 der Freiwillige Wehrdienst, der Zivildienst wurde durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt. Damit unterscheidet sich das deutsche Verfahren klar von der amerikanischen Variante, wonach die Wehrpflicht angesichts einer tiefen individualistischen Überzeugung abgelehnt wird. Im Idealfall stärke der Freiwillige Wehrdienst
„den Austausch zwischen Gesellschaft und Streitkräften. Er ermöglicht jungen Männern und Frauen, einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten. Leitbild ist der Staatsbürger in Uniform. Neben Zeit- und Berufssoldaten sind Freiwillige ein Grundpfeiler der Bundeswehr, auch längerdienender Nachwuchs wird aus ihnen gewonnen werden.“[31]
Zudem profitieren die Wehrdienstleistenden neben den Wehrsold von unentgeltlicher Verpflegung, Unterkunft und medizinischer Versorgung. Der Bogen zu Sandel lässt sich hier leicht zurückspannen: Die Attraktivität der Bundeswehr, die seit 2011 nun auch in Deutschland auf Grundlage eines Marktsystem rekrutiert, muss gesteigert werden, um eine ausreichende Truppenstärke und –qualität gewährleisten zu können. Die deutschen Staatsbürger bezahlen indirekt mit ihren Steuergeldern ihre ‚neue alte’ Berufsarmee und entgehen somit dem verpflichtenden Wehrdienst. Während die USA allerdings auch in großem Umfang mit privaten Sicherheitsfirmen Auslandseinsätze abwickeln, hat man in Deutschland die Hintertür für die Rückkehr der Wehrpflicht weit offen gelassen.
2.3.Laut Michael Sandel lassen derartige Entscheidungen und Debatten Rückschlüsse darauf zu,welche Werte und Vorstellungen von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft vorherrschen. Am direkten Vergleich von USA und Deutschland war der Unterschied klar zu erkennen. Die Antwort auf die Rekrutierungsfrage ist jedoch in beiden Fällen die gleiche: Der (auf nationaler Ebene) freie Markt regelt das. Wer sich freiwillig melden möchte, kann das tun – wem der Militärdienst widerstrebt, ist zu nichts gezwungen. Von einer möglichen Ungerechtigkeit wird erst einmal nicht ausgegangen, schließlich funktioniert der freie Markt in der Regel fair und gut. Von einer Fremdenlegion ist man dennoch weit entfernt.[32]
Wie bereits angeführt hat die Rekrutierung nach Marktlogik jedoch auch ihre Schwächen. Diese lassen sich speziell auf den Begriff ‚freiwillig’ und das Argument der bürgerlichen Tugend zurückführen. Michael Sandel verwendet das Beispiel des Militärdienstes als Auftakt für eine tieferliegende Debatte über die Begriffe der Freiheit und des freien Willens.[33] Eine Entscheidung muss nicht logischerweise frei sein, weil sie durch den Markt herbeigeführt wurde – soziale und wirtschaftliche Faktoren können sie auch zum Zwang werden lassen. Dieser erste Einwand spielt also besonders im US-amerikanischen Kontext eine entscheidende Rolle.
Vor dem Hintergrund der gegebenen Quellen ist für die Bundesrepublik Deutschland viel eher der zweite Einwand von Bedeutung. Das Selbstverständnis der Bundeswehr und der Tonfall der öffentlichen Debatten zeugen von einem gespaltenen Verhältnis zu den Bürgerpflichten in einer Demokratie. An einem einzigen Thema entzünden sich daher Konflikte rund um Gerechtigkeit, Freiheit und moralische Verpflichtungen – aber auch um internationale Verträge und Sicherheitspolitik.
3.Die politische Philosophie kann hier nur eingeschränkte Expertise liefern. Michael Sandel schafft es, die zentralen Aspekte der Debatte herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen. Wie in seiner theoretischen Konfrontation mit John Rawls zeigt sich auch hier:
„Es sind Fragen nach dem normativen Selbstverständnis, der Integrationskraft und damit auch der Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften. Es sind Fragen, bei denen sich philosophischer Diskurs und öffentliche Debatte thematisch oft überschneiden […].“[34]
Es sind außerdem Fragen, die über Jahrhunderte die prominentesten Philosophen beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden. Sandel und die anderen Denker, die lose unter dem Begriff der Kommunitaristen zusammengefasst werden, haben jedoch gar keine universalistische und neutrale Theorie im Sinn. Ihr zentraler Beitrag zur Gerechtigkeitsdebatte ist eben die Relativierung der Rawls’schen Theorie sowie der Verweis auf die Bedeutung von Werten und gesellschaftlichen Abhängigkeiten.[35]
Sie bringen den Leser dazu, über eigene Moralvorstellungen nachzudenken und den Liberalismus, in seiner theoretischen wie in seiner tatsächlichen Erscheinung, zu hinterfragen. Genau deshalb lässt sich auch im Militärdienst in Demokratien eine Gerechtigkeitsproblematik entdecken, wo auf den ersten Blick vielleicht nur die Unterscheidung zwischen zu vielen und zu wenigen Soldaten vorherrschte. Auch die Diskussionen in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich damit in neue Kontexte einordnen. Die zukünftigen politischen Entwicklungen in Osteuropa und im Orient bleiben indes ungewiss. Daher wird die Politik, ob Bundesregierung oder Militärbündnisse, vor neue Herausforderungen gestellt und müssen sich und ihre Vorgehensweise erneut hinterfragen.
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[1] vgl. z.B. vom Hagen 2012
[2] vgl. Sandel 2013:107
[3] vgl. u.a. Sandel 1984
[4] vgl. Schwaabe 2010:156ff.
[5] Sandel 2013:107
[6]ebd. 33
[7] Sandel 2013:46
[8] ebd. 107
[9] ebd. 112
[10] Sandel 2013:108
[11] ebd. 110
[12] ebd. 111
[13] vgl. ebd. 110
[14] Sandel 2003:89
[15] Sandel 2013:113
[16] ebd. 113f.
[17] ebd. 122
[18] Kirstein 2009:334
[19] ebd.
[20] Kant 1795. AA VIII, 345
[21] Fukuyama 1992:42
[22] Varwick 2007:246
[23]Weinlein 2011
[24] ebd.
[25] Kujat 2011:4
[26] von Bredow 1992:291
[27] Rousseau 2011:112
[28] von Bredow 1992:300
[29] vgl. z.B. Kümmel 2012
[30] Bötel 2013
[31] ebd.
[32] vgl. Sandel 2013:125
[33] vgl. ebd. 119
[34] Schwaabe 2010:175
[35] vgl. Bohmann/Rosa 2012:134
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