Wegweisung für den Wegweiser gesucht: Wer rettet die SozialeMarktwirtschaft?

Muss der ordnungspolitische Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft neu gefasst werden? Oder hat der derzeitige staatliche Interventionismus in der Ökonomie die Grundprinzipien der Jahrzehnte lang erprobten und bewährten Wirtschaftsordnung zugunsten eines konzeptionslos anmutenden Krisenmanagements nicht längst in den Hintergrund gedrängt? Drängt staatliche Regulierung den Markt immer weiter zurück, weil die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft als Leitfaden einer konzeptionellen Wirtschaftspolitik nicht mehr erkennbar sind? „In den gegenwärtigen Debatten findet man eigentlich keine ernstzunehmende Gruppe, die sich nicht hinter die Soziale Marktwirtschaft stellt, aber alle haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, nach welchen Regeln eigentlich gespielt werden soll“, fasst Werner Görg den Kern der aktuellen Debatte zusammen, die von vielen längst als grundlegende Systemdebatte geführt wird. Auch Görg sieht das so, wobei der erfahrene Unternehmer – von der Kölner Industrie- und Handelskammer (IHK) mit dem Adelspräsikat eines Botschafters für die Soziale Marktwirtschaft ausgestattet – immer wieder selbst darüber erstaunt ist, dass das so gekommen ist: „Dass ein eigentlich normaler Vorgang, nämlich die Bereinigung des Marktes nach dem Platzen einer Blase, letztendlich zu einer Systemdebatte führt, ist doch höchst verwunderlich.“
Die Verwunderung mag sich angesichts des Befundes noch steigern, dass die Debatte über die Soziale Marktwirtschaft deutscher Prägung eigentlich alternativlos geführt wird, weil es eben,außer der längst gescheiterten sozialistischen Planwirtschaft, keine Alternative gibt. „Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur ein geeignetes Modell in der Krise, sie bleibt vor allem das Modell für die Zeit nach der Krise“, betont in diesem Sinne denn auch beispielsweise der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Walther Otremba. Der Blick in die Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft liegt da nahe. Schließlich wurde sie seinerzeit von ihren geistigen Vätern bewusst als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre sowie die totalitären Folgen eines Laisser-Faire-Kapitalismus konzipiert. Auch aus der Finanzmarktkrise werde die Soziale Marktwirtschaft gestärkt hervorgehen, prognostiziert der Staatssekretär, „weil sie kein starres Modell ist und ihre ordnungspolitischen Grundsätze wie Wettbewerb und offene Märkte, Freiheit, Verantwortung und sozialer Ausgleich zeitlos sind“.
Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft tut Not, zumal es längst nicht mehr selbstverständlich ist. Ausgerechnet zu ihrem 60. Geburtstag wurde der Vertrauensverlust offenkundig. Laut einer Allensbach-Umfrage gaben sich nur knapp über 30 Prozent der Befragten als Unterstützer der Sozialen Marktwirtschaft zu erkennen. Nicht genug damit kommt nun auch noch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung hinzu: Seit Wochen führen deutsche Ökonomen eine heftige Debatte über die Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre im Zusammenhang mit der Besetzung von Lehrstühlen an verschiedenen deutschen Universitäten. Während die eine Seite in der stark mathematischen Ausrichtung des Fachs eine zeitgemäßere und vor allem international wettbewerbsfähigere Form des Fachs erkennen, befürchten die Kritiker, dass eine solche Position zur Preisgabe eines Denkens in gesamtwirtschaftlichen und übergeordneten ordnungspolitischen Zusammenhängen führen wird. Dieser Streit, und mehr noch möglicherweise sein Ausgang, bezieht seine übergeordnete Relevanz neben dem inneruniversitären Aspekt eben auch aus der bedeutenden Tatsache, dass sich die Frage nach der zukünftigen Bedeutung einer wissenschaftlich fundierten und in der Praxis erprobten wirtschaftspolitischen Beratung neu definiert. „Berater oder Rechenkünstler?“, brachte kürzlich eine deutsche Wirtschaftszeitung die Debatte treffend auf den Punkt.
Auch die IHK Köln nahm dieser Tage den mittlerweile auch als „Ökonomenstreit“ medial ausgetragenen Diskurs zum Anlass, über die Krise im Allgemeinen und die Politikberatung im Besonderen zu diskutieren und dabei nach den Grundsätzen einer modernen und zukunftsfesten Wirtschaftspolitik zu fragen. Mit Werner Görg saß dabei ein Unternehmer auf dem Podium, der sich in seiner beruflichen Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der Gothaer Versicherungsgruppe in erster Linie mit mathematischen Steuerungsmodellen befasst. „Aber die Absolutheit dieser Modelle ist nicht richtig, weil sich eben bestimmte Aspekte darin nicht abbilden lassen“, sagte der Kölner IHK-Vizepräsident und fragte: „Wo ist der Praxisbezug solcher Modelle?“ Seiner Ansicht nach seien gerade Unternehmen mit großer Finanzausstattung in ihrer Steuerung mit der Vielzahl spezieller Modelle überfrachtet. Quantitative Modelle seien für die Unternehmenssteuerung zwar wichtig, aber: „Die Mitarbeiter müssen sie selber auch verstehen.“ Die Einbindung der Mitarbeiter und deren Verständnis für die Geschäftspolitik, wie sie beispielsweise „in der guten deutschen Tradition“ durch Aufsichts- und Betriebsräte gewährleistet sind, gehören für den Unternehmer Görg ebenso zu Elementen einer Sozialen Marktwirtschaft wie die ordnungspolitischen Dimensionen von Verantwortung, Haftung, Gemeinwohl- vor Individualinteresse.
Wie kann aber Vertrauen mathematisch dargestellt werden? Die Antwort ist einfach: „Vertrauen lässt sich eben nicht mit Hilfe eines Modells erfassen“, wie Professor Juergen B. Donges betont. Der Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln sowie langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrates lehnt eine Spezialisierung der Volkswirtschaft zwar nicht grundlegend ab, numerische Größen dürften aber nicht zum Nennwert erhoben werden. Es könne nicht sein, dass Studenten die Universität verließen und nichts über das ordnungspolitische Regelwerk, wirtschaftswissenschaftliche Ideengeschichte, Institutionen, Partikularinteressen und politische Entscheidungsträger wüssten. Donges, der bekannt dafür ist, dass er seit Jahren vehement darauf hinweist, wie nach seiner Meinung gegen Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verstoßen wird – Subventionen, Protektionismus, Rentenschutzklausel, Gesundheitsfonds und andere staatliche Interventionen –, betont andererseits, warum gerade die Soziale Marktwirtschaft die am besten geeignete Wirtschaftsordnung für die Zukunft ist, wenn fundamentale Grundprinzipien respektiert werden: bei den Unternehmen die Einheit von Gewinnchance und Verlustrisiko, bei den Bürgern die Bereitschaft zur Selbstverantwortung sowie beim Staat die Pflege guter gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen für unternehmerische Investitionen und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen.
Achim Wambach, Professor am Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität zu Köln, warb für mehr forschungsbasierte Politikberatung. Gerade weil sich die volkswirtschaftliche Forschung in den vergangenen Jahrzehnten sehr spezialisiert habe, müsse die wirtschaftspolitische Beratung neue Wege gehen und aktuelle Methoden und Erkenntnisse nutzen und auf wirtschaftspolitische Fragestellungen anwenden. Dazu gehört aber eben auch die Lektüre der wirtschaftswissenschaftlichen Klassiker, wie Patrick Adenauer hervorhob. Der Unternehmer sowie Präsident des Vereins „Die Familienunternehmer – ASU“ hob hervor: „Wirtschaftspolitik und Volkswirtschaft sind keine rein mathematischen Wissenschaften, sondern haben viel mit dem Denken in Ordnungen zu tun.“ Der Enkel des ehemaligen Bundeskanzlers plädierte aber auch dafür, dass „man neben der klassischen Ordnungspolitik auch eine Ordnungspolitik hinsichtlich Währung und Haushalt benötigt“.
Den Appell an die Wissenschaft nahm Staatssekretär Otremba mit seinen Worten auf: „Die Politik erwartet von den Wirtschaftswissenschaftlern, anspruchsvolle Theorien allgemeinverständlich zu formulieren und ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden, bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen für eine marktwirtschaftliche Ordnung zu helfen.“ Herbert Ferger, Hauptgeschäftsführer der IHK Köln, fasste die Diskussion in dem schönen Satz zusammen: „Zwar sagen alle, dass die Soziale Marktwirtschaft der Wegweiser ist, aber dazu brauchen wir eben auch Wegweisung.“

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Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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