Eine verstörende Nachricht: Die zuständige vatikanische Kongregation nimmt im Namen des Papstes die Exkommunikation von vier Bischöfen der Bruderschaft St. Pius X. zurück. Einer von ihnen, Richard Williamson, leugnet seit langem öffentlich den Völkermord an den Juden. – Sofort stellen sich zwei Fragen: War das bei Aufhebung der Exkommunikation bekannt? Und: Was hätten evangelische Kirchenführer in einem vergleichbaren Fall getan?
Wer andere verstehen will, muss sich über die eigenen Grundsätze klar sein. Die evangelischen Grundsätze sind klar: Wahnhaft den Holocaust zu leugnen ist mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Wer das tut, verweigert die Trauer über die Leiden des jüdischen Volkes und die Anerkennung der Schuld. Wer solche Überzeugung äußert, dem würde die Aufnahme in die evangelische Kirche verweigert werden. Und äußerte ein Mitglied einer Gemeinde hartnäckig solche Überzeugungen, müsste es vom Abendmahl ausgeschlossen werden. Inhaber eines kirchlichen Amtes wären zu suspendieren. So weit, so klar.
Sollte das in Rom anders sein? Wohl nicht. Dass der Vatikan erst nach Veröffentlichung des Dekrets vom 21. Januar von den Äußerungen Williamsons Kenntnis erhalten haben will, ist glaubwürdig. Gut vorstellbar, dass im Vatikan gravierende administrative Fehler begangen wurden, nicht hingegen, dass dort unchristliche Prinzipien herrschen. Der Fortgang bestätigte diese günstige Meinung – erzwang aber auch ein Eingeständnis: Leitung und Leben der römischen Kirche folgen Prinzipien und Faktoren, die die evangelische und die übrige nichtkatholische Welt stets neu befremden und überraschen. Kopfschütteln und Empörung darüber reichen nicht aus. Evangelische haben den ökumenischen Partner dort zu treffen, wo er steht, und genau hinzusehen, um das Verhalten aus dessen eigenen Motiven zu verstehen.
Befremdlich war und ist, welches Gewicht die Rückkehr zur Gemeinschaft mit den Lefebvre-Traditionalisten für die Leitung der römisch-katholischen Kirche besitzt. Die zahlenmäßige Größe der Gruppe rechtfertigt es nicht; erst recht nicht ihre reaktionäre Ignoranz, die alle Errungenschaften christlicher Aufklärung leugnet, die in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) so kraftvoll zusammengefasst sind, zum Beispiel die Religionsfreiheit und die Dialogbereitschaft gegenüber den anderen Religionen. Aber verständlich wird die Aufmerksamkeit, wenn man sieht: Es geht um das Bischofsamt mit seiner nach römisch-katholischer Sicht eigenen sakramentalen Macht (zum Beispiel zur Priesterweihe) und um die Gefahr, dass es sich gegenüber dem Papst verselbständigt. Diese sakramentale Macht des Bischofsamtes stammt nach römisch-katholischer Auffassung nicht vom Papst, sondern von Christus. Sie soll in der Einheit mit dem Papst ausgeübt werden, besteht aber auch unabhängig davon. Der Beweis: Der Vatikan erkennt auch das Bischofsamt in der Ostkirche an. Es besteht also höchstes Interesse, die Ausübung des Bischofsamtes in der Einheit mit dem Papst sicherzustellen.
Befremdlich für viele auch, wie wenig Rom Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit berücksichtigt. Man denke an die Zensuren gegen die Befreiungstheologie, die Erklärung „Dominus Jesus“, in der die evangelischen Kirchen nur „kirchliche Gemeinschaften“, nicht aber Kirchen genannt werden, dann das päpstliche Nein zu den katholischen Schwangerenberatungsstellen, die Regensburger Rede des Papstes mit ihrem Zitat zur Gewaltneigung des Islam, das Karfreitagsgebet um die Bekehrung der Juden.
Auch das ist verständlich: Der Papst – durch die Kardinäle auf Lebenszeit gewählt – muss sich nicht der jeweils vorherrschenden öffentlichen Meinung anpassen. Er ist auf nichts anderes verpflichtet und kraft Unabhängigkeit seines Amtes auch dazu fähig, öffentlich für das einzutreten, was „die Wahrheit“ ist. Vieles von dem, wofür sich der jetzige Papst und sein Vorgänger öffentlich stark gemacht haben, findet Zustimmung über die römisch-katholische Kirche hinaus auch bei Evangelischen und Kirchenfernen. Auch für sie ist eine Institution ein Hoffnungszeichen, die den Gewaltigen der Politik und den Übergewaltigen der Wirtschaft „auf Augenhöhe“ begegnet und „die Wahrheit sagt“.
Ebenfalls befremdlich für einige, wohltuend für andere, wie ungerührt durch die öffentliche Aufregung der Vatikan die causa W. selbst behandelt: 1. Es wird der Verfahrensfehler anerkannt und überlegt, wie sich Wiederholungen vermeiden lassen; 2. Die Äußerungen W.s werden als unvereinbar mit der kirchlichen Lehre zurückgewiesen; 3. dabei die Regeln des kirchlichen Rechts eingehalten: Ihnen zufolge würde die Aufhebung der Exkommunikation nur im Fall neuer Verstöße zurückgenommen. Aber weitere Schritte der Wiedereingliederung und die Rückkehr in bischöfliche Funktionen sind davon abhängig, dass die Betroffenen „eindeutig und öffentlich“ die Holocaustleugnung zurücknehmen, das Zweite Vatikanum und das Lehramt Johannes' XXIII. und seiner Nachfolger anerkennen. Hätte man auf einen schweren Fehler mit einem zweiten reagieren und auf öffentlichen Druck gegen geltendes Recht handeln sollen? Besser ist, die Kirche geht mit eigenen Fehlern so um, wie es ihre Ordnung vorsieht.
Selten gaben die Katholiken Deutschlands so schön das Bild einer großen Familie – Spannungen nach innen, Geschlossenheit nach außen. Erlebbar wurde: Die nachkonziliare römisch-katholische Kirche ist keine Herde von Schafen, die ihrem päpstlichen Hirten blindlings folgen; das Papstamt wird tatsächlich zusammen mit den Bischöfen ausgeübt. Vorbei an den Bischöfen und vorbei an der Zustimmung des Volkes erreicht der Papst nicht sein Ziel. Gleichzeitig herrscht Spannung zwischen unterschiedlichsten Auffassungen über das Zweite Vatikanische Konzil und seine Konsequenzen. Alle Streitthemen sind sofort wieder auf dem Tisch des Hauses: die Stellung der Frau in der Kirche, der Zölibat, die Sexualmoral, die Schwangerschaftsberatung, der Umgang mit Geschiedenen, die ökumenischen Beziehungen.
Einigkeit gibt es nur in der Ablehnung der Traditionalisten – und der Einmischungen von außen, insbesondere von „Protestanten“. Denen gegenüber herrschen in der katholischen Familie Deutschlands erstaunliche Ressentiments, deutlich in Kommentaren zur Intervention der Kanzlerin. Dass diese sich äußern musste, ist unbestreitbar, ganz unabhängig davon, ob sie die römischen Handlungsspielräume richtig einschätzte und Sic in geeigneter Form äußerte. Was aber nehmen führende Katholiken in Politik und Feuilleton wahr? Durch die Wortmeldung einer „evangelischen Pfarrerstochter“ werde „wie zu Bismarcks Zeiten“ das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche von Protestanten bevormundet. Das ist abwegig. Nicht ganz verständlich, dass sich auch Rom über ihr Votum ärgerte. Natürlich sind die „deutschen Interessen“ nicht die der römischen Weltkirche, aber sie sind doch ein Faktum. Wer sie geltend macht, kann niemanden beleidigen, der mit allen politischen Gewalten auf Augenhöhe verkehrt.
Ich verstehe, dass in der römisch-katholischen Lehre vom Bischofsamt Motive zu liegen scheinen, die es gebieten, die Lefebvre-Gruppe in die Gemeinschaft mit dem Papst zurückzuholen –wenn irgend möglich. Aber nicht um jeden Preis! Das Konzil verlangt, dass alle Dogmen in ihrem Verhältnis dazu betrachtet werden, was den Glauben begründet: das Christusgeschehen. Das gilt auch für die Lehre vom Bischofsamt. Hier ist noch vieles ungeklärt. Ist es undenkbar, dass es auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils zu einer Vertiefung der Lehre über das Bischofsamt kommt, die Rom aus der Gefangenschaft der Ultras befreit? Muss es so bleiben, dass das Wichtigste für Rom die Gemeinschaft mit den Traditionalisten ist, die den geistlichen Lernprozess der Kirche seit dem 16. Jahrhundert verleugnen? Könnte nicht die Gemeinschaft mit den Evangelischen, mit denen die katholische Kirche diesen Lernprozess christlicher Aufklärung faktisch gemeinsam durchgemacht hat, wichtiger werden? Die Wahrheit verlangt das Letztere. Sie wird sich durchsetzen.
(c)-Vermerk: Der Nachdruck dieses Textes aus dem Magazin Chrismon (www.chrismon.de) erfolgt mit Absprache von Professor Herms.
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