Die Feststellung der TIME, die keine Frage ist, mit dem aufrüttelndem Bild einer hübschen jungen Afghanin, der die Nase (und die Ohren) von den Taliban abgeschnitten worden sind, hat ihr Ziel verfehlt, die Mächtigen der USA und des Westens zu bewegen, ihre Truppen in Afghanistan zu belassen. Im Folgenden werden die deutschen Überlegungen dargestellt, warum die Bundeswehr und weitere europäische Armeen vor Erreichen der selbstgesteckten Ziele sich aus Afghanistan zurückziehen werden. Dazu ist die Betrachtung der Vorgeschichte und vergleichbarer militärischer Interventionen unumgänglich.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA, gab die amerikanische Regierung al-Qaida die Verantwortung für die Terrorakte, welche von Afghanistan aus operierte. Die USA und ihre Verbündeten griffen deshalb die Taliban an, die damals die politische und militärische Macht in Afghanistan innehatten.
Der einzig vorgegebene Grund für den Angriff auf Afghanistan lag somit in der Selbstverteidigung der angegriffenen USA. Er lag nicht in der Unterdrückung der afghanischen Bevölkerung und insbesondere der Frauen. Lange vor dem Einmarsch der verbündeten Truppen wurden Frauen wegen Nichtigkeiten Ohren und Nasen abgeschnitten, sie wurden gefoltert und gesteinigt, ohne dass die Bevölkerung und die Regierungen demokratischer Staaten die Notwendigkeit sahen, deshalb in Afghanistan einzumarschieren. Das heißt nicht, dass eine unbedeutende Zahl von Menschen im Westen die Bestialitäten der Taliban nicht anprangerten, das heißt nur, dass vor dem 11. September 2001 kaum jemand im Westen bereit war, dem Foltern, den Vergewaltigungen und dem Morden mit militärischen Mitteln ein Ende zu setzen.
Diese Erkenntnis deckt sich mit der Invasion des Iraks. Die USA gaben vor, dass der irakische Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen herstellen ließ, um erneut Krieg zu führen. Auch wenn sich später herausstellen sollte, dass der Irak nicht über solche Waffen verfügte, so wurden niemals von Seiten der westlichen Alliierten andere Argumente für einen Krieg gegen den Irak angeführt, wie die brutale Diktatur oder die endemischen Genozide. Letztendlich lässt sich daraus schließen, dass die Alliierten niemals das faschistische Deutschland angegriffen hätten, wenn sich Hitler und seine willigen Helfer auf die Vergasung von Juden und Zigeunern des eigenen Machtbereiches beschränkt und keinen Krieg gegen ihre Nachbarn geführt hätten. Zur Entlastung der Alliierten sei festgestellt, dass die Nazis dann nicht sechs Millionen, sondern nur höchstens eine Million Juden gequält und ermordet hätten.
Es gibt weitere Staaten, die die Menschenrechte missachten und keine militärischen Konsequenzen zu fürchten haben, solange sie den Krieg auf das eigene Volk beschränken. Folter und Genozid finden sich im Sudan, in Myanmar und in Nord-Korea, Missachtung von Menschenrechten in verschieden Qualitäten und Quantitäten in den meisten Ländern dieses Planeten.
Es gibt eine Ausnahme. Kurz vor der Jahrtausendwende griff die NATO Serbien an mit der Begründung, die muslimische Bevölkerung im Kosovo, damals einem integralen Bestandteil Serbiens, vor Vertreibung und Ermordung durch die serbische Armee zu schützen. Serbien wurde von demokratischen Ländern angegriffen, ohne dass das Land einen fremden Staat mit Krieg überzogen hätte oder ihm vorgeworfen wurde, dies zu beabsichtigen.
Was unterscheidet Serbien vom Sudan, vom Iran, von Myanmar und von Simbabwe?
Vier große Unterschiede fallen auf:
• Serbien befindet sich mitten in Europa;
• die NATO war sich sicher, den Krieg gegen Serbien militärisch zu gewinnen;
• nach Kriegsende wurde das Kosovo von vielen demokratischen Ländern anerkannt;
• die verfolgten Kosovaren waren Muslime, ihre Peiniger Christen.
Diese vier Tatsachen trugen mehr oder weniger zum Krieg gegen Serbien bei. Die wahren Beiträge der einzelnen Punkte zum Kriegsausbruch wird, wenn überhaupt, erst die Geschichte in Jahrzehnten preisgeben. Wir können nur vermuten: Die beiden ersten Punkte sind gewichtig, die letzten beiden Punkten sind von untergeordneter Bedeutung. Sie alleine hätten wahrscheinlich nicht genügt, die demokratischen Staaten zu veranlassen, Serbien zu bekriegen.
Zu den einzelnen Punkten:
Die Nähe Serbiens an den hochindustrialisierten demokratischen Staaten Europas war an sich eine Gefahr für die NATO-Staaten, da nicht auszuschließen war, dass der Funke des Krieges auf die Nachbarstaaten überspringt und einige NATO-Staaten in kriegerische Auseinandersetzungen auf ihrem eigenen Territorium hineinziehen würde. Es galt, dies unter allen Umständen zu verhindern, selbst unter Umgehung des Völkerrechts, was letztendlich auch geschah.
Die christliche Kultur Serbiens unterscheidet sich lediglich in Nuancen von der christlichen Kultur der demokratischen Staaten Europas. Die Führer der NATO konnten sich sehr sicher sein, dass ein Angriff auf die serbische Zivilbevölkerung, der realiter stattfand, den Druck auf die serbische Regierung derart erhöhen würde, dass sie kapitulieren musste.
Die Unabhängigkeit des Kosovo nach dem von Serbien verlorenen Krieg war eher die Konsequenz des Krieges, als dessen Ursache. Ohne den internen Krieg der serbischen Armee gegen die Kosovaren wäre es wohl niemals zur Anerkennung eines unabhängigen Kosovo gekommen.
Wären die Kosovaren Christen und nicht Muslime, dann hätte sich wahrscheinlich das serbische Militär anders verhalten und die NATO hätte nicht eingreifen müssen. Wären die Serben Muslime und die Kosovaren Christen, dann wäre der militärische Sieg der NATO durch Bombardierung der muslimischen Bevölkerung fraglich geworden. Wahrscheinlich hätte die NATO kriegerische Handlungen gegen ein muslimisches Serbien unterlassen.
Mit diesen Annahmen lässt sich die Zukunft Afghanistans aus deutscher Sicht unscharf beschreiben.
Die Misshandlung von Frauen, die Unterdrückung elementarer Menschenrechte spielt bei den militärischen Überlegungen eines Abzuges nicht eine untergeordnete, sondern überhaupt keine Rolle. Ein Widerstand relevanter NGOs, wie christlichen und politischen Friedensgruppen, Menschenrechtsaktivisten und deutschen muslimischen Verbänden, gegen einen Rückzug aus Afghanistan ist undenkbar.
Auf Grund der gravierenden Unterschiede in Zivilisation und Kultur zwischen Taliban und dem Westen sind die Taliban militärisch nicht zu besiegen. Der demokratische Westen hat bereits den Krieg verloren.
Eine Flüchtlingswelle, die Europa nach dem Rückzug aus Afghanistan erreichen könnte, ist auf Grund der Entfernung Afghanistans zum Westen Europas und der beschwerlichen Reise nicht zu befürchten.
Gegen einen militärischen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan spricht die Angst des Westens, dass nach der erneuten Machtübernahme der Taliban die al-Qaida dort einen sicheren Unterschlupf finden wird, um ihre Terror-Attacken gegen den Westen zu verstärken.
Es gibt jedoch weitere militärische Mittel, Terror-Attacken aus Afghanistan zu minimieren. Hierzu gehören die moderne Videoüberwachung aus großer Höhe und die Übertragung von „einfachen“ Sicherungsarbeiten an lokale Armeen.
Gegen einen militärischen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan spricht die Möglichkeit eines Übergreifens des Krieges auf die Nachbarländer Pakistan und Indien.
Der Westen kann davon ausgehen, dass nach seinem militärischen Abzug die Eliten der Nachbarländer aus Eigeninteresse den Krieg gegen die Taliban fortsetzen und bei Bedarf verstärken werden. Da die kulturelle und zivilisatorische Differenz zwischen Afghanistan und Pakistan signifikant kleiner ist als zwischen Afghanistan und dem Westen, liegt es im Bereich des Möglichen, dass Pakistan den Krieg gegen die Taliban gewinnt. Viele demokratische Kriegseinschränkungen werden fallen. Des Weiteren werden Terrorattacken aus Afghanistan gegen den Westen erschwert, solange der Konflikt zwischen Afghanistan und Pakistan terroristische Kräfte bindet. Auf Grund der dann zunehmenden militärischen Hilfe des Westens an Pakistan, würden die dortigen Machthaber verstärkt an den Westen gebunden.
Eine Ausweitung des Krieges auf ehemalige sowjetische Staaten würde Russland zwingen, sich am Krieg zu beteiligen, was dem Westen entgegenkommt. Eine Ausweitung des Krieges auf den Iran ist nicht anzunehmen, da die derzeitigen Herrscher des Iran und die Taliban sich politisch und ideologisch zu nahe stehen. Ein Sturz der iranischen Islamisten könnte zu unvorhersehbaren Komplikationen für einen militärischen Rückzug aus Afghanistan bedeuten, weshalb die westlichen Demokratien derzeit kein Interesse zeigen, die Machtverhältnisse in der Islamischen Republik Iran zu verschieben.
Sollten jedoch die Taliban nach Abzug des Westens im Begriff stehen, den Krieg gegen Pakistan zu gewinnen, dann müsste der Westen erneut militärisch intervenieren, damit keine Terroristen Atombomben besitzen und einsetzen werden. Dies ist der einzige Grund, militärisch in Afghanistan präsent zu bleiben.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.