In jeder katholischen Messe spricht der Priester ein Gebet, das in diesen Tagen eine neue Dringlichkeit bekommen hat: Zwischen dem eigentlichen, biblisch mehrheitlich überlieferten Form des Vaterunsers und der in manchen Handschriften hinzugenommenen Doxologie („Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit…“) betet der Zelebrant einen Text, der wahrscheinlich auf Papst Leo den Großen zurückgeht. Darin heißt es: „Komm uns mit deinem Erbarmen zu Hilfe und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde.“
Wann genau dieser „Embolismus“ (Einschub) Teil der Liturgie wurde, lässt sich nicht mehr sagen. Die perturbatio, die Verwirrung, vor der Gott die Christenheit bewahren solle, war für Leo eine Realität. Die spätantiken Gesellschaften sahen sich im 4. und 5. Jahrhundert mit der im Deutschen etwas naiv „Völkerwanderung“ genannten epochalen Umwälzung konfrontiert. Was sich damals vollzog, war aber keine Wanderung von Stämmen, die sich mal hier, mal dort nach schönen Siedlungsplätzen umsahen. Es war eine „Invasion der Barbaren“, wie die Italiener das Phänomen nennen. Dieses Eindringen geschah nicht nur militärisch, sondern auch geistig. Für die römische Gesellschaft stellte sich alles vor allem als Konfusion dar. Ausgang offen. Im Osten, weitgehend unberührt davon, fanden andere Auseinandersetzungen statt, und sie dürften den eigentlichen Hintergrund der Sorge Leos bilden: Es wurde um das rechte Verstehen des biblischen Glaubens gerungen, der sich dem griechischen Denken stellen musste. Bischöfe, Theologen und Kaiser waren involviert und die Erbitterung, mit der die Diskussionen bisweilen geführt wurden, zeigen nicht nur machtpolitische Interessen, sondern auch, dass die meisten Beteiligten wussten, was auf dem Spiel stand: Verfälschung oder Bewahrung des authentischen biblischen Zeugnisses von der Botschaft und Person Jesu von Nazareth. Erstaunlich ist, dass sie für Leo offensichtlich die Signatur jener unruhigen Zeit war und er sie für so gefährlich hielt wie die Sünde selbst: „…bewahre uns vor Verwirrung und Sünde.“
Mancher katholischer Priester wird heute dieses Gebet neu buchstabieren. Verwirrung, wohin man in seiner Kirche schaut. Wobei sich der Blick nun nicht mehr ausschließlich, wie sonst gerne, nach Rom richtet, wo inkompetente Kardinäle Geld in Luxusimmobilien verbrennen, sondern ins eigene Land. Kommt nun auch in der Kirche alle Verwirrung von den Deutschen? Rast der furor teutonicus besinnungslos nun auch gegen die römische Kirche und in der Kirche? Progressive gegen Konservative? Aufgeklärte gegen Fromme? Bischöfe gegen Bischöfe? Medien gegen Christentum?
Es gibt in der katholischen Kirche verschiedene Baustellen, auf denen einiges durcheinandergeraten ist. Nicht immer ist es sichtbar. Tatsächlich beginnt die Verwirrung bei den Begriffen. Der „Synodale Weg“ auf den sich die katholische Bischofskonferenz und die katholische Laienorganisation mit dem etwas aus der Mode gekommenen Namen „Zentralkomitee“ geeinigt haben, um auf die Missbrauchsskandale zu reagieren, scheint auf den ersten Blick eine Art simultane Übersetzung der von Papst Franziskus gewollten Synodalität als Kennzeichen (auch) der katholischen Kirche zu sein.
Aber während die Bischofssynode ein im Kirchenrecht vorgesehenes Beratungsorgan ist, bewegt sich der „Synodale Weg“ irgendwie zwischen Brainstor- ming und evangelischem Kirchenparlament. Eine etwas polemische Analyse bezeichnete den Synodalen Weges als „Betriebsrat“. Die Mehrheit der Mitglieder sind Bischöfe und kirchliche Angestellte, zumeist Vertreter von Berufsverbänden. Weitere Mitglieder stammen aus dem Zentralkomitee, das auch nicht wirklich eine Vertretung der Gläubigen ist, sondern auf einem Weg der Delegierung und Berufung zustande kommt. Andere wurden vom Zentralkomitee nominiert. Ohne Zweifel sind sehr viele Anliegen, die formuliert werden, berechtigt. Die Lösungsvorschläge überzeugen schon weniger. Was der Synodale Weg Gutes bewirken wird, ist noch offen.
Solche Konstrukte sind für eine Kirche, die sich als sichtbar und rechtlich geordnete Gemeinschaft versteht, ein Problem. Die Missbrauchsfälle waren ja nicht nur Verbrechen gegen die Humanität und gegen staatliches Recht, sondern zeigten auch, dass sich Verantwortungsträger in der Kirche großzügig über kirchliches Recht hinwegsetzten, ohne dass sie dafür gravierende Sanktionen fürchten mussten. Ratzinger war, allen anderen Meinungen zum Trotz, Antreiber für die Achtung und Anwendung des kirchlichen Strafrechts. Missbrauch ist auch eine Missachtung bestehender Rechtsnormen.
Jetzt kam mit dem Coming-Out queerer Menschen im kirchlichen Dienst noch eine weitere Konfusion hinzu. Sie ist etwas unsichtbarer. Diese zusätzliche Verwirrung geht allerdings nicht von den geouteten Erzieherinnen, Priestern, Mesnern und pastoralen Mitarbeiterinnen aus, sondern von Bischöfen und ihrem Personal, die so schnell als möglich kundtun, dass die Geouteten keine arbeitsrechtlichen Folgen zu erwarten hätten. Recht ist bei Leibe nicht alles und kann nie alle Wirklichkeit abbilden. Man mag es deshalb wünschen, dass Achtung und Besonnenheit walten.
Aber: Das kirchliche Arbeitsrecht ist in diesem Punkt kein Holzhammer, sondern reichlich differenziert. Bisher schrie die Bischofskonferenz jedes Mal auf, wenn Parteien oder Gerichte die Autonomie der Kirche im Arbeitsrecht angriffen. Jetzt ist es der Herr So und so oder Domkapitular XY, der signalisiert: „So richtig ernst nehmen brauchen wir dieses Recht nicht.“ Die Kirche nimmt sich selbst nicht so ernst. Warum sollten es dann andere tun? Ist die Kirche nicht gerade voll damit beschäftigt, zu verstehen, welche Folgen der „großzügige“ Umgang mit ihrem Recht hatte? Selbst wenn es in der Sache um zwei ganz verschiedene Dinge geht: Klärung, Entwirrung und Perspektive für Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und alle Gläubigen sieht anders aus.
Sichtbar ist, dass die katholische Kirche ihre Anthropologie, ihre Sicht von Leiblichkeit, Sexualität und Homosexualität nicht nur der außerkirchlichen Gesellschaft, sondern auch einem großen Teil ihrer nominellen Mitglieder nicht mehr verständlich machen kann. Das ist aber in anderen Bereichen des Christseins genauso: Die Sakramente, besonders Eucharistie und Beichte, das geweihte Amt, der Ehebund als Sakrament, die hierarchische Verfassung der Kirche und anderes haben bei vielen – nicht bei allen – ebenfalls ihre Plausibilität verloren. Es wird also nicht am einzelnen Thema liegen. Es geht wohl eher um Einsicht aus gelebter, gemeinschaftlicher Erfahrung des Glaubens. Nicht wenige Katho- liken, die ganz selbstverständlich mit der Kirche verbunden leben, schauen ungläubig auf die vor allem von Kirchenfunktionären und Theologen eröffneten
Baustellen. Eine Mischung von Zustimmung zur Reformbedürftigkeit – die Ecclesia semper reformanda ist inzwischen auch ein katholisches Axiom – und dem Gefühl „Das kann es aber nicht sein“, dominiert. Mit ihrer selbstverständlichen Glaubenssicherheit kommen sie sich wie in einem vergessenen Schreber- garten vor, während anderenorts die Straßen aufgerissen werden.
Von dieser Kirche mit ihren Milliardenhaushalten und Heerscharen von Perso- nal in den Ordinariaten und Einrichtungen – allein die katholische Caritas hat 600.000 Mitarbeitende – wurde gesagt, sie sei an einem toten Punkt angelangt. Es ist eine aufs Ganze gesehen superreiche und differenziert organisierte Kirche, die zweifellos viel Gutes tut, im eigenen Land, aber auch weltweit. Ihre Behörden können zugleich Millionenbeträge für Gutachten über den Umgang mit sexuellem Missbrauch ausgeben. Nicht nur deswegen, sondern auch wegen der immensen Mittel der Kirche überhaupt steht die Höhe die Zahlungen an die Missbrauchsopfer in der Kritik, ein paar tausend Euro hin oder her.
Unterdessen identifiziert sich zum Beispiel die Mehrheit ihrer Religionslehrer nicht mehr mit zentralen Aussagen der Kirche. Ein Bischof gibt im Interview zu Protokoll: Johannes Paul II. sagt zum Frauenpriestertum: Das ist definitiv ent- schieden. Ich aber sage euch: Die Frage ist offen. Für manche mag das eine neue Debattenkultur sein, die nun endlich auch in die festungsartigen Mauern der Catholica Einzug hält, für andere ist es schlicht die Auswirkung einer innerkirchlichen Diskursmacht, mit der schon Leo den Großen zu kämpfen hatte: Verwirrung.
Vor allem zeigt sie die Wahrheit des diagnostizierten „toten Punktes“. Denn die oberhirtliche Analyse beschränkt sich auf jene Seite der Kirche, die Banken, Finanzämter, Kommunen und Statistiken interessiert. Dieser Teil Kirche ist echt im Schlingern. Alles andere bleibt unterhalb des Radars der Kirchenbehörden und spielt in den Debatten keine Rolle. Das einfache Glaubensleben vieler Christen, die jeden Tag, vielleicht mehr schlecht als recht, das umzusetzen versuchen, was sie aus dieser ganzen Geschichte verstanden haben, deren Teil sie nun einmal sind. Es ist ein buntes Häuflein, das Rosenkranz betet, Kinder großzieht, Alte versorgt, die Kirche putzt, sich gegenseitig stützt, als selbständige Unternehmerin vom Gottesglauben her lebt und handelt, Migranten begleitet oder sich sozial und ökologisch engagiert, und das alles ohne Mandat und kirchlichen Gehaltszettel. Hier ist wenig von toten Punkten zu hören, obwohl sie bei Kollegen und Freunden für alles und jedes in der Kirche geradestehen müssen. Vor ein paar Jahren konnte man in einer Bistumszeitung einen kleinen, interessanten Schlagabtausch verfolgen. Es war ein Artikel er- schienen, der endlich mehr Macht für die Frauen in der Kirche forderte, die aufhören sollten nur Putzfrauen und Blumenfrauen zu sein. Eine Leserbriefschreiberin konterte: Sie sei durchaus sehr wichtig mit ihrem Blumenschmuck.
Schließlich mache er mindestens so viel für den Gottesdienst der Gemeinde aus wie die Predigt des Pfarrers. Das gefällt natürlich nicht jedem. Es kann als Argument missbraucht werden und entwertet nicht Klagen über Machogehabe von Klerikern, die Dienst mit Bedienung verwechseln. Aber es zeichnet etwas vom dem nach, was von allen Amtsträgern meist unterschätzt wird: das tägliche, unscheinbare Leben aus dem Glauben.
In Deutschland wird die Kirche vom Missbrauchsskandal überrollt und gebeutelt. Völlig zurecht. Es gibt zwar ungerechte Verurteilungen, weil sie pauschal sind, weite Teil der gesamtgesellschaftlichen Realität ausblenden und zum Teil sehr vergesslich sind, was eigene, frühere Irrläufer betrifft, siehe Grüne Partei. Aber summa summarum ist die Unverhältnismäßigkeit auch eine Quittung für viel Arroganz und Ignoranz, für die Aura der Unberührbarkeit und für die vielen Besitztümer, die nicht angetastet werden. Beim Geld hört die Buße auf, denn gerade eine Kirche, wie sie sich viele der reformierenden Funktionäre vorstellen, bräuchte viele finanzielle Mittel. Deswegen gehen die aktuellen Reforminitiativen an alles in der Kirche, nur nicht an den schnöden Mammon und die Art, wie er hereinkommt. Die Missbrauchsopfer spüren instinktiv, dass es mit dem Wort „Entschuldigung“ nicht getan ist.
Der heute zu Unrecht geschmähte Papst Benedikt XVI. hätte der Kirche seines Heimatlandes mit seiner „Entweltlichungsrede“ an einem schönen Spätsommer- tag 2011 in Freiburg eigentlich eine Hilfe sein können. Aber die Rede verschwand in den Schubladen und Erinnerungsbildbänden. Mit ein bisschen Kopf- schütteln wurde sie noch am selben Tage als persönliche Meditation eines sonderbaren Mannes charakterisiert, der mit der Komplexität der deutschen Kirche fremdelt. Sie ist seine am besten ignorierte Rede. Er riet der Kirche in Deutschland nichts weniger, als auf ihre Privilegien zu verzichten. Im O-Ton heißt es: „Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben.“
Hier – und auch das wird leicht ausgeblendet – sind sich Franziskus und sein Vorgänger ganz nahe. Benedikt verwies auf die geschichtliche Erfahrung der Säkularisation am Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich durch die Enteig- nungs- und Annexionspolitik der deutschen Fürsten Macht und Reichtum der Kirche quasi über Nacht in Luft auflösten. Ratzinger sah darin keine Katastrophe, auch wenn die Kirchen Pferdeställe wurden und die kostbaren Folianten aus den Klosterbibliotheken Wege durchs Moor pflastern mussten. Er wagte vor den Ohren der „engagierten“ und oft um Einfluss und Ansehen der Kirche besorgten Katholiken den Satz: „Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.“
Er hat Recht behalten und auch nicht. Heute hat die Kirche nicht mehr die Wahl, ob sie freiwillig auf ihre Sonderstellung und Sonderrechte verzichtet oder nicht. Die Geschichte kommt ungefragt „zu Hilfe“. Dass das Verhältnis von Kirche und Staat substantiell noch immer auf dem mit Hitler geschlossenen Kon- kordat von 1933 basiert, ist ebenfalls kein Ruhmesblatt, weder für den Staat noch die Kirche. In Italien wurde das Mussolini-Konkordat schon vor vierzig Jahren durch eine neue Vereinbarung ersetzt. Es mag noch eine Zeit so weitergehen, aber in weniger als einer Generation werden ihr die letzten Privilegien aus der Hand geschlagen sein. Die Uhr tickt. Das, nicht konservatives Brem- sen, wird viel synodales Papier zu Makulatur machen. Also Kirche am Ende?
Alles nur Verwirrung? Eine „verfehlte Christenheit“, wie Charles Péguy es nannte?
Nicht ganz. Die Kirche ist nicht nur die Kirche in Deutschland. Hier leben gerade einmal 1,7% aller Katholiken weltweit. Und vor allem – siehe das Beispiel der Blumenschmückerin – sie lebt nicht in und nicht durch die Institutionen, so hilf- reich und auch segensreich einige wirken mögen. In mehr als hundert Ländern der Welt ist sie eine Märtyrerkirche, in der Christsein lebensgefährlich ist. Sie trägt auch bei uns jenes jüdisch-christliche Erbe in sich, das die Gesellschaft – vielleicht ohne zu wissen und ohne es wollen – für wirkliche Menschlichkeit braucht. Das durch unendliche Katastrophen hindurch gegangene Judentum könnte auch hier eine gute Lehrerin sein.
Auf kleine Gemeinden, geistliche Gemeinschaften, kirchliche Bewegungen und spirituelle Initiativen, die außerhalb des kirchensteuerfinanzierten Systems ent- standen, wurden jahrelang von den Kirchenbehörden herabgesehen. Ihre manchmal schlichte Volksfrömmigkeit gilt manchen Prälaten und Professoren als zu wenig intellektuell, weltfremd, wenn nicht gar unanständig missionarisch.
„Fundamentalistisch“ ist dann die letzte der Urteilsformeln. Kirchenkritikern wur- den sie gern als Futter vorgeworfen, nach dem Motto: „Das gibt es auch bei uns, aber wir sind nicht so.“ Heute sind ihre Anhänger vielfach die einzigen, zumeist unaufgeregten Träger des alltäglichen kirchlichen Lebens und freuen sich einfach ihres Glaubens. Das Wort „unanständig“ hat sich stattdessen in das eigene Gebälk der Konkordatskirche eingefressen.
Politisches Kalkül und Raffgier lösten den staatlichen Raubzug, genannt „Reichsdeputationshauptschluss“, 1803 aus. Damit ging eine, im Grunde seit Konstantin dauernde Selbstverständlichkeit im Verhältnis von Kirche und Macht, Glaube und Gesellschaft abrupt zu Ende, zumindest in ihren äußeren Formen. Man soll mit großen Worten historischer Einordnung vorsichtig sein. 2010, das Jahr, in dem die öffentliche Diskussion um Missbrauch in der Kirche aufkam, wird aber das „1803“ des 21. Jahrhunderts sein – positiv in der Wirkung, wenn die katholische Kirche es richtig zu deuten weiß. Die mit dem spätantiken Wort „Verwirrung“ benannte Lage der Kirche in unserem Land dürfte eine neue Konstantinische Wende einleiten, nur in eine andere Richtung. Den Glaubenden, die vertraut mit Geschichte und Verheißung sind, müsste deswegen nicht bange sein.