Der Antinatalismus ist eine humanistische Moraltheorie, die eine von der Philosophie weitgehend verdrängte Frage aufnimmt: die Frage, OB Menschen existieren sollen. Während es zahllose Stellungnahmen zur Frage gibt, WIE die bereits existierenden Menschen leben sollen, haben sich nur wenige Denker mit der Frage beschäftigt, ob es eigentlich moralisch vertretbar ist, neue Menschen zu zeugen. Der Antinatalismus stellt in Frage, was selbstverständlich scheint: dass auch künftig Menschen gezeugt und geboren werden sollen. Auf den ersten Blick könnte diese Moraltheorie damit bedrohlich scheinen. Auf den zweiten Blick aber nimmt sie das folgende POSITIVE ZIEL und das nachstehende GEBOT ernster als andere Moraltheorien:
POSITIVES ZIEL
Keine Sterbenden mehr. Eine Welt ohne Kriege, Massenmorde und Krankheiten. Nirgendwo Schmerzensschreie. Und niemand, der Hunger oder Durst leidet.
Wer würde nicht unterschreiben, dass jede Person das ihr Mögliche tun sollte, um dieses Ziel zu erreichen?
GEBOT
„Handle nicht so, dass eine Person infolge deines Handelns sterben muss.“
Die allermeisten Personen beanspruchen für sich, stets so zu handeln, dass infolge ihrer Handlungen niemand sterben muss. Nun hat aber jede Person, die einen Menschen zeugte, bereits so gehandelt, dass ein Mensch als Konsequenz dieser Handlung sterben muss: das eigene Kind. Und jedes Paar, das entschlossen ist, einen Menschen zu zeugen, hat den Entschluss gefasst, so zu handeln, dass ein Mensch (das eigene Kind!) als Konsequenz dieser Handlung sterben muss.
Die Erreichbarkeit des positiven Ziels
Um eine Welt ohne Tod und Verderben herbeizuführen, wäre nicht viel zu tun. Genau genommen wäre gar nichts zu TUN, sondern etwas zu UNTERLASSEN: die Fortpflanzung. Stellten alle jetzt lebenden Menschen auf einen Schlag die Fortpflanzung ein, so würde es in gut 100 Jahren auf der Erde keine Kriege, Krankheiten und sonstigen menschlichen Missstände mehr geben.
Wer gerade eben, nur wenige Zeilen weiter oben in diesem Text, noch bereit war, zu unterschreiben, jede Person sollte das ihr Mögliche tun, um eine Welt ohne menschliches Leid herbeizuführen, wird jetzt vielleicht sagen: Dieser Preis ist zu hoch! Um zu erreichen, dass es keine leidenden Menschen mehr gibt, dürfen wir nicht die Menschheit aussterben lassen! Dagegen sagen Antinatalisten: Der Preis, den Menschen bei einer Fortsetzung der Menschheitsgeschichte zu zahlen haben, ist unzumutbar! Deshalb sollten wir die Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit aussterben lassen.
Kulturgeschichtlicher Vorläufer des philosophischen Antinatalismus ist ein religiöser Antinatalismus, dem wir im Jainismus, Buddhismus, Hinduismus und dem Christentum begegnen. Oberstes Ziel eines Anhängers der ersten drei Religionen ist es, aus dem Kreislauf des Geborenwerdens und Sterbenmüssens auszutreten. Jesus, seine Apostel und viele Kirchenväter lehrten oder legten nahe, dass es in Anbetracht des wertlosen irdischen Daseins und kommenden Himmelsreichs müßig ist, Menschen in diese niedere Welt hineinzuzeugen.
Im Unterschied zum religiösen Antinatalismus, der an Glaubensvorstellungen gebunden ist, versucht der philosophische Antinatalismus mit Argumenten zu überzeugen. Argumente müssen ihre Überzeugungskraft allein auf dem Boden der Vernunft entfalten. Das heißt: Wer ein auf den ersten Blick überzeugendes Argument vorbringt, muss damit rechnen, dass ein Gesprächspartner mit einem für ihn (den Gesprächspartner) überzeugenderen Gegenargument antwortet. Eine Einigung kann erstens nur dann erzielt werden, wenn die Diskutierenden keine doktrinären Standpunkte einnehmen. Doktrinär sind Standpunkte der Art: Dies ist richtig, weil es schon immer so war, oder weil es in der Natur auch so ist oder: weil fast alle anderen es auch so machen. Zweitens kann eine Einigung nur dann erzielt werden, wenn es Gesprächspartner A (oder B) gelingt, in den Argumenten von B (oder A) Implikationen zu entdecken, die B (oder A) unannehmbar scheinen, sodass B (oder A) seine anfängliche Meinung ändert. Mit seinem Gebot, die Zeugung weiterer Menschen zu unterlassen, stößt der Antinatalismus unweigerlich auf widersprechende Gegenargumente. Nennen wir diese Argumente „Pronatalistische Argumente“. Betrachten wir einige pronatalistische Argumente und sehen wir, wie ein Antinatalist darauf antwortet:
Pronatalistisches Argument 1: Antinatalisten mischen sich in etwas ein, was reine Privatsache ist.
Antwort: Dies ist ein Vorwurf, den man nicht bloß Antinatalisten, sondern jedem Menschen machen könnte, der versucht, Antworten auf ethische Fragen zu finden, auf Fragen nach dem richtigen Tun und Unterlassen. Zu philosophieren bedeutet aber gerade, das, was ist und was intuitiv einleuchten mag oder von der Mehrheit praktiziert wird, in Frage zu stellen und sich selbst mit in die Frage hineinzustellen.
Pronatalistisches Argument 2: Wenn wir auf dem Wege der Zeugungslosigkeit verhindern, dass zusätzliche Menschen Leid erfahren, dann unterbinden wir zugleich, dass neue Menschen Glück erleben. Leiderfahrungen werden durch Glückserfahrungen kompensiert.
Antwort a): Machen wir ein Gedankenexperiment. Man versetze sich gedanklich in eine Lage höchsten Glücks, das man selbst für die Dauer einer Stunde, eines Tages oder Jahres erlebt hat oder dass andere erlebt haben mögen. Anschließend versetze man sich in einen Zustand größter Schmerzen oder Nöte, die man selbst oder andere Personen während desselben Zeitraums durchgemacht haben mögen. Wären wir etwa bereit, den grässlichsten Zahnschmerz oder sonstigen Nerven- oder Krebsschmerz auch nur eine Stunde, geschweige denn Tage oder Jahre zu ertragen, wenn man uns anschließendes ebenso langes höchstes Glück in Aussicht stellt? Kennen wir überhaupt Menschen, die ein Jahr lang, im höchsten Glück dahinschwebten? Menschen, die jahrelang entsetzliche Schmerzen oder Nöte litten, gab und gibt es leider zuhauf.
Antwort b): Wurde etwa das Leid der Insassen von Auschwitz oder Buchenwald durch das Glück derjenigen kompensiert, die das Deutsche Wirtschaftswunder erlebten?
Pronatalistisches Argument 3: Wir müssen der Menschheit noch eine Chance geben.
Antwort: „Die Menschheit“ scheint ihre Chancen gehabt und verspielt zu haben. Das große Versprechen lautete: Mit der ungeheuren Steigerung der Produktivkräfte und der technischen und medizinischen Fortschritte der vergangenen 50, 100 oder 150 Jahre werden wir Hunger und Elend schon in Kürze zum Verschwinden gebracht haben. Leider ging mit der Steigerung der Produktivkräfte immer auch eine Entwicklung der Destruktivkräfte einher. Allzu oft waren erstere bloße Trittbrettfahrer Letzterer. Seit der Russischen und der Chinesischen Revolution, mit Zigmillionen Opfern, den Weltkriegen, seit dem Völkermord an den Armeniern, den Kambodschanern unter Pol Pot, den Tutsis in Ruanda oder den Kongokriegen, seit Auschwitz und dem Gulag ist die Bewährungsfrist für die Menschheit abgelaufen. Das Experiment „Fortsetzung der Menschheitsgeschichte“ – mit Milliarden Mitwirkenden – ist in Gestalt dieser Zivilisationsbrüche zu häufig gescheitert als dass man es fortsetzen dürfte. Wer sich in Anbetracht der bisherigen Geschichte für ihre Fortsetzung ausspricht, nimmt billigend in Kauf, dass die für Milliarden Menschen unerträgliche Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft fortgeführt wird. Der Antinatalist kann fragen: Wie sollte dies gerechtfertigt werden? Hierauf kann der Pronatalist antworten:
Pronatalistisches Argument 4. Es ist besser, miserabel zu leben als gar nicht zu leben.
Die Gegenfrage lautet: Für WEN sollte es besser sein, miserabel zu leben als gar nicht zu leben? Bevor ich existierte, war ICH nicht da, für den es hätte besser sein können, zu existieren als nicht zu existieren. Wer behauptet „Es ist besser, miserabel zu leben, als gar nicht zu leben“ ist falsch informiert; denn für ein Nichts und für einen Niemanden gibt es kein Besser oder Schlechter.
Um sagen zu können, dass es für jemanden besser ist, zu existieren als nicht zu existieren, müsste man schon einen Siebten Himmel ins Auge fassen, in dem die im Anfang der Zeiten gottgeschaffenen Seelen hausen, die sodann mit der Zeugung auf die Erde gelangen. Tatsächlich kennt der Talmud diesen Siebten Himmel, er ist aber kein philosophisches Argument. Nichtexistierende Menschen sind in den Wunschvorstellungen von Personen präsent, die Eltern werden möchten. Außerhalb davon haben sie kein Dasein. Auf einen „Menschenniemand“, etwas, das nicht ist, finden die Prädikate „gut“ oder „schlecht“ keine Anwendung.
Pronatalistisches Argument 5. Wenn man sie danach fragt, sagen viele Menschen, sie würden ganz gern leben. – Warum sollte es moralisch fragwürdig sein, dass sie gezeugt wurden?
Antwort: Wer antwortet, gern zu leben, tut dies meist aus einer erträglichen Lebenslage heraus. Allerdings gerät so gut wie jede Person in Situationen, die so unerträglich sind, dass sie dem Wunsch äquivalent sind, die eigenen Eltern hätten sich nicht fortgepflanzt: Weil die betreffende Person die intolerablen Verluste, Ängste, Seelenqualen, körperlichen Schmerzen oder Erniedrigungen dann nicht hätte durchmachen müssen.
Des Weiteren verläuft das zum Leben gehörende Sterben der wenigsten Menschen erträglich. Sollen wir denen unter ihnen, die ein angenehmes Leben hatten, zurufen: „Reißen Sie sich zusammen, ihr bisheriges Leben verlief doch ganz passabel!“? Dies wäre zynisch. Verantwortlich und moralisch zu handeln heißt hingegen, so zu handeln, dass keine Menschen in unerträgliche Sterbenssituationen geraten.
Pronatalistisches Argument 6. Wem das Dasein nicht gefällt, der kann doch Selbstmord begehen!
Wer so argumentiert, vergisst, dass unsere psychischen Fliehkräfte zumeist schwächer sind als die biologischen Anziehungskräfte, die uns im Dasein halten: Wer seine Existenz beenden will, muss die Todesangst überwinden, die ihn darin festhält. Der Satz: „Wenn dir dieses Dasein nicht gefällt, dann beende es doch!“ ist daher ein kaum zu überbietender Zynismus. Auch deshalb, weil dieses Dasein nicht selbstgewählt, sondern elternverursacht ist.
Pronatalistisches Argument 7. Warum sollten Menschen sich nicht fortpflanzen, da die Fortpflanzung doch etwas ganz Natürliches ist?
Antwort: Menschen sind moralfähige Kulturwesen. Anders als Tiere können wir hinterfragen, ob das, was unsere Natur uns zu tun gebieten mag, richtig oder falsch ist und wir können alles „Natürliche“ kulturell überformen.
Pronatalistisches Argument 8. Was soll aus all den (Nutz-)Tieren werden, wenn es dereinst keine Menschen mehr gibt? Darf der Mensch die Tiere einfach allein lassen?
Antwort: Ein überzeugter Antinatalist wird alle empfindenden Wesen berücksichtigen und sich vegetarisch ernähren, um dazu beizutragen, dass möglichst wenige leidensfähige neue Nutztiere gezüchtet, geboren, gemästet und geschlachtet werden. Eine sich von der Erde zurückziehende Menschheit wäre vielleicht auch imstande, die Wildtiere auf eine für sie leidfreie Weise „mitzunehmen“, etwa durch Sterilisation.
Schluss
Gemäß antinatalistischer Moraltheorie ist es geboten, sich nicht fortzupflanzen. Denn das Ergebnis jeder gelungenen Fortpflanzung ist nicht nur, dass ein weiterer Mensch sterben muss. Er muss auch das gesamte Leidens- und Leistungspensum durchmachen, das für einen Menschen seiner Zeit und Gesellschaftsschicht typisch ist. Als da sind: Kinder- und Erwachsenenkrankheiten, etwa 10 Jahre Schule gefolgt von Jahrzehnten der Erwerbsarbeit. Und wer einmal da ist, ist (von den eigenen Eltern!) dazu verurteilt, den Tod der Eltern, geliebter Verwandter, von Freunden und Haustieren mitzuerleben. Außerdem wird jeder Einzelne von seinen Eltern in ein bestimmtes Zeit- und Naturgeschehen hineingestellt, dem er sich nicht entziehen kann und das – aufs Ganze gesehen – seit Jahrtausenden zu den menschenverursachten und natürlichen Großkatastrophen führt, von denen die Geschichtsbücher berichten, solange die Überlieferung zurückreicht.
Wer etwas scheinbar so Selbstverständliches wie die menschliche Fortpflanzung begrüßt oder praktiziert, nimmt nicht nur in Kauf, dass den hinzukommenden Menschen ein elender Tod beschieden ist, sondern billigt, dass die Interaktionen der neuen Menschen mit dem geschichtlichen und politischen Erbe und dem Zustand der Natur die bisherige Gattungsgeschichte mit ihren Milliarden Opfern in eine unabsehbare Zukunft fortsetzen. Dies sollte Grund genug sein, dass eine Person ihre bislang positive Sicht menschlicher Fortpflanzung revidiert.
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