Die Rede, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920-2015) am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsende 1945 im Deutschen Bundestag gehalten hat, ist nach wie vor im INTERNET verfügbar und kann jederzeit nachgelesen werden. Gerade in diesen Wochen, wo erneut über das Kriegsende und seine Folgen diskutiert wird, ist es wichtig, zu wissen, was der Bundespräsident damals gesagt hat. Gewöhnlich wird nur dieser eine Satz zitiert: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Selbst der unmittelbar darauf folgende Satz: „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ ist schon nicht mehr bekannt.
Dieser Satz ist zweifellos richtig, doch ist er nur die halbe Wahrheit und klingt den Opfern wie Hohn im Ohr! Einige Sätze davor in der Rede Richard von Weizsäckers liest man einen Satz, der oft verschwiegen wird, weil er scheinbar den anderen aufhebt: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Und danach wird andeutungsweise aufgezählt, warum das so ist. Später in der Rede heißt es dann: „Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not…“. Man hat als Leser den Eindruck, der einstige Bundespräsident wollte in seiner Rede keine Bevölkerungsgruppe im Nachkriegsdeutschland unerwähnt lassen, um es mit niemandem zu verderben.
Erika Steinbach (1943), Präsidentin des in Bonn residierenden „Bundes der Vertriebenen“ 1998/2014, muss solche Rücksichten nicht nehmen. In einem Interview mit dem SPIEGEL vom 2. Mai 2015 sprach sie unumwunden davon, für welche Gruppen der 8. Mai 1945 kein „Tag der Befreiung“ war: „Mit dem Abstand von 70 Jahren lässt sich deutlich erkennen, dass die Freiheit am 8. Mai 1945 nicht für alle kam. Nicht für Millionen Vertriebene, nicht für die Masse der Deutschen in Stalins Lagern und auch nicht für die Menschen vieler Völker östlich der Elbe in ganz Ostmitteleuropa.“ Selbst DDR-Schönredner Friedrich Schorlemmer kann nicht umhin, in einem langen Artikel der einstigen SED-Zeitung „Neues Deutschland“ vom 8. Mai das unerhört grausame Schicksal der Ostpreußen, Schlesier und Pommern zu erwähnen: „Wir werden nicht das Leiden verschweigen dürfen, das viele Menschen nach 1945 zu ertragen hatten, zumal die über 15 Millionen aus den früheren Ostgebieten Vertriebenen.“
Man könnte noch anfügen, auch für die Mitteldeutschen, die vier Jahre nach Kriegsende, am 7. Oktober 1949, ohne darüber abstimmen zu können, in den SED-Staat gezwungen wurden und vier lange Jahrzehnte bis zum Mauerfall am 9. November 1989 in diesem Unrechtssystem leben mussten, bedeutete der 8. Mai 1945 die bedingungslose Auslieferung an die Sowjetherrschaft. Wobei noch einschränkend zu sagen ist, dass die schrecklichen Zustände in Mitteldeutschland, anders als in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, durch die Nachbarschaft eines demokratischen Staatswesens, der Bundesrepublik Deutschland, abgemildert wurden. Andernfalls wären Oppositionelle wie Robert Havemann, Erich Loest, Reiner Kunze, Wolf Biermann erbarmungslos umgebracht worden!
Und wer spricht noch von den Hunderttausenden von Mädchen und Frauen aus den ostdeutschen Provinzen, die während der Flucht aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern von Rotarmisten vergewaltigt worden, aufgehetzt durch einen Aufruf des Sowjetschriftstellers Ilja Ehrenburg (1891-1967) „Brecht den Rassehochmut der germanischen Frau!“? (14. März 1945).
Wer spricht noch von der Besetzung der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1940 durch die „Rote Armee“, die auch mit zahllosen Vergewaltigungen einherging? In allen diesen besetzten Ländern von Estland bis Bulgarien wurden 1941 die intellektuellen Oberschichten, marxistisch gesprochen: die „Bourgeoisie“, nach Sibirien deportiert, wo sie massenweise verhungerten oder erfroren. Die wenigen Überlebenden, die zurückgekehrt waren, waren bis zum Ende ihrer Tage gezeichnet und als Zeitzeugen ausgeschaltet. Erst nach dem Untergang des Kommunismus konnten sie offen über ihre Erlebnisse sprechen. Die lettische Politikerin Sandra Kalniete, die 1952 in Sibirien geboren wurde, hat die Verschleppung ihrer Eltern in ihrem Buch „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“ (2005) eindringlich beschrieben. Und die litauische Ärztin Dalia Grinkeviciute (1927-1987) hat es nicht mehr erleben dürfen, dass ihre Heimat ein freies Land wurde. Sie wurde zweimal nach Sibirien deportiert, schrieb ihre Erlebnisse an diese Zeit auf und vergrub sie im Garten in Kaunas. Sie hat ein Viertel ihres Lebens in Gefängnissen und Straflagern verbracht. Ihr Buch darüber erschien 1997 in Litauen, die deutsche Fassung unter dem Titel „Aber der Himmel – grandios“ (2014) .
Was von Erika Steinbach in ihrem Interview nicht ausdrücklich erwähnt wurde, was aber die Folge von Flucht und Vertreibung war, ist, dass Deutschland mit dem Kriegsende 1945 ein Viertel seines Territoriums verloren hat. Das waren nun keine gemischtsprachigen Gebiete wie in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen, die nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und Polen aufgeteilt worden waren, sondern fast durchweg Regionen mit überwiegend deutscher Bevölkerung und einer verschwindend niedrigen polnischen Minderheit in Ost-Oberschlesien und Süd-Ostpreußen, wo 1920/21 auch Abstimmungen stattfanden, die alle zugunsten Deutschlands ausgingen. Mit einem Federstrich wurden auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte 1945 Schlesien, Ost-Brandenburg, Hinterpommern, Ostpreußen, wo seit 700 Jahren Deutsche lebten, an Litauen (Memelland), Russland (Nord-Ostpreußen mit dem eisfreien Hafen Königsberg-Pillau) und Polen übergeben.
Allein die Westverschiebung Polens, die ein historischer Unsinn war, was einsichtige Polen heute auch bestätigen, wurde damit begründet, dass der polnische Nachkriegsstaat die Flüchtlinge aus den „ostpolnischen“ Gebieten, die 1939 russisch geworden waren, hätte unterbringen müssen. Dort aber waren die Polen nur eine, wenn auch starke, Minderheit. Nach ihrer Kopfzahl war sie freilich nicht zu vergleichen mit den zwölf Millionen aus dem östlichen Reichsgebiet vertriebenen Deutschen. Sonst hätte die polnische Regierung nicht nach 1945 in Zentralpolen für die Besiedlung der „wiedergewonnenen Westgebiete“ werben müssen. Diese „polnischen Ostgebiete“ waren erst 1920 durch den polnischen General Jozef Pilsudski (1867-1935) erobert und dem polnischen Staat einverleibt worden. Zu beachten ist auch, der Mainzer Osteuropa-Historiker Gotthold Rhode (1916-1990) hat das einmal in einem Aufsatz beschrieben, dass die Bevölkerungsverluste Polens durch Kriegseinwirkung derart hoch waren, dass der neu entstandene Staat der deutschen Ostgebiete nicht bedurft hätte!
Mit dem 8. Mai 1945 ist auch die ostdeutsche Kultur untergegangen! Das mag merkwürdig klingen, da die drei Kritiken Immanuel Kants (1724-1804) in der Philosophiegeschichte noch immer einen hohen Rang einnehmen und Texte Joseph von Eichendorffs (1788-1857) und Gerhart Hauptmanns (1862-1946) nach wie vor an unseren Gymnasien gelesen werden. Das aber trifft den Kern dessen nicht, was hier geschieht: Kultur und Geschichte Ostdeutschlands versinken in der Geschichtslosigkeit, die deutschen Provinzen, auf die sie bezogen waren, existieren nicht mehr. Die Kulturträger aus diesen Provinzen sterben dahin, und nur manchmal trifft man einen jüngeren Deutschen, der sich wundert, dass Deutschland vor 70 Jahren viel größer war als heute.
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