Was Europa jetzt vom Judentum lernen sollte

Rezension Hyam Maccoby

Maccoby Cover

Was hat der uralte Mythos von Judas mit unserem heutigen Europa zu tun? Ein Text des bereits 2004 verstorbenen, sehr profilierten britischen Judaisten Hyam Maccoby, der jetzt – fast dreißig Jahre nach seiner Entstehung – unter dem Titel „Judas Ischariot und der Mythos vom jüdischen Übel“ bei Hentrich & Hentrich auf Deutsch erschienen ist, zeigt nicht nur erstaunliche Aktualität, was die Tagespolitik betrifft, sondern auch eine faszinierende analytische Schärfe durch zwei Jahrtausende hindurch. Die Verlegerin, Nora Pester, spricht im Online-Magazin „Buchmarkt“ von „neuen, ja spektakulären Perspektiven auf Judas Ischariot“.

Wohl wahr! Beginnen wir die Besprechung dieses solide gebundenen und zeitgemäß aufgemachten Bandes aber dort, wo auch der Autor beginnt: mit der Heiligen Schrift, der biblischen Überlieferung. Im Judentum sind, ganz wie im Christentum, alle Menschen Akteure in einem Heilsplan Gottes, der einen Anfang hatte und der ein Ziel kennt. In diesem Heilsplan stehen die historischen Figuren des Judas und der Rabbiners Jesus in einem besonderen Zusammenhang. Maccoby verweist auf die in der Kulturgeschichte öfter zu findende Dualität zwischen ungleichen Brüdern, angefangen bei Kain und Abel, aber auch bei Osiris und Set oder bei Baal und Mot. Und wer dies Buch in der Erwartung zur Hand nahm, das es sich hier lediglich um eine Apologie des Judentums gegenüber christlicher Wirkmacht handele, wird sich eines Besseren belehren lassen müssen.

Höchst interessant ist es dabei zweifellos, über die Wandlung des Judas nachzudenken – wohl auch um der Person selbst, eher aber, weil hier kulturelle Meistererzählungen in Personen hineindestilliert werden. So wenig, wie es dem Judentum akzeptabel erscheint, dass ein griechisch-hellenistisch geprägter Rabbiner ihr Erlöser sein soll, so schwierig musste es sein, römischen Bürger zu vermitteln, dass ein nach römischem Recht formal zurecht gekreuzigter Umstürzler aus einer fernen Provinz nun die Staatsreligion im von Rom aus regierten Weltreich bestimmen sollte. Zwischen diesen Polen der Unvereinbarkeit bewegen sich der Verrats-Mythos eines Judas und der Erlösungs-Mythos Jesu Christi. Dass übrigens diese beiden kulturellen Meistererzählungen gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist die Sichtweise des Autors. Der Rezensent, so interessant das Gedankenexperiment auch sein mag, schließt sich dem nicht an. Wobei es der Autor jedem Leser durchaus selbst überlässt, hier seinen eigenen Standpunkt zu finden.

Maccobys Ausführungen sind interessant vor allem im Bezug auf das Judentum, für dessen Verständnis er hier ein bedeutendes Werk geschaffen hat. Das Christentum sieht er aus einer Außenperspektive. Das ist zwar für den christlich geprägten Rezensenten höchst reizvoll, aber die innerchristlichen Heilsmechanismen – wie etwa das wirken des Heiligen Geistes – werden von ihm nicht in seine Überlegungen einbezogen. Deswegen fällt sein Urteil auch einseitig aus. Das aber – oben wurde es bereits erwähnt – darf auch so sein. Es nimmt diesem Werk nichts von seiner intellektuellen Brillanz.

Die Faktenfülle, die Maccoby zusammengetragen hat, ist enorm. Die reichen Überlieferungen des talmudischen Judentums haben dabei natürlich ihren Anteil, und viele Schilderungen sind auch gar nicht von der Hand zu weisen – nur, dass es eben in vielen Fällen auch eine andere Deutung geben kann. Streckenweise gleitet der Autor etwas ins anekdotische Erzählen hinüber, so etwa im Kapitel 6, das passenderweise auch „Der Beginn der Folklore“ übertitelt ist; bei einem ernsten, konservativen Lutheraner wird er damit weniger punkten können. Doch immer wieder finden sich auch hier sehr treffende Wendungen, so etwa exakt in diesem Kapitel, wo Maccoby notiert, dass jüdische Gelehrte ab einem bestimmten Zeitpunkt begannen, „Jesus (…) als loyalen Juden zu betrachten, dessen messianischer Anspruch von der christlichen Kirche als Behauptung persönlicher Göttlichkeit missdeutet worden war“. Ebenso der Hinweis, dass Jesus sich selbst nicht als Religionsgründer sah. Von christlicher Seite könnte eingewandt werden, dass die Sicht auf Jesus, so, wie ihn Menschen zu sehen vermögen, hier korrekt wiedergegeben ist, und dass alles, was darüber hinausgeht, dem Wirken des Heiligen Geistes zuzuschreiben wäre. Wobei mit diesem Textbeispiel nur illustriert werden soll, eine wie reiche Quellen an Anregungen dieses Buch darstellt.

Mit viel Ernst und Nachdenklichkeit ist das Kapitel 7 zu lesen, in dem Maccoby unter dem Titel „Judas und die Ausbreitung des Antisemitismus“ eine zerstörerische Wirkung der Judas-Erzählungen erkennt und thematisiert: den weltweiten und seit zwei Jahrtausenden andauernden Hass auf Juden. Hier gibt es viel zu lernen, auch über den rassisch begründeten Antisemitismus, der ab dem 19. Jahrhundert zu einem grassierenden Übel und schließlich zu einem verheerenden Sprengstoff für ganz Europa wurde und der in Shoah und Zweitem Weltkrieg seine diabolische Wirkung ungebremst entwickelte. 

Hyam Maccoby schreibt schon ab Beginn in einem durchaus forschem Ton, doch das erscheint gar nicht unpassend. Es ist schließlich sein Ziel, einen Mythos anzugreifen und zu entzaubern. Den Mythos eines Judas, der die Verkörperung alles Bösen ist. Und zwar nicht irgendwann und irgendwo, sondern es Bösen in jedem Menschen, ganz überzeitlich. Zeigen möchte Maccoby, dass dieser Mythos menschengemacht ist – von christlicher Seite. Unweigerlich kommt der Leser – zumal, wenn ein christlicher Hintergrund vorhanden ist – dazu, grundsätzlich über die Unterschiedlichkeit des Gleichen, oder doch zumindest des Vergleichbaren, nachzudenken.

Einige Kapitel bei Maccoby lassen sich dabei recht gut mit der Theologie Benedikts XVI. abgleichen, aber die Heranziehung dieses Jahrhundert-Theologen soll nicht gegen den engagierten Verteidiger des Judas gewendet werden – eine ausgewogene Sicht sei vielmehr gewagt. Bei Benedikt ist der auferstandene Christus der personifizierte Tempel Gottes, der als moralisches Gesetzt in allen Menschen wohnt oder in ihnen zu wohnen trachtet – die Existenz eines Tempels, der aus Stein erreichtet wurde, erscheint nicht mehr notwendig. Die logische Folge daraus ist, dass dieser Tempel tatsächlich nicht mehr existent ist. Für den kulturellen Mechanismus der Vergöttlichung, der sich im frühen Christentum vollzogen hat, findet sich eine Vorlage in der Erhebung des Tiberius, der von seinem Vater Octavian, der als Augustus göttliche Verehrung beanspruchte, zum Gott erhoben wurde. Dies geschah ohne das Wirken des Heiligen Geistes, es kommt daher für Christen nicht in Betracht, hier eine irgendwie geartete Göttlichkeit anzuerkennen. Es ist aber diese kulturelle Folie, auf der Geschichte Jesu Christi ebenfalls geschrieben worden sein könnte. Diese Vergöttlichung jedoch ist – unter dem Aspekt der Sendung des Heiligen Geistes – eine Meistererzählung, die dazu führt, dass sich Menschen moralisch bessern, indem sie sich bekehren.

Zurück zur Judas-Problematik. Nicht anders ist es mit diesem Narrativ, wenn der Protagonist vom Vorwurf des Verrates gereinigt wird – es bleibt ein Lehrstück zur moralischen Verbesserung des eigenen Handelns übrig. Zugleich zeigt Maccoby mit einiger Berechtigung auch Unklarheiten und Ungereimtheiten in den christlichen Überlieferungen auf. Seine christlichen Leser weist er darauf hin, wie stark im Christentum der Hellenismus tradiert wird, der letztlich auch Rom geistig bestimmen sollte, wird zugleich dem Judentum seine prägende moralische Kraft zurückgegeben. Diese Kraft aber führt dazu, dass sich Menschen, die einzig an den Gott des Alten Testaments glauben, so wie es ihnen der Talmud vorgibt, moralisch bessern und ein gottgefälliges Leben führen.

Ob über talmudische Regeln oder durch die Gleichnisse Jesu – es gibt offenkundig zwei Wege, zu einem moralisch besseren Leben zu kommen. Die Ringparabel Nathans des Weisen kann für diesen beiden Wege als „intakt“ gesehen werden. Und das ist ein großes Glück – nach der Shoah. Es ist ein und derselbe Gott, der unverfälscht auf zwei unterschiedlichen Wegen den Menschen, die ihn fürchten, ein besseres und sogar ein ewiges Leben verheißt. Gott kommt ohne Gewalt aus und er liebt die Menschen – bei Maccoby ist es ebenso zu lesen wie bei Benedikt XVI., und das ist eine gute Nachricht für das christlich-jüdisch geprägte Europa. Auf diesem Grund kann dieser Kontinent friedlich wachsen, und zwar auch dann, wenn der religiöse Diskurs zwischen Juden und Christen mit Engagement, Verve oder sogar rhetorischer Härte ausgetragen wird. Dies mit einem bemerkenswerten Buch klargemacht zu haben – das ist Maccobys Verdienst. Die Verlegerin hat nicht zuviel versprochen.

Aktuelle Entwicklungen bezieht Maccoby schließlich im letzten Kapitel in seine Überlegungen ein. Er nennt vor allem die heutige politische Linke als eine Kraft, der er attestiert, dass sie den Judenhass vergangener Jahrhunderte weiterträgt. Diese Zuweisung fällt, auch wenn die heutigen Christen und die Mitglieder einer entchristlichten Gesellschaft ebenfalls kritisiert werden, durch ihre Deutlichkeit auf. Eine fast schon prophetische Klarheit ist dem Autor, zu Lebzeiten einer der besten Kenner der Materie, zweifelsohne zu bescheinigen.

Von dem streitbaren Ton, den Maccoby anschlägt und dem sich der Herausgeber des Bandes, Peter Groenflos, nahtlos anschließt, könnte sich das christlich-jüdische Europa, das sich auf dem Gebiet der Religion derzeit einem großen Aggressor gegenübersieht, gewiss eine Scheibe abschneiden. Es würde zum möglichen Überleben seiner in mehr als zwei Jahrtausenden gewachsenen, römisch-jüdisch-christlichen Kultur gewiss beitragen. Ein Blick ins heutige Israel genügt, um zu illustrieren, was damit gemeint ist – klare Linie und eine Menge Streitbarkeit gehören zwingend dazu. Mit seinem Buch, das einen uralten Mythos zm Gegenstand hat, weist uns der Autor heute, ganz aktuell den Weg.

Hyam Maccoby, Judas Ischariot und der Mythos vom jüdischen Übel, Berlin / Leipzig 2020, geb., 224 S., ISBN 978-3-95565-397-2, 24,90 Euro.

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.