Nach sieben Monaten Krieg sieht es sehr danach aus, dass der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin sein im Februar formuliertes Kriegsziel, eine entscheidende Schwächung Russlands, bereits als erreicht sehen kann. Als ehemaliger General und Direktor einer der fünf größten Waffenschmieden der USA sollte er dazu ausreichende Informationen haben. Schließlich liefert sein Land der Ukraine auch zeitnah die nötigen Geheimdienst-Informationen über den Aggressor und dazu die Präzisionswaffen, denen die Russen technisch nicht gewachsen sind. Die Treffsicherheit und leichte Handhabung der Super-Panzerfaust Javelin , hat offenbar Tausende von russischen Panzern und Transportfahrzeugen ausgeschaltet. Man fragt sich, warum die russische Armee die Gefahr nicht erkannt hat, denn die Javelins, eine Co-Produktion von Lockheed-Martin und Lloyd Austins ehemaliger Firma Raytheon, sind schon seit etlichen Jahren im Einsatz, auch im Irak und in Afghanistan. Die Erfolge der Ukraine und die ersten Niederlagen für die russische Armee gehen somit weitgehend auf die Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe der USA zurück, wohl deutlich weniger auf Waffenlieferungen aus Deutschland, deren Bedeutung in der Diskussion bei uns und in den Forderungen von Selensky, Melnyk und Klitschko überbewertet erscheint, vermutlich weil sie auf beiden Seiten auch als innenpolitische Treiber dienen.
Vielleicht wussten die USA und Großbritannien durch die engere Kooperation mit der Ukraine und ihrer Armee von Anfang an mehr über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse. In Deutschland glaubten jedenfalls viele, oder sogar die meisten, eher an einen schnellen Erfolg der russischen Übermacht, was sich inzwischen nach sieben Monaten Abnutzungskrieg als Fehleinschätzung erwiesen hat. Diese unterschiedlichen Erwartungen vom Verlauf des Krieges werden noch zu hinterfragen sein, wenn es hoffentlich bald zu einem Waffenstillstand kommt. In Deutschland jedenfalls ebbt ein teilweises Verständnis für die Motive Moskaus inzwischen ab, vermeintliche Putin-Versteher und Putin-Trolle verschwinden immer mehr aus den Leserbriefspalten der Print- und Online-Medien. Der gesellschaftliche Konsens heißt vielmehr moralische Entrüstung, was ja auch im Falle einer brutalen Invasion, weitgehender Zerstörung und Zehntausenden militärischer und ziviler Opfer und Millionen von Flüchtlingen angemessen ist. Die Vorgeschichte des Konflikts und Russlands oder gar Putins Motive spielen inzwischen keine Rolle mehr, auch wenn die westliche Wertegemeinschaft mit ihren Sanktionen vielen Europäern, aber ganz besonders den Deutschen, äußerst schmerzhafte Opfer abverlangt. Wie schmerzhaft die noch werden können wird sich erst im Laufe des Winters zeigen, vor allem wenn dieser trotz Klimawandel richtig kalt werden sollte.
In den USA, die außer den Milliardenhilfen für die Ukraine keine materiellen Opfer bringen müssen, sondern mit Öl- und Gasexporten kräftig am Krieg verdienen, wird entsprechend anders debattiert als in Europa. Es gibt Kritiker des militärischen Eingreifens, die auf die vielen Jahrzehnte hinweisen, in denen das Land ständig in Kriege rund um den Globus verwickelt war und dabei wenig gewonnen hat, aber von Vietnam bis Afghanistan ziemlich demütige Niederlagen hinnehmen musste. Damit hat das Land ein Trauma entwickelt, das durch das Ukraine-Engagement wenigstens zum Teil geheilt werden könnte. Zu diesem Thema veröffentlichte die Zeitschrift „Foreign Policy“ am 29. September als „Expertenanalyse“ einen Artikel von Gideon Rose, einem „distinguished fellow“ des einflussreichen Council on Foreign Relations. Rose hat 2016 ein Buch mit dem Titel „How wars end“ über die beiden Irak-Kriege geschrieben, indem er seinem Land vorwirft, die politischen Aspekte seiner Kriege nicht genug zu berücksichtigen. Die Überschrift des Artikels enthält schon die gesamte Richtung der Argumentation, sie lautet: „In Washington gewinnen alle, wenn die Ukraine gewinnt“. Untertitel: „Wie die Unterstützung der Ukraine unsere politische Spaltung überwinden und die amerikanische Außenpolitik wieder zur alten Größe führen kann.“ Er führt dann aus, dass das 21. Jahrhundert bisher eine einzige Katastrophe für die amerikanische Außenpolitik gewesen sei, durch missglückte Militärinterventionen, gesellschaftliche Verwerfungen und den Aufstieg von Rivalen wie Russland und China, und dadurch insgesamt einen deutlichen Ansehensverlust verursacht habe. Mit dem Kampf für die Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine seien die USA nunmehr wieder auf der richtigen Seite der Geschichte und die Russen diesmal die brutalen Invasoren. Washington arbeite mit seinen smart ausgewählten Verbündeten eng zusammen und habe dieses Mal auf das richtige Pferd gesetzt. In kurzer Zeit sei somit das Schreckgespenst einer „post-amerikanischen Welt“ zu einem harmlosen Klischee geworden. Der Artikel ist mit seinen selbstkritischen Untertönen schon bemerkenswert realistisch, sagt aber kein einziges Wort über die Kollateralschäden bei den europäischen Verbündeten. Wie weit die teilweise katastrophalen Folgen der westlichen Sanktionspolitik für Europa und vor allem Deutschland in den USA Beachtung finden oder gar Besorgnis auslösen bleibt offen. Entrüstung und Bereitschaft, die schmerzhaften Folgen der Sanktionspolitik durch die Reaktion Russlands darauf zu ertragen sind in Europa unterschiedlich ausgeprägt. Im ehemals sowjetisch besetzten Osten, in Polen und den baltischen Staaten, ist die Bereitschaft offenbar groß, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen und Flüchtlinge aufzunehmen. Weiter westlich wird jetzt erst mit den Gas- und Stromrechnungen langsam deutlich, wie hoch die Opfer noch werden, in Italien verbrennen Demonstranten ihre Energierechnungen auf der Straße. In Deutschland kommen Zweifel an der Politik der Bundesregierung auf, voll auf die „Zeitenwende“ mit allen finanziellen Konsequenzen zu setzen. Besonders die Popularität der Grünen sinkt inzwischen rapide weil die Widersprüche zwischen ihrer Klimapolitik und den Realitäten der grünen Energiewende allzu offensichtlich werden.
Die Unterschiede in Sichtweise, Engagement und Folgeschäden für Wirtschaft und Wohlstand zwischen Europa und den USA werden immer deutlicher. Immerhin haben die USA nicht alle Forderungen von Präsident Selensky nach noch schwereren Waffen erfüllt, dessen Maximalziel, die Grenzen von 1991 wiederherzustellen, aber weiter unterstützt. Ob Putin und das russische Militär-Establishment sich mit einem totalen Rückzug wie dem amerikanischen in Afghanistan abfinden könnten, bleibt die große Frage. Aber die größere Bedrohung sehen die USA bekanntlich in China, dem sie sich dann noch intensiver widmen können, wenn Russland ausreichend geschwächt ist.