„Hinterlassenschaft“ heißt die neue Jahresausstellung von Kolumba in Köln
„Unter der rechten Wandleuchte steht ein Stuhl mit gerundeten Armlehnen, identisch mit dem an der Fensterseite des Esstisches stehenden Stuhl. Die Sitzpolsterung ist defekt, einige Sprungfedern unten durch, an der Sitzvorderkante hängen Fransen herab“, schreibt Kurt Benning in seiner Beschreibung sämtlicher Gegenstände einer Wohnung, deren Auflösung kurz bevorstand. Weiter unten heißt es: „In der oberen, mit grünem Filztuch ausgeschlagenen Schublade ist das Silberbesteck (800) aufbewahrt, welches Stück für Stück in den dafür vorgesehenen Halterungen liegt.“ So detailliert wie möglich hat der besonders als Fotograf bekannte Künstler auf rund 80 Seiten die Bestandaufnahme über die Hinterlassenschaft in der Wohnung seiner Großeltern abgefasst. Deutungen oder Erklärungen nimmt Benning nicht vor, die Gegenstände erschließen sich durch die minutiösen Beschreibungen von selbst und lassen beim Lesen für den Rezipienten Rückschlüsse auf die Personen und ihre Zeit, deren Maßstäbe, Werte und Lebensgewohnheiten entstehen. Weil Bennings Aufzeichnungen auch als Videoarbeit mit dem Titel „Hinterlassenschaft – Ein deutsches Erbe“ vorliegen, lassen sich die Beschreibungen des Künstlers über die aufgefundene Hinterlassenschaft auch hören und sehen – derzeit in Kolumba, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln. Mehr noch: Das Typoskript des 1945 in der Oberpfalz geborenen Benning ist so etwas wie die Keimzelle für die neue Jahresausstellung des Erzbischöflichen Kunstmuseums. „Hinterlassenschaft“ ist denn auch die neu gefasste – wie gewohnt fast ausschließlich aus dem eigenen Bestand konzipierte – Schau überschrieben, in der es darum geht, Spuren menschlicher Existenz nachzuspüren, die sich in Dokumenten und alltäglichen Gebrauchsgegenständen ebenso niederschlagen wie in künstlerischen Gegenständen.
Ein ebenso einfaches wie faszinierendes und nahe liegendes Thema. Schließlich stellt sich die Frage nach dem, was bleibt, was hinterlassen wird oder einmal hinterlassen werden soll, doch tagtäglich auf sämtlichen Ebenen des menschlichen Lebens aufs Neue. Obendrein ein zutiefst religiöses, christliches Thema: Wie gehen wir mit der Botschaft um, die uns Christus hinterlassen hat? Nicht zuletzt die christliche Kunst oder die durch die christliche Botschaft und der Hinterlassenschaft der Evangelien motivierte Kunst thematisiert doch seit 2000 Jahren das Leben, Wirken und die Bedeutung Jesu Christi. Dass diese Frage in einem Kunstmuseum katholischer Provenienz gestellt wird, ist natürlich nicht überraschend.Doch wie sie in den verschiedenen Dialogsituation, die sich durch die Gegenüberstellung, Konfrontation und die Korrespondenz der Objekte aus zwei Jahrtausenden abendländischer Kunst, gestellt wird, ist überraschend – mitunter riskant, nie aufgesetzt, stets unterhaltsam, unverkrampft und ungemein erfüllend, weil es den Betrachtern so viele Freiheiten der Begegnung und persönlichen Auseinandersetzung und Deutung lässt.
Besonders eindrucksvoll ist beispielsweise der größte Ausstellungsraum, in dem auf zahlreichen Tischen ein mehrere hundert Arbeiten umfassendes Konvolut ausgelegt ist, das Felix Droese (geb. 1950) während seiner Zivildienstzeit in einer Psychiatrie zusammengetragen hat. Für den Betrachter erschließt sich nicht, welche der zahlreichen Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitte, Bücher, Zeichnungen und Malereien von dem Künstler und welche von Kranken stammen. Am Ende des Raumes, der wie ein riesiger Werkraum kurz vor Arbeitsbeginn anmutet, fällt der Blick auf eine fast kahle Wand, an der sich rechts ein elfenbeinernes Kruzifix aus dem zwölften Jahrhundert befindet. Diese stille Präsenz des Kreuzes und die fast über der Szenerie schwebende Gestalt des Gekreuzigten mögen vielleicht an eine der wesentlichen Hinterlassenschaften des Auferstandenen mahnen: „Gehet hin in alle Welt und verkündet das Evangelium.“ Eine wunderbar dichte Szenerie wird hier entfaltet, die einige Schritte weiter in einem mehrere Meter hohen Raum durch eine in gleicher Weise karge wie gewagte Raumbestückung abgelöst wird. Da liegt das ungemein suggestiv, fastauthentisch anmutendeabgeschlagene Haupt von Johannes dem Täufer auf einer hochwertig gestalteten sogenannten Johannesschüssel aus dem 16. Jahrhundert, während im Hintergrund der Maler Jürgen Paatz durch spontane Setzungen und Gesten zarte Spuren in seiner Dispersion auf doublierter Leinwand hinterlassen hat.
In den „Asphaltfotografien“ des Malers und Priesters Herbert Falken hingegen geht es um die Entdeckung ästhetischer, bei längerer Betrachtung gar an religiöse Symbole erinnernde Spuren. Und die völlig unverdeckte Präsentation liturgischer Gewänder des ehemaligen Kölner Erzbischofs Joseph Kardinal Frings gewährt einen unverstellten Blick auf die Schönheit der Gewänder – und damit die Würde des Amtes und seiner Aufgaben. Eine Erinnerung an die verlorene Pracht der Paramente? Möglicherweise finden manche Betrachter eher eine Antwort durch die benachbarte Aneinanderreihung von Modezeichnungen, die der US-Amerikaner Paul Thek in den 1950er-Jahren gefertigt hat.
Fast zyklisch schließt die Ausstellung an ihren Vorgänger unter dem Titel „Der Mensch verlässt die Erde“ an. Dabei ist Kolumba selbst eine einzige Hinterlassenschaft. In dem Dreiklang aus Ort, Sammlung und Architektur verdichten sich Zeugnisse aus 2000 Jahren Kölner Stadtgeschichte mit einer reichhaltigen Sammlung von Objekten aus der Spätantike bis in die Gegenwart in einem architektonisch herausragenden Bau, der schon jetzt als eine prominente Hinterlassenschaft seines Urhebers, des Schweizer Architekten Peter Zumthor, gilt. „Hinterlassenschaften begegnen uns jeden Tag, und sie sind natürlich nicht von Kolumba loszulösen“, sagt Museumsdirektor Stefan Kraus lapidar nach zweiwöchiger Auszeit. Es gehört schließlich zum Charakteristikum des „Museums auf Zeit“, dass Kraus und sein Team – Marc Steinmann, Katharina Winnekes und Ulrike Surmann – das Haus zwei Wochen vor dem jeweiligen Jahrestag seiner Eröffnung schließen, um es neu einzurichten. Allein dieser Arbeit des Denkens, Aufbauens und Einrichten einer neuen Schau mit den unterschiedlichen Hinterlassenschaften aus den reich gefüllten Depots des renommierten Hauses kommt gerade bei diesem Ausstellungsthema eine bemerkenswerte künstlerische Qualität zu. Sind es doch vielleicht die Künstler, die am bewusstesten etwas gestalten in der Hoffnung etwas zu hinterlassen.
Die Besucher durchwandern eine Ausstellung, die wieder einmal viele Fragen aufwirft und keine Antworten vorgibt. Wohltuend und dramaturgisch geschickt ist der Wechsel von fast überladen wirkenden Räumlichkeiten und Räumen, in denen die Präsentation fast minimalistisch verknappt ist. Kenner des Hauses entdecken die wenigen bekannten Objekte wie etwa Stefan Lochners „Madonna mit den Veilchen“ oder die „Tragedia zivile“ von Jannis Kounellis als die Werke, die ihren angestammten Platz gefunden haben. Was dieses Museum mit seiner neuen Präsentation bei seinen Besuchern hinterlassen will, sind – wie schon bei den ersten beiden Ausstellungen – erinnerungsfähige Räume in den Köpfen und Sinnen der Besucher. Damit wird neben der Frage nach dem Umgang mit Hinterlassenschaften noch ein zweites großes Thema gestellt: der Wert der Erinnerung und die Verantwortung im Umgang mit historischer Überlieferung und Erbe.
bis 30. August 2010; täglich außer di von 12 bis 17 Uhr; www.kolumba.de
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